Abschwellende Aufregung

von Ralph Gambihler

Leipzig, 25. Januar 2010. Falls man ein Experiment im Stadttheater daran erkennt, dass es hitzig und mit einiger Verbohrtheit debattiert wird, ist das Experiment Hartmann bereits zu Ende und es dräut die Ankunft im Establishment. Was, wenn es stimmt, durchaus erstaunlich wäre.

 

Immerhin hat Sebastian Hartmann bei seinem Amtsantritt vor anderthalb Jahren das Leipziger Haus thematisch, programmatisch und personell auf den Kopf gestellt. Fast nichts sollte sein, wie es vorher war, unter dem altgedienten Vorgänger Wolfgang Engel. Statt bildungsbürgerlicher Beseelung gab es nun Ansätze und Ästhetiken, die man eher aus der freien Szene kannte, subsumiert unter dem Begriff "Independent". Sogar im Namen wurde der Bruch radikal vollzogen. Aus dem Schauspiel Leipzig wurde das Centraltheater Leipzig, ein Art Anti-Stadttheater, das den Anhängern des Repräsentationstheaters alter Schule wie eine Hausbesetzung vorkommen musste. Der Revoluzzer, der Abonnentenschreck, der Castorf-Jünger. So hieß es. Und nun? Lob und zahme Kritik?

 

Entkrampfung statt dicker Luft

Oder ist doch alles ganz anders? Ist das Leipziger Publikum mittlerweile so gespalten, dass es nicht mehr zur abendlichen Debatte zusammenfindet? Ausgeschlossen ist auch das nicht. Einstweilen gilt es festzuhalten, dass die dritte Zuschauerkonferenz am Centraltheater Leipzig viel weniger hitzig und kontrovers verlief als insbesondere die erste Veranstaltung dieser Art im Dezember 2008 (wir berichteten). Damals, nach 100 Tagen Spielbetrieb, waren im Saal die Fronten der Ablehnung und Zustimmung mit Händen zu greifen, und der Neuintendant hatte bisweilen einige Mühe, die dicke Luft in Diskussionsklima zu verwandeln.

Ein wenig hatte man diesmal aber auch vorgesorgt. Die Zusammensetzung des Podiums war von vornherein auf inhaltliche Entzerrung und Entkrampfung angelegt. So saßen neben Hartmann und seinem Chefdramaturgen Uwe Bautz die Intendanten Armin Petras (Maxim Gorki Theater Berlin) und Christian von Treskow (Wuppertaler Bühnen) mit ihren teils abweichenden Ansichten, Haltungen, Begriffen und Problemen, Letzterer bekanntlich als Leiter eines Ensembles, das aufgrund der katastrophalen Haushaltslage in Wuppertal existenziell bedroht ist. Treskow schilderte die Situation sachlich und knapp. Falls die aktuell geforderte Kürzung (zwei Millionen Euro) im Juni akut werde, bedeute dies, "dass eine Sparte weg muss". So der Mann, der in der kommenden Woche, vom 29. auf den 30. Januar, mit einem 24stündigen Aktionstag gegen den drohenden Kahlschlag mobil macht.

Respektvoll über dies und das

Generell hatte die Diskussion, vielleicht auch dies bezeichnend, kein kardinales Thema. Vielmehr wurde über dies und das gesprochen, nicht unbedingt tiefgründig, dafür respektvoll. Etwa über die Zuschauerzahlen – Hartmann: "Wir sind kontinuierlich auf dem Weg nach oben." Oder über die Frage, warum im Schillerjahr kein Schillerstück gespielt wird – weil man am Centraltheater kalendarisch motiviertes Gedenktagstheater anstrengend und zwanghaft findet. Oder über die Improvisationen der Darsteller, denen Hartmann einmal mehr eine Entwicklung zum Performer zubilligte, weil er "die Freiheit des Schauspielers auf der Bühne" untersuchen will – Der bis dato vielleicht größte Erfolg seiner Intendanz, seine Bearbeitung von Eugene O'Neills Familientragödie Eines langen Tages Reise in die Nacht, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Oder über die freimütig eingeräumten Unsicherheiten des Regisseurs Hartmann beim Inszenieren – "Ich komme mir manchmal vor wie Otto Lilienthal, wenn ich so ein Ding loslasse und hoffe, dass es fliegt."

Im Gedächtnis behalten wird man auch den Auftritt von Armin Petras. Der Umtriebige trug, es war wirklich ein ungewohnter Anblick, einen sehr förmlichen, grauen Anzug samt roter Krawatte und bezog mit ostentativem Schalk manche Gegenposition zu Hartmann. Er mache "Theater für ältere Bürger", betonte er beispielsweise. Auch bekämen bei ihm Schauspieler, die sich nicht an den Text hielten, Ärger. Aha, man lernt nie aus.

Fanclub vs. Fäkalwort-Phobisten

Falls der Abend einen Erkenntnisgewinn gebracht hat, dann vielleicht diesen. Erstens: Die vorgetragene Kritik von älteren Zuschauern, die sich althergebrachtes Einfühlungstheater und den schönen Klassiker zurückwünschen, ist nicht verstummt, aber moderat geworden. Abschwellende Aufregung sozusagen. Sie ist aber, das ist die Kehrseite, auch schwer formulierbar, wenn der zahlreich vertretene Hartmann-Fanclub wie auf Knopfdruck hämisch lacht, sobald derartiges anklingt. Was aber auch, es ist eben nicht so einfach, durch ungelenke, schrecklich biedere und sogar völlig verunglückte Argumentationen provoziert wurde. So beanstandete eine Dame, die dem Theater einen klassischen Bildungsauftrag zuschreibt, die vielen Fäkalwörter in den Aufführungen und begründete ihre Rüge mit dem Satz: "Das wollen wir doch ausmerzen!" Hilfe!

Zweitens: Generationenspezifische Haltungen nach dem Muster, die Jungen finden das Hartmann-Theater gut, die Älteren schlecht, sind womöglich nur grobe Annäherungen, wenn überhaupt. An diesem Abend zumindest kam bemerkenswert viel Zuspruch gerade auch von Leuten jenseits der sechzig. Da war von spannendem Theater die Rede, von notwendiger Erneuerung, von Wahrhaftigkeit und Mut zum Unbequemen. Beifall von der falschen Seite kann es eigentlich nicht gewesen sein.

www.centraltheater-leipzig.de

 

Hier lesen Sie Johanna Lemkes Kommentar zu Sebastian Hartmanns erster Zuschauerkonferenz im Leipziger Centraltheater, auf der noch wesentlich lauter gemurrt wurde. In Wien hat sich hingegen vor Kurzem Stefan Bläske angehört, was der dortige Neu-Intendant Matthias Hartmann im Publikumsgespräch zu sagen hatte – und wurde von Peymann'schem Geiste angeweht.

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