Ich kaufe, also bin ich?

von Harald Raab

Mannheim, 24. Januar 2010. NORMA wie Aldi, nicht wie die gleichnamige Oper von Bellini: Hier spielt das richtige Leben im falschen, die großen Dramen der kleinen Existenzen, mitten in Mannheims Altstadtviertel, das Klein-Istanbul genannt wird. Hier ließ sich der Schweizer Reto Finger zu seinem neuen Stück "NORMA" inspirieren. Uraufführung hatte das poetische Dramolett am Sonntag im Studio Werkhaus des Nationaltheaters Mannheim.

Ich kaufe, also bin ich: Das Credo der Konsumgesellschaft hat selbst die Menschen im Prekariat noch nicht mit Haut und Haar gefressen. Das kann doch nicht alles gewesen sein. Selbst als Krebskranker, als Säufer, als Arbeitsloser, als frustrierte Hausfrau, als Ladenmädchen und auch als Filialleiter hat man noch Träume. Das Sein hat das Bewusstsein noch nicht komplett okkupieren können. Davon erzählt Reto Fingers "NORMA" und beweist einmal mehr, dass er den Kleist-Förderpreis 2005 zu Recht bekommen hat, für das Stück Kaltes Land, das ebenfalls in Mannheim uraufgeführt wurde.

Reality Show und unerträgliche Leichtigkeit

Reto Finger, einstiger Mannheimer Hausautor, und Cilli Drexel, neue Mannheimer Hausregisseurin, suggerieren nicht, dass da Reales auf die Bühne gebracht wird. Ganz im Sinn Anton Tschechows, dessen 150. Geburtstag in dieser Woche zu gedenken ist, geht es den beiden um die "dargestellte Wahrheit". Sie lässt keinerlei Manipulation des Materials für irgendeine Lehre, eine Ideologie zu. Zum Ausdruck kommt eine ganz spezifische Theaterwahrheit, poetisch verdichtet, mit leiser Ironie geschmeidig gemacht.

Zwischen Reality-Show als Satire und purer Fiktion, zwischen Aktion und Reflektion wird der Gang des Stücks in der Schwebe gehalten. Traum und Wirklichkeit fließen ineinander. Ist das wirklich passiert, was da geschehen sein soll? Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, die so schwer zu realisieren ist, wird wirkungsvoll auf die Bühne gebracht (karges Bühnenbild: Kathrin Younes, schrille Kostüme: Janine Werthmann).

Irgendetwas geht schief

Dabei ist die Story simpel, fast zu banal für einen wie Reto Finger: Die Jung-Verkäuferin Norma malocht in der NORMA-Filiale, wird vom Chef begehrt, träumt aber vom Glück irgendwo im Süden. Sie bringt ihren arbeitslosen Freund Wenzel dazu, kurz vor Geschäftsschluss maskiert und mit Pistole aufzutauchen, um dem Filialleiter die Tageseinnahmen abzunehmen. Irgendetwas geht schief. Er erschießt Norma. Der Vater Wenzels sieht von gegenüber dem Menschenauflauf vor dem Supermarkt zu. Der Alkoholiker Paul hängt in der Sache drin. Er hat die Pistole besorgt.

Wie das aber erzählt wird, unter Aufhebung von Zeit und fiktivem Raum und aus den unterschiedlichen Perspektiven der sechs Akteure: das macht den Wert dieses Stücke und dieser Uraufführung aus. Immer besorgt um leisen, aber deutlichen ironischen Abstand, entwickeln sich diese Alltagsfiguren zu komplexen Charakteren. Sie berichten von ihren Ängsten und Sehnsüchten, von den psychischen Verletzungen, die ihnen ihre individuellen und kollektiven Lebensumstände zugefügt haben.

Da ist Norma (Isabelle Barth), das langbeinige Sexy-Girl. Es weiß aus Illustrierten und TV-Shows, dass so ein Körper wie der seine Besseres verdient hat, als in der NORMA die Regale zu füllen, an der Kasse zu sitzen und die Anmache des Chefs zu ertragen. Wenzel (Matthias Tömmes), der arbeitslose Freund, ist ein Mannheimer Junge, flotte Sprüche, aber wenig Tatkraft. Um sich einmal als richtiger Mann zu beweisen, führt er den von Norma geplanten Überfall aus, wie er so etwas aus dem Fernsehen ja bestens kennt. Als der Schuss fällt, seine Traumfrau blutend zusammenbricht, kann er es nicht fassen, dass alles nicht nur ein Spiel war und Norma nicht gleich wieder aufsteht, um mit ihm ein neues Leben zu beginnen.

Ein Bote vom Ende alles Irdischen

Hans (Jacques Malan), der Vater Wenzels, schlurft in langen Unterhosen durch die Szene. Er muss damit fertig werden, dass ihn eine Routinevorsorgeuntersuchung zum Todeskandidaten gestempelt hat, einfach so, von einem Moment zum anderen. Die letzte Freude des Krebspatienten: Er beobachtet mit einem Fernglas, vom Fenster seiner Wohnung aus, die Leute auf der Straße, nimmt so am Leben teil, das ihm entgleitet. An seiner Seite Elvira (Anke Schubert), naive Ehefrau und Mutter. Eine die viel erduldet, doch schließlich in der Klapsmühle landet.

Der Filialleiter Jens (Tim Egloff), ein pedantischer Erfüllungsgehilfe des Systems, glaubt, dass er mit seiner Karriere auch Anspruch haben darf, auf eine wie Norma. Wähnt er sich doch als König in seinem Reich. Paul (Klaus Rodewald), der Säufer, irrlichtert melancholisch durch das Geschehen, mit schwarzen Flügeln ein Bote vom Ende alles Irdischen. Alle sind sie tragische und komische Figuren zugleich. Niemand aber wird der Lächerlichkeit preisgegeben. Schauspielerisch ist für jeden und jede der Mitwirkenden viel drin. Zu beweisen ist, dass der Mensch ein Grundrecht auf Würde hat, die unantastbar ist.

Vor wenigen Tagen hat das Nationaltheater Mannheim den Preis der Theaterverlage für "engagierte, innovative und zugleich nachhaltige Schauspielarbeit" in der Spielzeit 2009/10 bekommen. Reto Fingers "NORMA" hat großen Anteil daran. Am Ziel wird man aber erst sein, wenn so ein Stück selbstverständlich auf der Bühne im großen Schauspielhaus aufgeführt wird. Bei der bewiesenen Qualität würde nicht einmal Mut dazu gehören.

NORMA (UA)
von Reto Finger
Regie: Cilli Drexel, Bühne: Kathrin Younes, Kostüme: Janine Werthmann, Dramaturgie: Stefanie Gottfried.
Mit: Tim Egloff, Isabelle Barth, Anke Schubert, Jacques Malan, Klaus Rodewald, Matthias Thömmes.

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Mehr lesen über Reto Finger? Gerade hat Anselm Weber in Essen seine Bearbeitung des Anna-Seghers-Romans Transit inszeniert (Januar 2010), in Zürich brachte Sandra Strunz Fingers Vorstellungen und Instinkte zur Uraufführung (April 2009). Und Erik Altorfer besorgte die Schweizer Erstaufführung von Kaltes Land in Bern (Mai 2008).


Kritikenrundschau

Reto Fingers "Norma" sei "ein ziemlicher Schmarren", findet Alfred Huber vom Mannheimer Morgen (26.1.). Zum Glück habe der Autor in Cilli Drexel allerdings "eine Regisseurin gefunden, die das dürftige Handlungsgerüst mit Tanz, Gesang und Videokamera unterhaltsam erweitert. Nicht gerade paradiesisch leicht, (...) aber doch im Sog einer durchaus liebenswerten Ironie". Es gebe da "kleine vibrierende Lebendstellen" in Drexels Inszenierung, mit der sie "couragiert beweist, dass sie es versteht, auf Figuren zuzugreifen, auch wenn ihr Erfinder Reto Finger sie sträflich vernachlässig hat, weil ihm das Ungefähre einer surrealen Beschwörung zwischen Café Journal, Marktplatz, Neckar und Hauptfriedhof wichtiger ist als die Innenwelt seiner Personen".

 

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