Revolution Now! - Gob Squad beschwört umstürzlerische Energie im Großen Haus der Volksbühne
Casting für den Ein-Frau-Aufstand
von Christian Rakow
Berlin, 4. Februar 2010. Man muss ein bisschen ausholen, um an den Punkt zu geraten, von dem aus dieser Abend seinen Absprung nimmt. Wie sieht es gemeinhin aus, wenn das Theater sich mit ganzer Kraft in die Waagschale wirft, wenn es mit gestählten Fäusten gegen "die Verhältnisse" trommelt? Da erheben sich Chöre, und Moll-Akkorde rütteln unsere Glieder. Und an der Rampe bäumt sich eine elende Kreatur auf "Sorgt doch, dass ihr die Welt verlassend nicht nur gut wart, sondern verlasst eine gute Welt!"
Seit Bertolt Brecht dieses Schlussszenario seiner "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" im langen Schatten der Oktoberrevolution verfasste, hat sich die Bereitschaft, "eine gute Welt zu verlassen", selbstredend stark gemindert. Die revolutionären Massen sind dem Theater abhanden gekommen (und seien sie auch nur das Schreckgespenst gewesen, das man auf dem Heimweg nach der Premiere zu fürchten hatte). Und in der Lücke, die sie hinterließen, verwandeln sich die einstigen Appelle in Pathosformeln.
Unter der Narrenkappe
"Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht" – solche Proklamationen wirken heute kaum mehr kognitiv, wohl aber besitzen sie noch einen Wallungswert. Ja, einmal richtig zulangen! Einmal dabei sein in einem historischen Augenblick, one moment in time! Im Reich der konsequenzlosen Fiktion lässt sich der Umsturz als Wonneerlebnis träumen. Was dabei genau stürzen soll, ist völlig irrelevant. Wie unter einer festgewachsenen Narrenkappe feiert sich das Theater allzu gern mit seinen linken Klassikern für eine abstrakte "Widerständigkeit", deren konkrete gesellschaftliche Angriffsfläche längst nicht mehr auszumachen ist (und nur wenige Inszenierungen reflektieren diese Situation so intelligent wie Nicolas Stemanns Heilige Johanna derzeit am Deutschen Theater).
Es ist diese Behauptung des selbstverständlichen Engagements im Theater, die das in Berlin ansässige deutsch-englische Künstlerkollektiv Gob Squad in seiner neuen Inszenierung "Revolution Now!" brillant auseinander nimmt. "Revolution now – not yet" prangt eingangs auf dem riesigen Videoscreen über der Bühne. Es ist das Statement einer pseudo-revolutionären Situation, die nach Karl Max lediglich den Modus der Farce kennt. Und wirklich: Was in anderen Theaterabenden als lasche Ironie auftaucht, wird bei Gob Squad ins Absurde überhöht: So viel Farce ist selten.
I'm beginning to see the light
Zu Bob Dylans "The Times They Are A-Changin'" erfolgt der schrille Einmarsch der als Gaukler aufkostümierten Performer Johanna Freiburg, Berit Stumpf, Sharon Smith und Simon Will, unterstützt von Musiker Christopher Uhe. "We did it, we're in!" jubeln sie und lassen sich für ihren ersten Auftritt im Großen Saal der Volksbühne beklatschen. Mit Musik von The Velvet Underground ("I'm beginning to see the light") bis Eric Carmen ("All by myself") wird der Abend auch weiterhin in Teilen ein Old School Popkonzert bleiben.
Der Saal ist abgeschlossen, informiert man uns. Wir sind also Geiseln für die Dauer der Aktion. Per Live-Schaltung nach Draußen wird die Ankunft der Volksmassen auf dem Rosa-Luxemburg-Platz erwartet, die sich mit der revolutionären Theaterzelle drinnen zum Aufstand verbrüdern sollen. Filmbilder vom Sturm des Winterpalais 1917 deuten auf der Videowand an, was man sich von einer passablen Erhebung versprechen dürfte. Doch leider herrscht auf dem Platz in etwa so viel Getümmel wie bei der Mondlandung.
Die Revolution und ihre Kamera
Wozu der heutige Aufstand angezettelt werden soll, bleibt einleuchtenderweise das gut gehütete Geheimnis der Revolutionsalchemisten von Gob Squad. Was dem politischen Theater oft lediglich unterläuft, wird hier Programm: Alles ist auf reine Emphase und Emotionalisierung abgestellt. Verbrüderungsbilder aus dem Publikum werden interaktiv angeregt und per Kamera eingefangen, denn "jeder guten Revolution geht es um Sichtbarkeit". Die Theaterguerilleros bringen sich in Che Guevara-Pose oder stellen den Sturm der Bastille von Delacroix nach ("Die Freiheit führt das Volk"). Ein Manifest formuliert dazu den ebenso schlichten wie ehrlichen Grundsatz: "Es gibt kein Manifest und keine geteilten Überzeugungen."
Man muss es nicht mögen (und tatsächlich hat der Abend hier Längen), aber es ist von einer beeindruckenden Folgerichtigkeit, wenn Berit Stumpf und Johanna Freiburg schließlich vor das Gebäude treten, um ihr aufständisches "Volk" aus vorbeieilenden Passanten zu rekrutieren. "Wollen Sie mit uns die Revolution machen?", fragt Stumpf beharrlich inhaltsleer. Und ein älterer Herr kontert sie aus: "Es gibt gar keine revolutionäre Situation. Das ist völlig konfus, was sie vertellen." Selten hat sich das Theater so schonungslos eigenen Unzulänglichkeiten gestellt.
Party bis das Licht angeht
Wann werden wir aus diesem Theatersaal entlassen (die zweite Stunde neigt sich schon dem Ende zu)? Schließlich lautet die Verabredung, dass alles erst dann vorüber ist, wenn diese Theateranordnung eine Rückkoppelung erzeugt hat, wenn sie den "Lauf der Dinge an diesem Abend verändert". Und siehe, eine – ich vermute – junge Finnin, Silja, steigt mit ein und erlöst uns also. E-Gitarren werden ans Publikum verteilt, auf dass man Silja draußen via Video mit krachendem Artrock "elektrisiere". Es glückt: Silja schmettert einen Molotowcocktail gegen das Theaterhaus. Und Simon Will raunt drinnen beseelt: "I smell a burning, and I see change coming".
Die Party nimmt noch einmal Schwung auf. Will philosophiert haarscharf am dialektischen Materialismus entlang: "The revolution is not an apple that falls, when it’s ripe. You have to make it drop". Und plötzlich hebt sich der Vorhang, und auf der riesigen Bühne steht sie fast verloren da, die gecastete Revolutionärin Silja, eine vereinsamte heilige Johanna, eine Freiheitsfigur im Eine-Frau-Volksaufstand, und schwenkt eine riesige glitzernde Fahne. Und wir, die Pseudo-Revolutionäre, applaudieren ihr beinah wie Schicksalsgenossen. Ein berückendes Schlussbild. "I'm beginning to see the light" – oder ist es nur das Saallicht?
Revolution Now!
von und mit Gob Squad
Konzept: Gob Squad, Performance und Entwicklung: Johanna Freiburg, Sean Patten, Berit Stumpf, Sharon Smith, Sarah Thom, Laura Tonke, Bastian Trost, Christopher Uhe, Simon Will; Live-Musik: Christopher Uhe, Masha Qrella; Video: Miles Chalcraft, Kathrin Krottenthaler, Sound-Design: Jeff McGrory, Kostüme: Pieter Bax, Dramaturgie: Aenne Quinones, Christina Runge, Götz Leineweber.
www.volksbuehne-berlin.de
Mehr zu Gob Squad im nachtkritik-Archiv: Saving the world, das im Sommer 2008 als Koproduktion auf Kampnagel Hamburg Premiere hatte, gewann beim Festival Impulse 2009 den Preis des Goethes-Instituts.
Kritikenrundschau
Sperrangelweite Türen hat die neueste Gob-Squad-Revolutions-Performance bei Christine Wahl auf Spiegel-Online (5.2.2010) eingerannt. Eine reichliche Stunde lang fahre Gob Squad "so ziemlich alles auf, was zu diesem Thema aus Kunst, Popkultur und halbverdauten Philosophie-Seminaren im kollektiven Bewusstsein herumgeistert." Auch wenn es an diesem Abend durchaus "witzige Momente und charmante Ideen"gebe, über die Tatsache, "dass sie lieber einen fremden als den eigenen Volvo für den revolutionären Kampf opfern würde und im übrigen keine Ahnung hat, für welche revolutionäre Idee sie dann eigentlich im Volvo streiten sollte", müsse man die Kulturschickeria und das andere linksromantische Kulturvolk nun wirklich nicht 60 Minuten lang aufklären!
Ein "Meisterstück des Doppelspiels" dagegen nennt Doris Meierhenrich den Abend in der Berliner Zeitung (6.2.2010). So sehr man diesen Abend dafür hasse, "dass er einen immer wieder mit Zuschauergymnastik, banalen Fragen und unsinnigen Geschichtsüberblendungen durch seichteste Gewässer in den Zynismus tappen lässt, liebt man ihn für die Momente der Klarheit und Selbstdistanzierung von eben diesen Mitteln. Denn langsam kippt hier jede Aktion in ihre Falschheit, entlarvt sich jedes Geschehen als Projektion. Doch dass auch Projektion Wahrheit bergen kann, zeigt die dann doch noch kommende, herrliche Schlussszene. Die aber muss jeder selbst erleben."
"Sehr unterhaltsam, sehr egal", schreibt Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (6.2.2010). Gob Squad, das deutsch-britische Performancekollektiv "mit Faible für ironisch gebrochene Heldengeschichten in Echtzeit", mache sich in der Volksbühne nun daran, die Inhaltsleere des Begriffs Revolution noch einmal "multimedial und meta-witzig" vorzuführen. Das stillstehende Geschehen im Saal werde zu diesem Zweck live auf einen kleinen Fernseher übertragen, der auf dem verschneiten Rosa-Luxemburg-Platz einsam vor sich hinflimmert. Manchmal bleiben junge Menschen mit Bierflaschen neugierig davor stehen und werden überrascht davon, dass eine Kamera wiederum ihre Gesichter filmt und auf die Videowand im Volksbühnensaal sendet, wo ihnen das Publikum zujohlt und zuwinkt." Eine Kommunikation zwischen Theater und Welt, die für Wildermann ungefähr auf dem 'Verstehen Sie Spaß?'-Prinzip basiert.
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Vielleicht kommen wir ja auch die nächsten fünfhundert Jahre ganz gut ohne Revolutionen aus. Nur wer von uns erlebt das noches? Vierzig hin oder her.
Vielleicht kommt aber auch die nächste Revolution aus der Natur. Das Drama zwischen Menschen ist irgendwie aufgeklärt und beendet. Aber es gibt da ganz entscheidende dritte Kräfte. Wer weiß ?
Sicherlich, so schnell geht die Welt nicht unter. Dies wäre auch zu bequem.
Aber hie und dort verändert sie sich einfach radikal, geradezu revolutionär, ganz ohne Protagonisten, ganz ohne Che. Und plötzlich endlässt uns die Welt als Unverbesserliche und es ist ihr sogar völlig egal. Und sie sagt nicht einmal was Dramatisches dazu. Sondern einfach nur irgendwie: Blupp ! Und wir ? Kommentieren sie, diese Welt, die nicht mehr uns gehört: Puh, ist das aber heute wieder heiß gewesen. Und was ist das für eine Riesenwelle, die da hinten kommt ?
Und dann werden wir schon von diesem unheimlichen "Blupp" verschluckt. Und andere Unbeteiligte schauen uns dabei mit tragischer Mine zu. Die Revolution beginnt als eine fröhliche Erwärmung ohne Hitzefrei. Keine Sorge, wir werden schon vorübergehen.
Und wen kümmert das schon ? Da sind die über Fünfzigjährigen im Vorteil. Ihre Lebensspanne reicht wahrscheinlich nicht mehr aus für diesen Spaziergang. Der Aufstand ist ein löchriger Sonnenschirm unter dem sich die Massen versammeln, um keine Lieder zu singen. Und das Wasser kommt von selber zu ihnen. Geradezu biblisch diese Revolution.
er kommt als versuchsanordnung daher, die beweisen soll, dass revolution niemanden mehr interessiert. da werden passanten von irgend ner verrückt angezogenen theatertussi gefragt, ob sie sich ihrer revolution anschliessen wollen. auf nachfrage wird ihnen dann gesagt, dass diese revolution keinen inhalt habe - und im theater selbst geht es auch nur um die popkulturellen überreste dessen, was im kapitalismus halt so als revolution modisch und kultig vermarktet wird - die passanten sagen dann: na, junge frau, sie müssten sich mal klarer äußern, was genau Sie ändern wollen, und gehen weiter. darauf sagt dann die theatertussi mit den verrückten klamotten in die kamera: das volk ist verwirrt, es versteht unsere bewegung nicht. aha, lustig, äh .. alle mal total dumm sein und ablachen jetzt bitte. ist doch klar, dass die passanten, die schon jeden scheiß von irgendwelchen dämlichen rtl und zdf teams per kaaera zur angeblichen unpolitischen lage der menschen beantworten müssen, keine lust haben, sich auch noch mit der kostümierten theatertussi und ihrem leeren gerede auseinanderzusetzen.
interessanter wäre es ja, mal nach marzahn mit der kamera zu gehen und die leute zu fragen, ob sie lust haben, ein paar villen in darlem abzufackeln oder einen brandsatz in der fdp parteizentrale zu legen - mal gucken, ob sich da jemand finden ließe und ob das dann der erste schritt wäre zum widerstand gegen eine ungerechte verteilung des kapitals und der chancen dies zu "erwirtschaften". da würde doch sicher der ein oder andere über 40 oder unter 40 jährige eine herzensangelegenheit drin finden. oder anders gesagt: revolutionen wurden nur durch starke inhalte und einen leidensdruck in gang gesetzt, und brauchten starke protagonisten - wenn man aber wie gob squad all das nicht hat, laufen die passanten natürlich weiter, gehen lieber ins kino oder kaufen dvd spieler im alexa.
und spaßverliebte blödhansel hats immer schon gegeben zu jeder zeit - und die meint ja nr 4 hier mit allen, die unter 40 sind - er irrt da aber - er kann nicht alle unter 40 deutschen oder europäer eingemeinden. genau darum gings ja nun gerade an dem abend, wenn es überhaupt um irgendwas ging
was ist an Karls These so falsch? Kuschelrockrevolutionen gibt es nicht. Wenn es Gob Squad wirklich Ernst ist mit der Revolution, sind Sie tatsächlich am falschen Platz gewesen, auch wenn es der Rosa-Luxemburg-Platz war. Volker Lösch hat ja auch Volkes Mund auf die Bühne gebracht, der zum Mord an Persönlichkeiten aufruft. Diesen Unmut zu kanalisieren ist die Kunst, nicht herum zu blödeln. Alleine Leidensdruck reicht in Deutschland nicht mehr aus eine revolutionäre Situation herbeizuführen. Aber worum geht es denn nun Gob Squad wirklich? Das bleibt das große Rätsel.
Der Ausdruck Leidensdruck ist nicht von mir. Ich bin weder linksradikal noch will ich zur Gewalt aufrufen. Aber was soll das Gerede von Revolution Jetzt. Wann denn? Wie denn, wenn keiner keinem weh tun will. Freiwillig und mit gut zureden wird kein Mensch sich in irgendeiner Weise ändern. Volker Lösch bildet auch nur ab, was er auf der Straße hört und fügt das in seine Inszenierungen ein. Ändern wird das natürlich auch nichts, aber es regt mich eher zum Nachdenken an, als ein verplemperter Abend mit Möchtegernrevolutzern, die das eben mal Just For Fun machen, aber im Grunde auch nicht wissen, wie sie eigentlich reagieren würden, wenn denn tatsächlich jemand kommen würde, um Revolution zu machen. Ich empfehle zum Nachhören das Corsogespräch: Bastian Trost und Laura Tonke von "Gob Squad" bei Deutschlandfunk, im Internet abrufbar. Revolution als Versuchsanordnung und wir sind die Labormäuse, oder was? Die Unzufriedenheit, die sie beim Zuschauer ausgemacht haben wollen, werden sie so nicht kanalisieren können.
haben Sie sich nun das Corsogespräch mit Gob Squad im Internet angehört? Anstatt über anderer Leute Kohle nachzudenken, wäre es doch sinnvoller noch mal die Frage zu diskutieren, warum denn Gob Squad nun eine Revolution machen wollen, oder nur darüber nachdenken wie das wäre und was das dem einzelnen Besucher der Vorstellung wirklich bringen soll.
Schließlich, glauben Sie denn wirklich, dass man einem Menschen erst weh tun muss, damit er sich endlich wehrt und seine Lage erkennt? Ist das nicht eine gefährliche Instrumentalisierung von Menschen durch Menschen? Löst eine diktatorische Herrschaft des Verbrechens nicht eher Angst aus? Und Angst führt doch gerade nicht zum politischen Handeln, sondern eher zu dessen Gegenteil. Angst macht gefügig. Egal, ob sie nun medial geschürt wird und/oder auf realen Erfahrungen beruht. Dazu schreiben Juli Zeh und Ilija Trojanow: "Im Angesicht der Gefahr gibt man Freiheit zugunsten (vermeintlicher) Sicherheit auf. Ohne Angst ist kein (Überwachungs-)Staat zu machen." Huch!
Da spannen Sie aber einen weiten Bogen von der friedlichen Revolution 1989, die im Übrigen in anderen Ländern (wie z.B. Rumänien) nicht so friedlich abgelaufen ist, über anarchische Gewaltrevolutionen wie wir sie immer wieder in der 3. Welt haben, zum Überwachungsstaat des Herrn Schäuble.
Die Systemauflösung im Ostblock hat sich ja auf sehr unterschiedliche Weise vollzogen. Von der Vereinnahmung der DDR durch die BRD über kriegerische Total-Auflösungen auf dem Balkan und in der UdSSR, bis hin zu Restauration und neuer Diktatur nach fehlgeschlagenen Reformversuchen in Russland, der Ukraine oder anderen ehemals zur UdSSR gehörenden Staaten. Wo sehen Sie da denn eine Revolution? Sicher gehen Revolutionen nicht immer in eine Richtung, also Ablösung des Kapitalismus, aber das andere nennt man dann doch lieber Restauration des Alten oder Reformversuch. Revolution im Kleinen, na ja wenn man sich zufrieden gibt mit kleinen Schritten wie jetzt mit dem Dämpfer für Hartz IV. Mir geht das nicht weit genug. Recht auf Wohnung, Arbeitsplatz, Bildung alles erstrebenswerte Ideale, die aber im herrschenden System nicht umgesetzt werden können. Das die Krux an der ich verzweifele und deshalb sind mir solche liebgemeinten Revolutionsabende am Theater ein Greuel. Wenn sich jetzt die revolutionäre Kraft gegen Leute wie Schäuble richtet, der die Ängste der Menschen vor Terror dazu benutzt, die innere Diktatur zu etablieren, dann ist das ein Anfang, aber das reicht noch lange nicht. Sie haben aber zu mindest in einem recht, Gewalt ist die schlechteste Lösung, aber wohin die Wut kanalisieren?
Und haben nicht auch und gerade viele ehemalige DDR-Bürger direkt nach der Wende Kohl und seine illusionären "blühenden Landeschaften" gewählt?
Ob Reformversuche im herrschenden System nicht umsetzbar sind, das ist hier die Frage. Zumindest werden die Rahmenbedingungen mit der Politik der schwarz-gelben Koalition nicht besser, da existiert kein Spielraum für utopische Vorstellungskraft.
Und auch, wenn Schäuble mittlerweile nicht mehr Innenminister ist, Thomas de Maizière führt dessen Sicherheitspolitik ja nun fort. Da kann und muss man ansetzen.
Schließlich möchte ich Sie fragen, wem nützt denn eigentlich die Kanalisierung von Wut? Und vor allem, für wie lange? Nur für die Zeit auf der Bühne und damit auch nur den Akteuren? Oder auch den Zuschauern? Wäre hier dann nicht eher ein "Theater ohne Zuschauer" im Sinne der Lehrstücke nach Brecht gefordert? Eine Erprobung von unterschiedlichen Haltungen und (Macht-)Positionen?
Eine wirkliche Wahl war ja nach der Wende gar nicht vorhanden, Kohl hat geschickt die Unzufriedenheit der ehemaligen DDR-Bürger kanalisieren können, um seine eigentlich abgelaufene Zeit zu verlängern. Die Linke war wie immer zerstritten und bleibt es auch weiter. Reformversuche werden so stets scheitern. Es gibt eine Mehrheit links des konservativen, neoliberalen Lagers. Es existiert aber in der Politik nur der Wille zur Macht und deren Erhalt um jeden Preis. Ich sehe also keinen Reformwillen innerhalb der Parteienlandschaft, also geht’s nur durch Mobilisierung unzufriedener Bevölkerungsschichten von unten. Diese Wut muss kanalisiert werden. Sie haben recht, wenn sie anmerken, wem nützt Kanalisierung von Wut. Die Masse ist manipulierbar, womit wir wieder mal beim Verblendungszusammenhang wären. So lange man noch irgend etwas zu verlieren hat, wird man nicht aufsässig und hält sich lieber an Versprechungen und wird somit leicht unkritisch. So, was hat das alles nun mit Theater zu tun? Nichts, und deshalb scheitern auch jegliche Versuche das auf der Bühne abzubilden. Heute gähnt jeder, wenn von Brechts Lehrstücken die Rede ist. Zum Beispiel die Maßnahme, die Auflösung des Individuums in einer Masse für ein revolutionäres Ziel in der Form eines Mitmachtheaters zur Agitation. Diese Form, den Außenstehenden in die Handlung direkt mit einzubeziehen, versucht doch auch Gob Squad, allerdings ohne Erkenntnisgewinn. Genauso wenig haben sich in den 60ziger Jahren Arbeiter von Studenten, die in die Produktion gegangen sind agitieren lassen.
Jetzt muss ich wieder auf Volker Lösch zurück kommen, der sich auch einer ähnlichen Form bedient, indem er Chöre mit Laiendarstellern einsetzt, die seine Aufführungen untermalen sollen und somit Volksnähe suggerieren. Das funktioniert aber auch nur bedingt, da der Theaterzuschauer hier nicht mehr selbst eingreifen kann, sondern nur das Ergebnis sieht.
Politisches Theater bleibt so oder so nur Parole und Behauptung.
@Rosa L. "Das Volk will nach Hause. Das Volk will billiges Bier. Das Volk will einen besseren Job. " Nein, kann ich ebenfalls nicht bestätigen. Das "Volk" hat nur ein Zuhause, mehr kann es sich nicht leisten. Das billige Bier ist folgerichtig. Der bessere Job bleibt eh aus. Und wenn er einmal errungen wurde, kann er in heutigen Zeiten nicht gehalten werden, weil in der Krise die Tradition des "Bürgertums" verlangt, dass erst der eigene Nachwuchs versorgt wird. (siehe H.H.)
Macht aber nichts. Denn es wird nicht ewig so weiter gehen, da nun das "Bürgertum" selber zur Disposition steht.
Gob Squad nah an Brecht, nee da muss ich widersprechen, so habe ich das nicht gemeint. Brecht hatte es nicht nötig sich an den Zeitgeschmack ran zu wanzen, wie Gob Squad das machen. Brecht hat zu seiner Zeit das bürgerliche Theater aufgemischt. Das dürfte heute schwer nach zu machen sein. Man hat halt alles schon mal irgendwie gesehen. So und wer ist denn jetzt die sogenannte Zeitgenossenschaft. Sattes Mittepublikum? Jugendliches Publikum das sich mal die Revolution erklären lassen will? Wer, und welche Utopien werden angesprochen? Das fragt zu recht auch 123. Ich will nicht über die Unzulänglichkeit des bürgerlichen Stadttheaters diskutieren. Genauso wenig ärgere ich mich über die Welt wie sie ist, ich stelle nur fest. Theater kann nicht wirklich revolutionär sein. Es sei denn es bietet Alternativen und dann wird es leider meist langweilig.
Nein, kann ich auch nicht bestätigen. Also die Aufführung von "Nicht Fisch, nicht Fleisch." in Dortmund in den Siebzigern, und viele andere, war alles andere als langweilig. - Heute wahrscheinlich auch irgendwie schrecklich. Aber die Literaturförderung hat ihren Stall in den letzten Jahrzehnten ja auch irgendwie sauber gehalten. Die haben solche Aufführungen nicht antizipiert.
Was hat Ihnen denn nun die Lektüre der philosophischen Bücher gebracht? Nun ja Sie haben sich der Kultur und Kunst zugewandt, das ist nicht das Schlechteste. Jeder braucht irgendwo eine Anregung, eine Erweckung will ich mal sagen, um in eine bestimmte Richtung zu gehen. Bei mir war das tatsächlich mein Vater, sollte man nicht für möglich halten, wo doch alles gegen die Alten rebelliert. Aber es geht ja auch nur um eine Anregung, dann muss man selber weiter denken und ich bin mittlerweile auch meilenweit von den Ansichten meines Vaters entfernt. Die Altachtundsechsiger wie man Sie heute nennt haben gegen Ihre Väter aufbegehrt, das ist heute viel schwerer geworden. Eigentlich spielen Vaterfiguren ja heute auch eine ganz andere Rolle. Entweder gar keine oder man sehnt sich nach Identifikation. Das macht auch Kimmigs Inszenierung von Kabale und Liebe so undurchsichtig. Aber ich bin abgeschweift. Sie meine also das Bürgertum steht zu Frage. Was ist DAS Bürgertum? Haben Sie Angst wieder ins Proletariat zurückgestoßen zu werden und was wäre so schlimm daran? Bitte erklären.
But I do my very Best...um dort nicht mehr zu landen...
Wer alles erreicht hat, riskiert natürlich auch nichts mehr. Ein bisschen fürchten Sie sich ja tatsächlich. Die Konfrontation mit dem Elend ist natürlich immer unangenehm. Ich schließe mich da nicht aus. Aber sie verwechseln Proletariat mit Prekariat. Sind uns diese Schlagworte Proletariat und Bürgertum tatsächlich so fremd geworden. Wie bezeichnen Sie denn einen Arbeiter der jeden Tag malocht um seine Familie zu ernähren und trotzdem mit Recht darauf stolz ist? Auch wenn er keine Zeit mehr hat Bücher zu lesen. Wer ist denn nun das Bürgertum? Alle die sich beim Arbeiten nicht mehr die Finger schmutzig machen. Dieses von oben herabschauen der Intelligenz macht es tatsächlich geradezu unmöglich die Klassenschranken aufzuheben. Jeder hat so seinen Verblendungszusammenhang. Sie weil Sie sich mit Philosophie den Rückweg verbaut haben und der Arbeiter weil er nicht in Ihre Sphäre aufsteigen kann.
Zum Thema "Lehrstücke": Es ging mir weniger um Brechts politische Ideologie, sondern vielmehr um das Verfahren. Natürlich ist ein Theater ohne Publikum Utopie, aber es gibt (Arbeits-)Formen, wie zum Beispiel auch die von Gob Squad, die zumindest in diese Richtung gehen. Formen von Theater, über welche Akteure und Zuschauer sich selbst neu wahrnehmen können, indem sie die (Bühnen-)Realität als Resultat der eigenen (Denk-)Praxis begreifen. So könnte auch Ihre persönliche Ent-Täuschung über das Theater, welches nach Ihnen zu gar nichts mehr zu gebrauchen sei, in eine neue experimentelle und konstruktive Energie umgewandelt werden. Das heisst: Nicht mit fertigen Lösungen kommen, sondern über das Spiel erst erproben, hervorbringen, hinterfragen.
Kohl hat das richtige Angebot zur richtigen Zeit gemacht, während die SPD zögerte. Die Grünen haben gleich gar keine Rolle gespielt. Die meisten Leute in der DDR wollten natürlich den sofortigen Anschluss, leider hat Kohl ihnen nur eine Seite der Medaille gezeigt.
„Die Möglichkeit der Entscheidungsfreiheit des menschlichen Subjekts“ ja die gibt es und wir haben auch immer die Regierung die wir gewollt haben. Aber was hat das mit Revolution zu tun. Revolution ist immer noch eine Massenbewegung, sonst funktioniert es nicht. Also um Revolution zu machen, muss man unterschiedlichste Auffassungen in eine Richtung kanalisieren und man brauch einen antagonistischen Widerspruch. Zwei Seiten die nicht mehr miteinander funktionieren. Diese Widersprüche sind im jetzigen System verwischt, nicht mehr klar erkennbar. Wenn wir also jetzt über Revolution schwadronieren, müssten wir diese Widersprüche doch wieder klar benennen können. Und daran scheitert jeder Gedanke an Revolution bereits im Ansatz, da sich niemand über die Konsequenzen klar ist.
Ich glaube nicht, das Theater zu gar nichts mehr zu gebrauchen ist. Nur funktioniert Theater als Lehranstalt nicht mehr.
„...ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLABLA,...“ Heiner Müller aus Hamletmaschine
Um diese Widersprüche thematisieren zu können, gibt es heute ganz unterschiedliche Formen von Theater, welche sich von der didaktischen Lehranstalt bzw. vom platten Agitproptheater wegbewegen. Es geht um konstruktive Auslotung von möglichen Einsatzräumen des Politischen. Sie dagegen sind ja irgendwie nur "dagegen", oder sehe ich das falsch? Und macht das eigentlich Spaß?
wenn ich keinen Spaß daran hätte, würde ich hier nicht diskutieren. Aber kommen wir doch zum Revolutionstheater von Gob Squad zurück. In der Kritik oben heißt es sehr treffend: "Wozu der heutige Aufstand angezettelt werden soll, bleibt einleuchtenderweise das gut gehütete Geheimnis der Revolutionsalchemisten von Gob Squad. Was dem politischen Theater oft lediglich unterläuft, wird hier Programm: Alles ist auf reine Emphase und Emotionalisierung abgestellt." Also bleibt es Phrase, das ärgert mich. Da gehe ich doch lieber zu einer Podiumsdiskussion auch wenn das nicht so unterhaltend ist. Das Thema ist viel zu wichtig, als es in einem lustigen Abend abzuhandeln.
@ Sennett-Leser
Die Auflösung des alten Klassenbegriffs durch die Automatisierung der Produktion ist mir nicht neu. Ich habe das nur noch mal erwähnt, um zu hinterfragen woher denn jetzt eine revolutionäre Situation kommen soll. Vielleicht aus dem Niedergang der Mittelschicht, die sich ja aus dem Proletariat herausgelöst hat. Aber die wählen halt lieber FDP und hoffen nicht wieder ins Proletariat zurück zu fallen.
Sie gehen davon aus, dass alle aus "dem Bürgertum" (sind Sie nicht auch ein politischer Bürger?) auf "die Proletarier" (hat sich die klassische industrielle Arbeitsteilung heute nicht gewandelt, siehe Kommentar 36.?) herabschauen würden.
Westerwelle dagegen verkennt die Tatsachen, indem er die eigene Dekadenz (Stichwort: Klientelpolitik) auf "das Volk" bzw. "alle Hartz IV-Empfänger" projiziert. Zitat: "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein." Aber was hat denn jetzt bloß der römische Sittenverfall mit dem von Westerwelle geforderten "Leistungsgedanken" bzw. der Anhebung der Hartz IV-Sätze zu tun?
Ich habe kein dualistisches Weltbild, obwohl es natürlich einfach ist die Welt in gut und böse einzuteilen. Sie zwingen mir hier eine Diskussion auf, die ich gar nicht führen wollte. Das menschliche Subjekt, das Individuum ist trotzdem immer Mitglied einer bestimmten Klasse oder Gruppe und schwebt nicht im luftleeren Raum. Es gibt in unserer Gesellschaft noch genügend Antagonismen und das treibt die gesellschaftliche Entwicklung durchaus auch voran. Aber der klassische Antagonismus verschwindet nicht im Nirvana nur weil man ihn wegredet und das versuchen Leute wie Westerwelle. Jeder der nur will, kann durch Fleiß und Wille in der Hierarchie der Gesellschaft aufsteigen. Alle sind plötzlich Mittelstand. Aber für alle reichts nicht. Das hat Herr Westerwelle vergessen zu sagen. Er möchte Steuervergünstigungen für sein Klientel, sehr richtig, was Sie sagen. Da haben wir dann eine gesellschaftliche Schicht oder Klasse. Und so gibt es weitere bis runter zum Hartz IV-Empfänger. Da sollen jetzt keine antagonistischen Widersprüche mehr existieren? Sie wirken halt nur nicht mehr im klassischen Sinne. Um das zu verschleiern werden ganze Bevölkerungsschichten mit der Sozialneid-(Hartz-IV-)Debatte aufeinandergehetzt.
Arbeiterviertel. Wie ich heute Arbeiter sehe ? Ich weiß, dass wenn man sie ließe, sie zuviel mehr fähig wären, ich weiß es aus eigener Erfahrung. Vielleicht wären Sie sogar eher in der Lage eine neue Kulturnation zu errichten als Andere. Meine Hand würde ich dafür nicht ins Feuer legen. Es wäre ein äußerst schwieriger historischer Vorgang.
Wer heute wirklich noch Bürger ist ? Wahrscheinlich die, die es von sich behaupten. Bürgerlich zu sein ist schon eine eigene Setzung, die man als Einzelner vornimmt. Nur was nützt einem diese Setzung. Auch der klassische Bürger wird auf lange Sicht wahrscheinlich nicht mehr gebraucht. Man braucht halt so flinke, alerte Gestalten, wie man sie in dem Film "Up in the air" sehen kann. Das sind keine Bürger mehr. Sondern moderne Nomaden.
Ich trauere weder den klassischen Arbeitern, noch den klassischen Bürgern hinterher. Eigentlich interessieren mich solche Fragestellungen nicht mehr. Ich sehne mich nach modenen, kultivierten Menschen, die ihre Herkunft hinter sich gelassen haben. Liebevolle Typen ohne Ressentiments. Leider habe ich heute keine Zeit den ganzen Thread zu lesen. Aber Stefan, beschreiben Sie doch einmal so einen "neuen Menschen", wenn Sie Lust dazu haben.
Gruß
123
Schließlich geht es natürlich nicht allein um die Begriffe, sondern auch um die Veränderung der sozialen Institutionen und Strukturen. Das muss ineinander greifen.
schön das wir noch fast auf eine Linie gekommen sind, klingt aber auch gleich wieder so absolutistisch. Also eher das wir uns angenähert haben. Meine anfängliche Abneigung zum Gob-Squad-Abend resultiert auch aus anderen Projekten die ich bisher von dieser Gruppe gesehen habe und die mich nicht überzeugen. Mittlerweile meine ich aber man sollte ruhig hingehen und vielleicht wird nach mehreren Abenden dann auch das Anliegen klaren. So viel Geduld besitze ich leider nicht.
Revolution ist für mich aber nach wie vor mit den Widersprüchen zwischen antagonistischen Klassen verbunden. Warum sollte man sonst auch revoltieren, außer um überkommene Gesellschaftsstrukturen aufzulösen. Also nicht Revolution mit Reformen verwechseln.
Ist unser jetziges politisches System reformierbar? Sicher nur bedingt und mit vielen faulen Kompromissen. Zum Problem demokratischer Sozialismus. Wie soll der erreicht werden? Was ist das überhaupt? Ich will hier nicht aus dem Programm der Linken zitieren. Das begreift sowie so keiner, was die unter demokratischem Sozialismus verstehen. Im Prinzip schränkt ja der Sozialismus wieder Ihre so geliebte Individualität ein. Außerdem Kontrolle der Wirtschaft und der Finanzmärkte, Verstaatlichung wichtiger Industriezweige. Das ruft massiven Wiederstand in den Büroetagen hervor. Das können wir gerade in Südamerika beobachten. Hugo Chávez versucht etwas in der Art mit mehr oder minder Erfolg in Venezuela. Wirklich demokratisch kann man das aber auch nicht nennen. Sie sehen also selber, das dieses Thema viel zu komplex und auch langweilig für das Theater ist. Da dies aber ein Theaterforum ist, sollten wir es dabei bewenden lassen.
Die Veränderung von sozialen Institutionen und Strukturen sprechen Sie noch an. Schwieriges Unterfangen, dazu benötigen Sie Mehrheiten in der Politik, die zur Zeit nicht der Form existieren, das sie sich positiv auswirken würden.
Vielleicht bin ich ja auch durchaus liebenwert, obwohl ich wie jeder Mensch gewisse Ressentiments besitze. Ich glaube der Wunsch nach modernen, kultivierten Menschen die ihre Herkunft hinter sich gelassen haben ist unrealistisch. Niemand kann seine Vergangenheit hinter sich lassen. Sie können nur offensiv damit umgehen, alles andere ist Selbstverleugnung. Der moderne neue Mensch sollte also keine Vorurteile haben, wissen wo er herkommt, für Neues offen sein und daraus seine Schlüsse ziehen. Nur so wird es ihm überhaupt auf Dauer möglich sein mit der Umwelt klar zu kommen und an den Ort seiner Herkunft ohne Scham zurückzublicken. Ob kultiviert oder nicht, das spielt dabei eher eine nebensächliche Rolle, das kommt dann so oder so ganz nebenbei.
Tut mit leid, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin. Das war nicht meine Absicht. Ich stelle die Vergangenheit gar nicht in den Vordergrund. Ein Mensch sollte auch nicht allein darauf reduziert werden. Verdienste erwirbt man sich im Lauf des Lebens, indem man sich weiterentwickelt. Da ich Sie nicht kenne, kann ich das natürlich auch noch nicht wertschätzen. Ich meine mit, das man die Vergangenheit nicht hinter sich lassen kann, natürlich das unreflektierte Verleugnen der Herkunft. Irgendwann fällt einem das wieder auf die Füße.
„...zu dem mich meine Geburt eventuell bestimmen sollte...“ Jetzt könnte man wieder darüber philosophieren, ob man von Geburt aus zu irgendetwas bestimmt ist, oder sich durch eigenes Tun daraus befreien kann ohne sich selbst zu verleugnen. Habe zu dem Thema gestern Abend einen sehr guten russischen Film auf der Berlinale gesehen. Aber das ein zu weites Feld. Ich gehe jetzt erst mal eine Woche lang ins Kino und widme mich dann eventuell wieder dem Theater.
Realistisch betrachtet, würde ich aber doch für Alternativen IM Kapitalismus plädieren. Die Generalstreiks der Gewerkschaften zielen aktuell ja auch eher auf Reformen ab als auf Revolution. Aber eines ist sicher: Gott wird es nicht richten. Es liegt allein in der Verantwortung, in den Händen jedes einzelnen Menschen im Gegenüber mit anderen Menschen.
Mit Stemann rennen Sie offene Türen bei mir ein. Seine Reflektionen zu klassischen Stoffen oder auch zu Texten von Elfriede Jelinek finde ich eher aktuellpolitisch als Laien- und Mitmachtheater bei dem man sich eh nicht einbringen kann, wozu auch. Das Nachdenken muss nach dem Theater im Alltag beginnen.
Ich habe heute bei der Berlinale die neue sehr tolle New-York-Doku von Rosa von Praunheim gesehen. Hier kommt in einer Sequenz die Ikone des Living Theatre Judith Malina zu Wort. Sie trifft es sehr gut, wenn Sie zu den jungen Pohl-Schwestern sagt: Ihr müsst es machen, wer soll es sonst tun. Wer nichts zu sagen hat, soll aus dem Licht gehen und dem Platz machen der etwas zu sagen hat. Das ist sehr berührend.
Also man muss etwas tun nicht nur darüber reden. Was ist dem noch hinzu zu fügen?
Studentische Aufstände sind nicht gerade unkonventionell aber sie sind politisch wirksam, wenn man sie sorgfältig medial inszeniert. Es saßen Studierende in Hörsälen und kommunizierten über Internetplattformen, solidarisierten sich mit allen Rebellen bundesweit. Und es gab Momente, da sahen sich die Kommilitonen in die Augen und waren sich sicher an etwas Großem teilzuhaben. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren die Worte, die plötzlich eine unerhörte Konkretisierung erfuhren und der Zauber der Möglichkeiten durchwirkte die studentischen Gemüter... Identifikation mit kollektiven Körper ist schon was feines.
In diesem Sinne ist Revolution now eine Persiflage, die mir für diese kritische Äußerung eine hervorragende Vorlage geboten hat. Vielen Dank.
Kultur.
mitglied von gob squad: nein
ausrutscher: nein
Kehren Sie vor die Schrift zurück.
Da, wo ich noch keine Buchstaben kannte, keine Worte, habe ich am deutlichsten formuliert. Ich wollte immer Schneemann werden, dies war mein Lieblingsberuf, weil der im Sommer schmilzt und Zeit hat zum Nachdenken.
Kein erwachsenes Kind könnte sich so etwas ausdenken.
Leben Sie vom gesprochenen Wort. Ihm gehört das Theater.
Ich persönlich finde die Schrift (zum Beispiel auch die Bilderschrift) da ja bei Weitem interessanter, weil die nicht eindeutig lesbar ist. Weil es da nicht darum geht, dem Befehl zu gehorchen. Keine Macht für / Niemand / hat die Definitionsmacht über die Realität. Das heisst, an Gott und Schicksal darf wohl glauben, wer will. Meine Art zu denken und zu leben, ist da allerdings eher von der Einheit der Notwendigkeit und des Zufalls bestimmt. Das kann grausam sein. Und auch die sogenannten (historischen) "Revolutionen" waren nie vom Schicksal geleitet, sondern immer nur von Menschenhand. Jeder ist verantwortlich für alles, was er tut (oder unterlässt).
Aber schon komisch, Rosa, was mir da passiert.
Ich lese da zwei, drei Sätze:
§ 60 "Leben Sie vom gesprochenen Wort. Ihm gehört
das Theater."
§ 61 "Jeder ist verantwortlich für alles, was er tut
(oder unterlässt)."
§ 61 paßt eigentümlich viel besser mit dem Zusatz
"Amen" !!
Bei "Ozean" jedenfalls habe ich's genossen, allerdings nicht nur wegen des Seesacks. Das war schon ein tolles Ding, dieser Revolutionsabgesang.
Überhaupt finde ich, dass die Volksbühne ihren Spielplan thematsich unheimlich gut geschnürt hat. Da greifen die Abende wirklich ineinander. Ist mir so aufgefallen im Vergleich zwischen "Ozean" und "Revolution now" - die man beide vielleicht wirklich resignativ (aber darin eben auch ehrlich!) nennen kann.
Antwort: Eindeutig nein.
Ich weiß nicht wovon "alles" bestimmt ist. Aber mein Handeln ist über weite Strecken von meinem Denken und Sprechen bestimmt, soweit ich dies trotz massiver Einflußnahme noch selber bestimmen kann. Denn manchmal, zwar selten, sauf auch ich in all diesem Hype ab.
Thema: Änderung der Welt sei nötig, dazu erforderlich zuallererst eine Änderung im individuellen eigenen Leben - das alte Lied, hier unter dem Thema Revolution now.
Konzept:
Freies Theater zu aktuell relevanten / im aktuellen mainstream präsenten Themen mit Publikums-Mobilisierung und -Hineinnahme durch die Schauspielakteure. Publikum dabei nicht nur aus dem Saal, sondern auch „aus dem richtigen Leben“, von der Straße.
Das bedeutet: viel Technik, zugleich viel Risiko - nicht nur kann es technische Pannen geben, schlimmer noch: das Gelingen eines Abends hängt erheblich von der „Qualität“ des jeweils rekrutierten Publikums ab.
Technisch dann Verwebung all dieser Elemente durch Mischung von live-Theater mit Video-Einspielungen (Direktaufnahmen des Geschehens wie auch Filmkonserven).
Bühnenbild: vorn auf der Bühne vor dem Vorhang ein längerer Tisch, darüber eine Projektions-Fläche aus 2 Feldern, links meist mit der Aufschrift Revolution now und zusätzlichen Lauftexten, dazu Video-Projektionen der Vorgänge auf der Bühne, innerhalb des Publikums sowie bei den Passanten draußen. Video-Start mit dem gefilmten Einzug der Truppe von draußen hin auf die Bühne.
Im Einzelnen:
Rekrutierungsort heute: Ecke Brüder-Straße / Krebsgasse hinter dem Schauspielhaus,eine zu Geschäftszeiten viel belaufene, abends unter Aspekten der Publikumsaquise ungünstig ruhige Ecke.
Daraus resultiert an diesem Abend Pech bei der Acquise: draußen zunächst vier ausländische Gören, offensichtlich auf Köln-Trip, erfreut, in ein Event hineinzugeraten, sich auf ein Gespräch aber letztlich nicht einlassend.
Rettend radelt eine Mutter mit elfjährigem Sohn heran: Litauer, beide gut Deutsch sprechend, integrationsengagierte fügsame Migranten, die ihre Verdutzheit ob des Themas (Revolution now) nicht überspielen können.
Der Junge wird „als Volk“ geködert, hat schlussendlich einen Molotow-Cocktail ans Schauspielhaus zu werfen, steht zum Schluss mit der Mutter fahneschwenkend auf der Bühne, die sich zum großen Abschluss Bild geöffnet hat.
Insgesamt ein kräftiger Flop:
- Gestrig das „Revolutions-“ Thema, nicht vermittelbar, dass dies
heutzutage eine Option sei. So liegt von Anfang an ein
Arrièregarde-Müffeln über dem Abend.
- Misslingendes Einfügen von Passanten-Publikum draußen:
beim gewählten Konzept zunächst eine langatmige live-
Dokumentation von Nichtgelingen, sodann bedenklich Manipulatives
bei der Bestimmung eines Minderjährigen (mit Migrations-
geschichte, litauischer Herkunft) zum Fahnenschwenker der
Revolution.
- Rasches Gelingen dagegen bei der Aktivierung des Publikums im
Schauspielhaus, wo man auf Anweisung bereitwillig aufsteht,
winkt, klatscht (und sich wohl auch mit Schunkeln eingebracht
hätte).
Der ernste Ansatz des Abends: so darf der Lauf der Welt nicht weitergehn und Du, zuerst "Du musst dein Leben ändern!“, geht so leider in Trubel, Technik und Event unter.
Der Lokalpresse (Kölner Stadtanzeiger) ist’s irgendwie recht.