Peng! Peng! Peng!

von Stefan Bläske

Wien, 23. Januar 2010. Eben noch war der Pate in Wien, in wenigen Tagen schon kommt Rambo. Da wird es Zeit, dass auch der Lokalmatador, der dritte Mann, in die Arena steigt. Nach dem Gastspiel von Far A Day Cage mit "Der Pate I-III" im wuk, und vor dem "Rambo-Solo" des Nature Theater of Oklahoma im brut, ist nun Harry Lime im Schauspielhaus auferstanden. Falls er jemals tot war.

Der Ort könnte passender kaum sein, war das Schauspielhaus doch einst ein Kino. Jenes "Heimat-Kino", in dem eine kurze Szene von "Der dritte Mann" spielt. Wie so oft in alten Krimis diente der Kinosaal hier schlicht als Versteck und Zufluchtsort. Carol Reeds Filmklassiker steckt voller Referenzen: ans Theater, Kino und die Literatur, an Wien sowieso.

Licht als terroristisches Mittel

Jörg Albrecht greift diese Referenzen in seinem neuen Stück nicht nur auf, sondern vervielfacht sie. Nimmt den Zither-Film als Ausgangspunkt für ein Zitier-Theater. Es geht um ausgewählte Film-Szenen, um Produktion und Rezeption des Films, um Wien als Museum und ums (Um)Schreiben von Geschichte(n). Jörg Albrecht ist bemüht, all dies politisch und moralisch aufzuladen. Er stellt seinem Text ein Butler-Zitat voran und nennt es ein Verbrechen, dass dieser Film über einen Verbrecher, dass dieser Filmdreh "kurz nach dem Krieg so verschwenderisch mit Strom und Licht umgeht". Dieses Lime-Light nun sollen in seinem Stück drei junge Menschen dorthin lenken, wo niemand hinsehen will. "Licht als terroristisches Mittel, um eine Stadt zurückzuerobern, die Filmkulisse geworden ist."

Die drei Film-Freunde, echte Nerds, spielen nicht nur "Third Man Memory", sondern werden re/pro-aktiv: Als "Cinebomber" geht es ihnen um den Film und "die Vergangenheit Österreichs". Denn Vorsicht, Vergangenheit wird instrumentalisiert. Und Vergangenheit, so Albrecht, wird weniger bewältigt als vielmehr überwältigt. Bewältigt werden aber muss hier jetzt vor allem Albrechts Stück, diese zum Trialog zusammengesetzte Sammlung von Diskurs- und Filmfetzen.

Gesellschaftliche Erinnerungsstrategien

Regisseur Jan-Christoph Gockel (Jahrgang 1982) greift dafür alle Angebote Albrechts (1981 geboren) auf, nutzt die zitierten Medien und geht noch weiter, inszeniert seinen Kino-Theaterabend als wechselvolles Nach-Spiel verschiedener Medien und Kunstformen, gesellschaftlicher Erinnerungs- und Inszenierungsstrategien. Theaterbühne, Kinoleinwand und Museumsvitrine, Videokamera, Schattenspiel und Puppentheater werden benutzt bzw. thematisiert.

Mit Wiener Dialekt führt Matthias Schweiger durch den Abend, im bordeauxroten Jackett und mit zu kurzer Krawatte ist er erst stolzer Heimatkino-Filmvorführer. Dann Kinoerzähler, der den Filmplot wiedergibt wie ein Klischee-Touristenführer, inklusive dem Zeigen obligatorisch schlechter Kopien in Klarsichtfolien. Schließlich erscheint er noch als Filmkomponist Anton Karas – und wird von den anderen erschossen, weil diese seine schwungvoll-zitternde Zupfmusik nicht mehr ertragen.

Noch öfter wandeln die drei Schauspieler (Vincent Glander, Nicola Kirsch, Thiemo Strutzenberger) ihre Rollen, Funktionen und Spielhaltungen. In einer Art Prolog sind sie (historische) Kinobesucher, die sich den "Dritten Mann" ansehen und immer was zu nörgeln haben. Weil man nicht Herr im eigenen Land und Film ist (anno 1950, als Österreich unter alliierter Besatzung stand), weil alles "zu unpolitisch" (1970) oder weil schlicht die Bildqualität zu schlecht ist (1990). So ändern sich Interessen.

Netter Bastard, braver Bastard

Heute, 2010, verwandeln sich die drei mit Strick- und Karo-Pullis in Bewohner einer Nerd-WG, in die "Jünger Harry Limes". Sie brechen ins Dritte Mann-Museum ein und re-inszenieren mit den lebensgroßen Figuren die Produktionsdiskussionen von 1949. Später greifen sie zur Kamera und drehen einen Film, natürlich schwarz-weiß, wobei besonders Thiemo Strutzenbergers "Re-Play" von Paul Hörbiger besticht. Die drei krabbeln mit Taschenlampen unter der Bühne herum, als sei's die Wiener Kanalisation, blicken von oben auf uns herab wie Harry Lime vom Riesenrad. Und spielen das Ende nochmal neu, den Showdown zwischen Holly und Harry. Drei Variationen, Konstellationen, Improvisationen, aber letztlich enden alle gleich: Lime muss sterben. Peng. Peng. Peng.

"Harry Lime lebt!" wirkt wie der Versuch, den Filmklassiker mit Trash-Kino-Ästhetik zu beackern – aber es entsteht daraus kein Trash-Theater. Eher ein unentschlossener A- und B-Movie-Mischling, ein netter, braver Bastard. Der Großmeister der Bastarde aber steht Pate. Quentin Tarantinos furiose Kinomassakerszene aus "Inglourious Basterds" scheint auf, wenn ganz am Ende Nebel aus einem Gulli quillt und Vor- und Rückprojektionen den Schatten einer Frauengestalt in den Theater-/Kinosaal werfen. Es ist die Schlussszene des Films: Annas langer Gang, die Friedhofsallee entlang, an der Kamera vorbei, hinein (wie Albrecht schreibt) "in die Verantwortung, in den Raum, den wir produzieren, ohne Script".

So endet die Inszenierung mit dem Aufruf, die vorproduzierten Geschichten zu verlassen. Ab ins Leben, in die Verantwortung. Wenn es uns da zu gefährlich oder zu anstrengend wird, wissen wir ja, wohin wir wieder flüchten können. Ins Heimatkino. Ins Schauspielhaus.

 

Harry Lime lebt! Und das in diesem Licht! (UA)
von Jörg Albrecht
Regie: Jan-Christoph Gockel, Ausstattung: Julia Kurzweg, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Vincent Glander, Nicola Kirsch, Thiemo Strutzenberger, Matthias Schweiger.

www.schauspielhaus.at

 

Mehr lesen zu Jörg Albrecht? Im März 2009 inszenierte Roger Vontobel an den Münchner Kammerspielen die Uraufführung von Albrechts Lass mich dein Leben leben! Dirty Control 2. Für das nachtkritik-Portal zu den Mülheimer Theatertagen 2008 schrieb Albrecht außerdem Grundlegendes über das Theater als Bastard Pop. 2009 beteiligte er sich am nachtkritik-Kooperationsprojekt mit den Studiengängen Szenisches Schreiben von UNIT Graz und der Berliner UdK nachtkritik.szenen.de, wo unter anderem Albrechts web-spoap Andy-Girls zu sehen war.


Kritikenrundschau

Albrecht formuliere für sein "copy & waste"-Theater die Frage: "Sagen die Fiktionen über einen Ort mehr als die Fakten, oder sind das Faktische der Fiktionen und das Fiktive der Fakten sowieso nicht zu unterscheiden?" Magst rätseln, lieber Zuschauer, so Hans Haider in der Wiener Zeitung (25.1.), was du als Antwort mit nach Hause trägst. "Es ist was los auf der Bühne, und ein Moralinzipfelchen immer fassbar, über das du grübeln kannst. Kurzsequenzen vom Zelluloid tragen dich über den ödesten, doch auf Filmtheorien sich stützenden Leerlauf hinweg." Nicola Kirsch, Vincent Glander und Thiemo Strutzenberg schieben mal dokumentarisches, mal phantasiertes Textmaterial hin und her sowie Stoffpuppen des Filmpersonals aus einem fiktiven "Dritter-Mann"-Museum, aber "ihr stetig aufgeregtes Sprechen macht es noch schwerer mitzukriegen, in welcher der gut zwei Dutzend Rollen sie stecken." Fazit: "Andreas Beck, schon als Burgtheaterdramaturg verdienstvoller Leiter einer Stückewerkstatt, hätte diesmal bis zuletzt bei den Proben sitzen und prüfen sollen, was beim Publikum verständlich ankommt."

"Albrecht hat eine Zeitlang in Wien studiert und mit der Stadt wohl seine Erfahrungen gemacht", mutmaßt Helmut Schödel von der Süddeutschen Zeitung (28.1.) angesichts von Albrechts neuem Stück. Gockel mische Szenen aus dem Kinofilm mit Videosequenzen aus der Unterwelt des Schauspielhauses. Die Schauspieler spielten dabei "Third Man Memory" und schlüpften in unzählige Rollen, "was ungefähr so verwirrend ist wie das Labyrinth aus dunklen Gängen unter der Stadt. Aber sie spielen mit einer solchen Verve, dass man ihnen auch gern ins Ungewisse folgt". Albrecht entdecke "hinter terroristischen Aktionen in Österreich 'die Jünger von Harry Lime', und dessen fetter Schatten fällt selbst noch auf die Manöver der Globalisierung". "Autor und Regisseur hauen ziemlich auf die Pauke, nehmen sich Wien ganz nassforsch und mit einigem Elan zur Brust (...). So gelingt es den beiden und ihren Spielern, ein Stück Wien vorzuführen, eine Hauptstadt unter Einfluss."

 

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