Und im Herzen Europas das Öl

von Stefanie Waszerka

Hamburg, 31. August 2007. Die EU, also die Europäische Union, das ist ... . Ja, was ist das eigentlich? Laut Wikipedia "ein aus 27 europäischen Staaten bestehender Staatenbund eigener Prägung." Soweit die Primärinformation. Gut. Eigene Prägung ist doch immer gut, oder? Klingt kreativ. Was jedoch verbindet Rumänen und Esten, Iren und Griechen, Deutsche und Finnen, Bulgaren und Niederländer – mal abgesehen von dem Wunsch nach wirtschaftlichem Wohlstand?

Eine gemeinsame Verfassung, nein! Groß war der Aufschrei in der europäischen Bevölkerung als 2004 die Osterweiterung anstand, als unter anderen Polen, Lettland, Tschechien und 2007 Rumänien und Bulgarien in die große EU-Familie aufgenommen wurden. Billiglohnländer! Ein Riss ging durch Ost und West. Gegenwärtig ist die EU ein zerissener Staatenbund sonderbarer Prägung, der seine Identität nicht finden kann.

Projektion Europa
Vor diesem Hintergrund begann die Theaterproduzentin Andrea Tietz 2004 mit den Planungen zu Projektion Europa, einem Theaterfestival, das vom 31. August bis zum 9. September 2007 zu Gast im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg ist. Eingeladen sind sechs Regisseure aus sechs Ländern, die das "junge" Europa repräsentieren: das NO99 (Tallin/ Estland) mit der Produktion "Nafta! (Öl)", das Pan Pan Theatre (Dublin/Irland) mit "Oedipus loves you", das Dot (Istanbul/Türkei) mit "A play for two", das Prager Kammertheater (Tschechische Republik) mit Kafkas "Der Prozess", der Theater Club 111 (Bern/Schweiz) mit "Elsi, die seltsame Magd" und das Deutsche Schauspielhaus Hamburg mit zwei Inszenierungen von Roger Vontobel "Me and you and the EU" und "Spieltrieb". Dieses Festival ist kein politischer Diskurs. Es verspricht den Zuschauern vielmehr eine frische, humorvolle und sinnliche Annäherung an Europa. Weg also mit aller Kopflastigkeit und hineingeschaut in die Herzen.

Oilpeak – der Urknall
Den Auftakt für das Theaterfestival Projektion Europa gibt das NO99 aus Tallinn, das mit einem Regisseur und zehn Schauspielern kleinste estische Staatstheater. "Nafta!" (Öl) ist eine Polit-Revue, die der junge Regisseur Tiit Ojasoo gemeinsam mit der Videokünstlerin Ene-Liis Semper konzipiert, geschrieben und inszeniert hat. Es geht um Öl, oder vielmehr um den Tatbestand, dass es in naher Zukunft kein Öl mehr geben wird. Was aber passiert, wenn das Öl ausgeht? In der Mitte des Malersaales ein roter Steg, die Zuschauer beidseitig positioniert, beginnt "Nafta!" mit einem Urknall. Disco! In 70-Jahre-Glitzeranzügen springen vier Männer und eine Frau in professioneller Boygroup-Manier auf den Laufsteg und entzünden ein unglaublich rasantes Sprach- und Körperfeuerwerk, das die Zuschauer 120 Minuten lang in Atem hält. Mirtel Pohla, Jaak Prints, Gert Raudsep, Kristjan Sarv und Tampert Tuisk spielen das Spiel um Erdöl und Energie, Menschlichkeit und Moneten lustvoll und gekonnt. Was können diese Schauspieler singen, tanzen und sprechen! Leicht und selbstverständlich wirkt ihr Zusammenspiel, nie aufgezwungen der häufige Rollen- und Kostümwechsel. Schonungslos hauen sie dem Publikum knallharte Fakten über die Erdöl- und Geldindustrie um die Ohren. Pure Information, keine Publikumsbeschimpfung oder Belehrung, sondern im Sinne des Spieles selbstironisch, fast beiläufig entlarven sie die Macher und Mitmacher, die Verursacher des Oilpeak.

Öl aus? Welt im Eimer? Ist doch egal!
Dass jeder von uns einen Anteil an dieser Misere hat, wird nicht verschwiegen. Kein Grund traurig zu sein. Bevor also der von Gewissensnöten geplagte Zuschauer darüber nachdenken kann, ob er nun endlich sein Auto abschafft und nicht mehr soviel Geld zum Fenster oder zu den Banken hinausschmeißt, kracht es auf dem Laufsteg. Entertainment ist angesagt: "Die Welt ist schön, das Leben ist schön, alle wollen nur glücklich sein und keiner hat eine andere Perspektive." Sanfte Popsongs, Musicalnummern, Bollywood-Choreographien – die mediale Welt offenbart sich, tröstet, lenkt ab. Der Abend endet mit einer makaberen "Estland sucht die Super-DNA"-Show.

"Nafta!" ist in Tallinn ein Kultstück. "Nafta!" ist aber auch ein Stück, das elementar von den Texten und den Inhalten, die es transportieren möchte, lebt. Im Deutschen Schauspielhaus wurde es in estnischer Sprache mit deutschen Übertiteln gespielt. Das hat nicht funktioniert. Die irrwitzig schnelle Sprachführung der Schauspieler hat es unmöglich gemacht, die deutsche Übersetzung mitzuverfolgen. Damit ist der Zugang zum Inhalt, der freie Blick auf das Spiel der Darsteller und letztendlich der sinnliche Eindruck auf der Strecke geblieben.

 

Nafta!
Konzept, Text: Tiit Ojasoo, Ene-Liis Semper
Regie: Tiit Ojasoo, Ausstattung: Ene-Liis Semper.
Mit: Mirtel Pohla, Jaak Prints, Gert Raudsep,
Kristjan Sarv, Tambet Tuisk.

www.no99.ee

 

Kommentare  
zu Nafta! 1
Na ja, wenn man mit den estnischen Theatermachern gesprochen hat, ist es in Estland genau so: diejenigen, die sich den Senf aus der Feder drücken müssen um damit ihre Publikationen zu bekommen, mögen das Stück nicht - aber das Publikum war auch in Hamburg begeistert.
Klar waren die Untertitel schwierig - aber die Spielfreude der Schauspieler hat es wieder rausgerissen. Und vor allem etwas über das heutige Estland erzählt.
Nicht die Showelemente sind "makaber", sondern die intellektuelle Verdrehtheit der sogenannten Theaterexperten ...
zu Nafta! 2
von der "verdrehtheit" mal abgesehen, ist "schnellsprechen" als solches auch als kunstgriff zu sehen, als mediengestus zu verstehen, als quasi überhebliche moderation...ich denke auch die estländer hatten schwierigkeiten sich vollends auf den Inhalt zu konzentrieren! aber lieber albatros, die rezensentin mochte den abend doch durchaus..! Nur ruhigen blutes!und den rest der "projektionen europa "abwarten!
zu Nafta! 3
einen gänzlich "freien" blick hat man doch als zuschauer bei über- oder untertitelung nie! ein problem, das bei an fach-und/oder sachwissen orientierten texten natürlich schwer wiegt! dann eben die allseits heraufbeschworene phantasie walten lassen!
SCHÖN, dass die theatersaison begonnen hat!!
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