Bis dass der Tod euch scheidet

von Beat Mazenauer

Zürich, 6. Februar 2010. Ein Traum, den Tod zu überwinden. König Admet handelt sich mit den Göttern diese Option aus, unter einer Voraussetzung: Jemand anderer muss für ihn sterben. Doch weder Vater noch Mutter opfern ihr Leben, so dass Admets Gattin Alkestis für ihn in den Tod geht.

Mit einem Werbetrailer für Brautmode, das die beiden in inniger Umarmung zeigt, setzt die Zürcher Aufführung ein – und leitet danach sachte hinüber in die Sterbeszene zehn Jahre später. Die Szenerie: ein steriler Flur (Marke Amtsflur), mit Türen zu beiden Seiten, im Hintergrund der Notausgang. Die Familie trifft sich zu Alkestis' Abschied, die mit Beklemmung auf den geflügelten Thanatos wartet. Lässt sich der Tod umgehen, abwenden, delegieren?

Allein und einsam

Euripides' Stück stellt eine Frage, die aktueller kaum sein könnte. Fit im Alter, Sterbemedizin und als Ultima ratio die Konservierung im Kühltank, alles wird versucht, um die leise Hoffnung auf Unsterblichkeit zu bewahren. Darum geht es in diesem Stück. Aber nicht nur. Eindringlich fragt es danach, wie wir es als Gemeinschaft mit dem Sterben halten.

Mit ihrer Todesangst und Verzweiflung bleibt die Sterbende Alkestis allein und einsam. Admet, den Markus Scheumann als berechnenden, zugleich weinerlichen Egoisten gibt, beklagt einzig das eigene Schicksal: verlassen zu werden. Selbst wenn ihn ab und an der Jammer überkommt, bringt er kein "du" über seine Lippen. Immer nur "ich", und zuweilen "wir", wenn er von Alkestis spricht. Und die andern Familienmitglieder? Halten sich abseits.

Echt und endgültig

Das nüchtern funktionale Bühnenbild von Henrike Engels erweist sich dabei als stilvoller Spielplatz für Hass, Verachtung, Abscheu, die zwischen den Agierenden kalt aufblitzen. Den Höhepunkt bildet das Rededuell zwischen Admet und seinem Vater vom Schlage eines herrischen Prokuristen. Admet wirft ihm vor, am Leben zu hängen, obgleich dieses doch beinah verwirkt sei. Worauf ihm der Vater scharf zurückgibt, dass jeder nur einmal lebe und ohne Selbstmitleid für sein Leben verantwortlich sei.

In diesem gefühlsarmen Ambiente spielt Alkestis eine höchst delikate Rolle. Ihre Verzweiflung in Erwartung des Todes ist keine Spiegelfechterei, sondern echt und endgültig. Ein Kontrapunkt: Euripides' Stück ist hörbar nicht von heute. Auch in der diskret angepassten Übertragung von Walter Jens, und um die chorischen Strophen entschlackt, lässt sich nicht verhehlen, dass seine Uraufführung beinahe 2500 Jahre zurückliegt. Im zweiten Teil wird das noch deutlicher spürbar.

Subtil und raffiniert

Die Fragen des Gastrechts, die sich um Herakles' Besuch im Trauerhaus ranken, rekurrieren auf antike höfische Tradition und muten im familiären Kontext dieser Inszenierung eher fremdartig an. Davon abgesehen gelingt es Karin Henkel jedoch mit subtilen Mitteln, das Geschehen in die Gegenwart zu holen. Sie benötigt dazu wenige Mittel, sparsam eingesetzt. Es ist eher der differenzierte Ton, der hier die Musik macht. Fragen nach Schuld und Opfer laufen am unerbittlichen Narzissmus auf.

Immer wieder bannt Henkel ihre Figuren in figurativen Stilleben, die an ihren Rändern monologisch oder dialogisch belebt werden. Kleine ironische Einschübe brechen zudem den tragischen Ernst. Zu Letzterem zählt das Outfit von Herakles. Im Glitzerjacket erinnert er sichtlich an Michael Jackson. Auch diese Rolle – Carolin Conrad spielt nebst der Alkestis mit Elan und Leidenschaft auch den Herakles – ist delikat, weil sie abermals aus dem nüchternen Rahmen fällt.

Dieser Regieeinfall ist jedoch von höchster Finesse, weil einerseits die Doppelbesetzung und andererseits die Anlehnung an den Thanatos des Pop dem Stück einen raffinierten Dreh verleihen. Bei Euripides verkündet Apoll gleich zu Beginn ein Happyend. Ohne Glaube an die Götter lässt sich derlei heute nur mehr als Farce darstellen. So rettet, kraft der Doppelrolle der Darstellerin, der Star Herakles-Jackson die Alkestis, und führt das Stück präzis dahin zurück, womit es begonnen hat: zum kitschigen Werbetrailer am Anfang. Tod bleibt Tod, und der Versuch seiner Überwindung endet im Versuch seiner Überwindung.

"Alkestis", dieses sperrige Stück über das Sterben und den Tod: In dieser konzentrierten Inszenierung lohnt es eine Auseinandersetzung.

 

Alkestis
von Euripides, nach der deutschen Übersetzung von Walter Jens
Regie: Karin Henkel, Dramaturgie: Katja Hagedorn, Bühnenbild: Henrike Engel, Kostüme: Klaus Bruns.
Mit: Carolin Conrad, Markus Scheumann, Jean-Pierre Cornu, Tatja Seibt, Gábor Biedermann, Ludwig Boettger.

www.schauspielhaus.ch


Mehr von Karin Henkel: Zuletzt inszenierte sie im Oktober 2009 mit Jana Schulz in der Hauptrolle Ödön von Horváths Glaube Liebe Hoffnung am Schauspielhaus Hamburg. Noch mehr? Bitteschön: im Glossar.

 

Kritikenrundschau

"Alkestis, schwer von Krankheit gezeichnet, das Blut rinnt ihr aus dem Gesicht, aus der Nasen, aus dunklen Flecken auf den Wangen (...) Sie will dem Tod entfliehen, verkriecht sich hinter das ans Bühnenende gerückte Vorhangsportal", schreibt Egbert Tholl (Süddeutsche Zeitung, 9.2.2010), der die Inszenierung bis dahin großartig findet. Nach Alkestis' Tod kippe Euripides in eine Burleske, den damaligen Aufführungsbedingungen geschuldet, so Tholl. "Bei Karin Henkel ist Alkestis selbst der Halbgott (...) zunächst für niemanden sichtbar und hörbar, obwohl sie mit einem Ghettoblaster über die Bühne rennt, aus dem Musik von Michael Jackson dringt." Zwar sei Carolin Conrad eine aufreizende und höchst überzeugende Jackson-Kopie, "doch erzeugt dieser Auftritt einen Wirrwarr der Fallhöhen". Henkels Groteske habe nicht die Größe der Zernichtung der Göttermacht bei Euripides. "Das Ringen um den Tod ist hier ein Kinderspiel: Alkestis' Kinder spielen den Zweikampf zwischen Held und Tod mit Plastikkeule und schwarzen Flügelchen. Vielleicht ist das grimmig gemeint, aber es wischt Alkestis' vorangegangenes Leid beiseite."

"Fast schulbuchmässig, aber suggestiv" reiße Karin Henkel mit ihrem Hochzeitstanz, der gleichzeitig ein Todestanz ist, das Hauptthema der "Alkestis" auf, schreibt Tobias Hoffmann in der Neuen Züricher Zeitung (8.2.2010): "Ohne den Tod zu umarmen, gibt es kein Leben." Während klassischerweise Admet das Leben und Alkestis den Tod verkörpere, setze Henkel in "ihrer Inszenierung viel, wenn nicht gar alles daran, die Verhältnisse umzukehren." "Mit allen Registern des psychologischen Kammerspiels" entwerfe sie ein "virtuoses Szenario der Aggressionen, der Selbstzerfleischung, der stummen und lauten Vorwürfe, der hektischen Betriebsamkeit und der lähmenden Ratlosigkeit." Carolin Conrad wische als Alkestis "wie eine Furie durch den Raum"; der Admet von Markus Scheumann sei bald als "weinerlicher Egozentriker entlarvt". Um sie herum deute Henkel ein "ganzes Universum von Neid, Zurücksetzung, Fürsorge und Ignoranz in der Familie" des Admet an. Den "mythologischen Märchenmotiven des Stoffes" entkomme Henkel durch "Tiefenpsychologie". So werde in der Herakles-Episode eine "Wiedergängerin der Alkestis" in "Gestalt eines dem 'Thriller'-Videoclip von Michael Jackson entsprungenen Werwolf-Zombies" vorgeführt, die signalisiere: "Die Durchlässigkeit zur Unterwelt wird umgekehrt. Nicht das Leben wird dem Tod entrungen, sondern der Tod quartiert sich im Leben ein."

"Erzählt 'Alkestis' von des Menschen Grösse oder von seiner Kleinlichkeit?", fragt Alexandra Kedves im Tages-Anzeiger (8.2.2010) und befindet: "Karin Henkel scheut die klare Antwort in ihrer schon optisch schwarz-weissen Inszenierung nicht: Das einzige Tier, das mitfühlen kann, denkt immer zuerst an sich selbst." Der Abend zerfällt nach Ansicht der Kritikerin in zwei Hälften. Die Eingangsfrage nach dem Umgang mit dem Tod erzeuge durchaus Spannung. "Der – sehr heutige – Eiertanz ums Tabuthema macht den ersten, den fesselnden und scharfzüngigen Teil von Karin Henkels Inszenierung aus." Dann aber erschienen die "euripideischen Göttergestalten" auf "Kindergestalten geschrumpft" und Carolin Conrad probiere sich "als Wiedergängerin, die zu Michael Jacksons 'Thriller' im Glitzer-Outfit den Zombietanz versucht". Und spätestens "da kippt der 75 Minuten kurze Abend. Wo vorher Spannung war, gerade in all der Statik rund um die Sterbende, wo vorher selbst die Schatten lebten, die die schwarz gekleideten Gestalten an die Wand warfen, wo Reibung war am ewigen Skandalon Tod, ist jetzt – Rest. Munterer Rest zwar mit bösen Witzen und burlesken Weinanfällen. Aber Rest." Fazit: "'Admet muss sterben.' Der Theaterabend leider auch."

Euripides' "Stück ist Komödie und Tragödie zugleich, handelt von Göttern und Menschen, von Gut und Böse, Held und Versager, Liebe und Selbstverliebtheit und schließlich von Leben und Tod", so Wolfgang Bager im Onlineportal des Südkuriers (8.02.2010). "Dass so viel Kunstfertigkeit auch nach Tausenden von Jahren noch nicht alt aussieht beweist Karin Henkel mit ihrer Alkestis-Inszenierung am Schauspielhaus Zürich." Henkel führe uns in ein "Totenhaus der Upperclass." "Die Wirkung des Raums, das geschäftige Treiben der Familie, das emphatische Sterben der jungen Hausherrin und nicht zuletzt die so gegenwärtig-frische Übersetzung von Walter Jens schaffen dieser Inszenierung eine starke, sehr dichte und auch hermetische Atmosphäre", die allerdings "jäh aufgebrochen wird, wenn Herakles das Haus betritt. Ein ungehobelter Geselle mit lärmendem Ghettoblaster". Darin stecke ein "netter Einfall, schließlich geht es ja auch im Hause Admet um die Show einer mythischen Totenverehrung." Lob fällt auf das gesamte Ensemble: "Alle Rollen sind sehr präzise besetzt".

 

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