Realität, mach langsam!

von Marcus Hladek

Frankfurt am Main, 30. Januar 2010. Manchmal rüstet sich die Wirklichkeit zum Metapherngeber für die Kunst, als stamme ihr Drehbuch von einem Kenner C.G. Jungs und seiner "Synchronizität". Wenn 15 Minuten vor Beginn der Uraufführung einer Camus-Bearbeitung, an einem Tag winterlicher Duodez-Apokalypse, des Fußballs und rumorender Studentenproteste, nicht weniger als 24 baugleiche Polizeiwagen am Spielort Bockenheimer Depot ums Eck fahren und mit dem Martinshorn im Chor den dort angeleinten Hund animieren, die Stimme der Natur in ihr falsches Wolfsgeheul zu mengen, sagt sich der Betrachter unvermeidlich: Realität, mach langsam.

Solch ein unbestelltes Notstands-Bild kracht hart in den Camus-Kitsch, in die Seuchenallegorie seines im Nachkriegs-, Nachbesetzungs- und Nachrésistance-Jahr 1947 publizierten Romans "Die Pest". Was Martin Kloepfer im neuinstallierten Seitenschiff des alten Straßenbahndepots aufbot, kam danach notgedrungen fast monochrom daher. Was nicht negativ gemeint ist, sondern die Spannungen der Helligkeitswerte im weißen Bühnenbild mit den grauschwarzen Kostümen Esther Hottenrotts und die unaufdringliche Bühnenfassung des Regisseurs und seiner Dramaturgin Nora Khuon, aber auch die nach dem ersten Reese-Rausch und ein, zwei Flops erreichte Normalität mitbedeuten will.

Märtyrer und Egoisten

In Oran, einer Stadt am Mittelmeer, bricht die Pest aus: Ratten überall, erste Symptome der namenlosen Seuche als einem Skandalon in aufgeklärt sich wähnender Zeit, überquellende Friedhöfe, erratisches Verhalten zwischen existentiellem Selbstopfer, aber auch endzeitlicher Lebensgier, Pestgewinnler-Größe wie frisch vom Schwarzmarkt und einem "Untergrund", der dem Stadttor eine kafkaeske Torwächter-Seite abgewinnt, da der Journalist Rambert unbedingt rauswill und sich im Hemd unter Anzugträgern vereinzelt, als bekehrter Egoist dann aber doch aufs heimliche Passieren verzichtet (von rasender Ungeduld zu aktivem Defätismus: Viktor Tremmel).

Nach einem exponierenden Vorspiel vor dem grobleinenen Vorhang mit der apokalyptisch-postkolonialen Projektion "Gott ist groß / Kommt zu ihm" darauf – einem Vorspiel, das mit der Stimme des Arztes und seiner Concierge ("Eine Ratte liegt im Treppenhaus" – "Unmöglich!") den Fall konstituiert und unter epidemiologischen Fallzahlen die Hauptpersonen einführt – fällt das Tuch. Was sich dem Blick öffnet, ist die Arztpraxis des Doktor Rieux, den Martin Rentzsch, bebrillt und geschoren, mit nüchtern-humanem Triage-Charme in blauen Turnschuhen zum Anzug spielt: kahle Wände mit einem Hauch expressionistisch gestauchter Perspektive, ein kleiner schwerer Tisch, im Raum verteilte Stühle, eine Waschmaschine, ein Riss in der linken Wand für viele der Auftritte.

Humanisten glauben nicht an Plagen

Der dünne Vorhang vor dem panoramafensterartigen Loch in Hottenrotts Hinterwand öffnet sich hier und da auf ein paar Spieler vor sattem Schwarz oder ein Spitalbett in von der Quarantäne diktierter Umschirmung. Noch häufiger dient die Fensterkante als Hühnerstange für fünf Hähne im philosophischen Disput, denen Gabriele Köstler als einzige Henne im Stall und Frau für alle weiblichen Rollenfälle zur Seite steht, zumal für die schon gerettete, dann jenseits der Stadt absurd an anderer Krankheit sterbende Madame Rieux.

Von gelegentlichen Mehrfachrollen abgesehen, schreiben Bühnenfassung und Regie den Darstellern klar bestimmte Kernfiguren im Roman zu. Lässt sich Rentzschs Doktor nicht just über medizinische Details wie den Einschnitt in Pestbeulen aus, so führt er den Diskurs ärztlich-souverän, recht oft auch frontal zum Publikum, zum Skandalon der von keiner Vernunft besiegten Krankheit und ihres Gleichniswertes hin – "Unsere Mitbürger sind Humanisten, die glauben nicht an Plagen". Dass die Krise im Organismus der Gesellschaft eine Sprachkrise beschwört, deutet sich darin an, wie er den Terminus "Pest" mit seinen Euphemismen fast körperlich aufschiebt.

Machen wir mal Stadttheater!

Michael Abendroth, dem die Strickjacken-Behaglichkeit vielleicht noch von seiner exquisit grausamen Oma im Frankfurter "Wiener Wald" nachhängt, darf sich ungleich gelöster in der existentiellen Groteske des Beamten-"Schriftstellers" Grand wiederfinden, der die Perfektion seines einzigen Romansatzes immer nur inwendig steigert und nie weiterschreibt, ähnlich der Küstenbeschreibung eines fraktalen Mathematikers. Schön, wie Michael Goldberg den theologisch eifernden Jesuitenpater Paneloux ("Gott ist nicht lau!") mit Rieux' Sanitäter-Freund und "Heiligen ohne Gott" Tarrou verschmilzt und dessen Glück vor dem absurd späten Pesttod ausspielt; ebenso, wie Michael Benthin dem Pest-begünstigten Verbrecher Cottard als einzigem Krawattenträger schäbige Züge gibt, ohne ihn uninteressant zu machen.

All das hat, bei geringem Musikeinsatz, die Ruhe weg, als solle die Begeisterung der Frankfurter vom neuen Spielzeug gedämpft und bewusst "Stadttheater" gemacht werden. Eine, an diesem Ziel gemessen, durchaus ansehnliche, leicht literarisch bleibende Inszenierung in kurzweiligen 80 Minuten.

 

Die Pest
von Albert Camus
in einer Fassung von Martin Kloepfer und Nora Khuon
Regie: Martin Kloepfer, Bühne und Kostüme: Esther Hottenrott, Musik: Kornelius Heidebrecht, Dramaturgie: Nora Khuon.
Mit: Martin Rentzsch, Michael Goldberg, Viktor Tremmel, Michael Abendroth, Michael Benthin, Gabriele Köstler.

www.schauspielfrankfurt.de

 

Der Literaturnobelpreisträger des Jahrers 1957 Albert Camus hat in den letzten Jahren ein Comeback erlebt. Nicht zuletzt auf deutschsprachigen Bühnen, wo es unter anderem Inszenierungen seiner Stoffe und Stücke von Werner Düggelin (Die Gerechten), Sebastian Baumgarten (Der Fremde) und Jette Steckel (Caligula) gab. In Gero Troikes Spielzeiteröffnung an der Berliner Volksbühne (Gute Nacht, du falsche Welt), ging es 2009 unter anderem auch um den Autounfall, der Camus und seinem Verleger Michel Gallimard 1960 das Leben kostete.

 

Kritikenrundschau

Was man im Bockenheimer Depot in Frankfurt bei Martin Kloepfers Inszenierung von Albert Camus' "Die Pest" zu sehen bekomme, sei das, "was man vielleicht am besten 'Kammerspiel, voll sensibel' nennt", meint Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (1.2.). Die Darsteller agierten, "als habe ihnen der Regisseur (...) dauernd gesagt: Haltet euch bloß zurück, macht mir hier nichts kaputt, seid vorsichtig, wenn ihr diesen Text anfasst." Und sie "machen das durchaus bewundernswert". Doch allein darum, "dass hier versiert und ein wenig scheu ein Roman auf die Bühne gebracht wird", könne es ja nun nicht gehen. Kloepfer habe aber "keinen Schimmer, was er mit Camus erzählen möchte." Camus mache "nur Sinn, wenn man sich mit ihm die Fragen, die er stellt, wirklich stellt, und diese Fragen sind klar: Wie kann man mit Anstand leben? Und wie kann man das aushalten? Wenn man ihn aber so vorsichtig, scheu und supersensibel auf die Bühne stellt, wird er läppisch."

Gerhard Stadelmaier legt in der Frankfurter Allgemeinen (1.2.) ausführlich Camus aus und kommt zu dem Schluss: "Camus sammelt Stimmen. Gegen die Pest, die eine alles diktierende Seuche so gut wie ein diktatorisches politisches System (Faschismus, Kommunismus et cetera) sein kann. Es geht nicht darum, was die Pest ist, sondern welche Stimme man hat vor ihrem Angesicht. Der Generalbass, über dem die kontrapunktischen Fügungen dieser Stimmen sich ordnen, heißt: Rieux. Kämpfen. Nicht aufgeben. Nicht der Menschheit oder Gott alles überlassen, sondern: dem Menschen." Es sei deshalb "mehr als mutig, ja fast schon avantgardistisch antimodisch und berührend, wenn jetzt der junge Regisseur Martin Kloepfer (...) diesen Dr. Bernard Rieux in aller sisyphushafter Würde leuchten und klingen lässt. Der Schauspieler Martin Rentzsch trägt die Turnschuhe und den Anzug von heute, aber die Haltung des Doktors von gestern." Sechs Stimmen fänden sich in dieser Aufführung "zu einem Pestmusikantensextett mit aller Lust, das Leiden dieser Leute bis hin zu Tränenausbrüchen auszuspielen in einem Pathos der Menschlichkeit." Es gebe "keine Gebrochenheiten, kein Besserwissen, kein Herabschauen auf diese altmodischen Figuren. Nur eine große, ernste, humorsatte Liebe zu ihnen".

 

Kommentare  
Die Pest in Ffm: tut keinem mehr weh
Aaaach, ist doch schön, dass die beiden Frankfurter Muppet-Opas Theaterstadlheimer (Faz) und Peter Mich-meint's-nich' (Ringschau) im Bockenheimer Depot endlich ihren Altersruhesitz gefunden haben. Das Frankfurter Theater tut keinem mehr weh (es muss sich schon live besaufen, damit es noch lebendig über die Rampe kommt), warum sollten es zwei zahnlose Kritiker-Dinos tun. Fürs Theater sind sie alle drei verloren! Schade - und doch auch schön...
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