Der Glaube als Gefängnis

von Tim Schomacker

Oldenburg, 13. Februar 2010. Da passt was nicht: Die Kirchenfenster sind so hoch, dass man nicht sie sieht, sondern bloß ihr Lichtspiel auf dem Boden. Dafür statt hölzernes Kirchengestühl profane weiße Plastikstühle. Mehrmals kommt ein Kreuz von oben hereingefahren, es ist beleuchtet. Viel Licht und Schatten in Anna Bergmanns Inszenierung von "Breaking the Waves". Ort: ein schottisches Küstendorf, dessen Gotteshaus gefühlt deutlich höher ragt als je in Mauermetern gemessen werden könnte.

Doch einen Moment zurück: Warum – um Himmels Willen! – macht der das? Was treibt den dänischen Regisseur Lars von Trier immer wieder zur Konstruktion dieser religiös-psychotischen Angstwelten? Eine Frage, die man sich spätestens seit dem Film "Breaking the Waves" von 1996 stellt. Der einstweilen schlüssigste Versuch hielt es mit dem französischen Soziologen Alain Ehrenburg. Wie für das "erschöpfte Selbst" gelte auch für das Kino des Dänen: Wir haben es mit einem Gefühlsgemisch aus Überforderung, Angst und Fatalismus zu tun. Darum ist wohl auch bei Anna Bergmann, die in Oldenburg jetzt ihren Blick auf das Lars-von-Trier-Universum auf die Bühne brachte, die Kirche groß und die "beste aller möglichen Welten" naturgemäß eine schlechte.

Das Märchen vom Goldherz

Anna Bergmann lässt das Tor zum Gotteshaus erstmal zu. Auf dem schmalen Bühnenstreifen davor sitzt Bess (Rika Weniger). Ihr erscheint eine Puppe, oben Lamm, unten Mensch, an einem herzförmigen Luftballon. Und erzählt das Märchen vom Goldherz, einer skandinavischen Sterntaler-Variante. Goldherz ist so gut, dass es schließlich sogar sein Zentralorgan opfert. Bess spricht es mit, wie beim millionsten Durchgang durch die Kindereinschlafgeschichte. Später geht das Kirchentor auf, auf das Bess noch später in Teeniemanier ein Kreideherz und die Namen "Jan+Bess" zeichnet, um den ihrigen kurz vor Schluss wieder durchzustreichen.

Bergmann lässt ihrem Personal Raum für eine ebenso schnelle wie konfliktreiche Geschichte – hält es aber auf analytischer Distanz. Wir sehen die Welt, wie Bess sie sah, wie von Trier meinte, dass sie sie sehen sollte. Zu Beginn sind die Bilder groß und bunt und klingen nach Tanzen. Bess lernt den Bohrinselarbeiter Jan (Jens Ochlast) kennen. Sie verlieben sich. Und sogar der Rat der Ältesten, gleichsam die Exekutive des übergroßen Gotteshauses, stimmt beider Ehe zu. Im Schaum einer Blechbadewanne – mit "just married" an der Seite und Klapperbüchsen hinten dran – wird die Verbindung sexuell besiegelt.

Kurz drauf schleppt Bess einen Münzfernsprecher herbei, erbittet den Anruf ihres Gatten, der längst wieder im Öl-Einsatz ist. Vom Rang ruft er an, sie lüpft das Kleid. Doch die Helle ist nicht allein auf dieser Welt: Der Pfarrer (Hartmut Schories mit Soutane, Teetasse und gutem Timing) wird in dies Bild geblendet: "Ach, Bess. Es ist wegen Jan..." Ein Arbeitsunfall hinterlässt ihn querschnittsgelähmt. Blöderweise hat Bess für seine baldige Rückkehr gebetet. Und fühlt sich nun in der (Bring)Schuld, beiden gegenüber: ihrem Ehemann – vor allem aber dem Herrn. Zur Angst des Dogma gesellt sich die Überforderung der Sorge.

Verletzungen wie Wundmale

Neben der Lammpuppe führt und spricht die in schwarzem Gewand versteckte Puppenspielerin Claudia Acker auch eine Möwe, gibt Bess' Zwiegesprächen mit Gott Gesicht und Stimme. Und markiert deren Gottesfurcht. Jan bittet sie, mit anderen Männern zu schlafen – und ihm zu berichten. Ihr Gefängnis ist der Glaube. Der kann weder Berge noch Bohrinseln versetzen, ihr aber die Idee eingeben, jeder sexuelle Akt brächte nicht nur dem Gefühlsleben dem ans Bett gefesselten Gatten Erleichterung – Sex findet bekanntlich im Kopf statt – sondern trüge auch zu dessen leibhaftiger Genesung bei.

Folgerichtig schleppt sie schlussendlich die Verletzungen der ultimativen Vergewaltigung / Aufopferung wie Wundmale über die karg-schwarze Bühne. Worauf der wundergeheilte Jan in theodizeehaftem Schlussbild die Krücken weg wirft und, die tote Bess in weißem Tuch in die Arme schließend, verharrt wie eine Pietà. Feuerwerk (siehe Offenbarung, Kap. 13, Vers 13) aus dem Bühnenboden.

Doch nochmal zurück: Als Dr. Richardson – der Bess' psychiatrische Behandlung aber zunächst ablehnt – auf den Trichter kommt, die Glaubensfeste täten ihr nicht nur gut, geht er jenen auf den Grund. Gott gebe jedem Menschen ein Talent, berichtet Bess. Jan sei ein exzellenter Liebhaber (gewesen). Und Ihres? "Ich kann glauben!" Bergmann hat diesen Dialog kreuzweis' angeordnet. Von oben gesehen bilden Richardson, Bess' Schwägerin Dodo und Bess' Mutter den Pfosten, eine Linie von Bess, die am Bühnenrand steht, zu Jan, der hinter ihr reglos im Krankenbett liegt, den Balken.

Die Figuren selbst sind das Kreuz. Weil dem so ist, kann Bergmann ihren Figuren auch keine Erlösung zugestehen. Im Gegenteil offenbart sich in dieser Szene ihr Blick für die Relevanz des Stoffes, den sie – vielleicht sogar gegen von Trier – als tragische Verstrickung in Glaubenssätze liest. Die nicht auf Gott verweisen – sondern auf nur auf weitere Glaubenssätze.

 

Breaking the Waves
von Vivian Nielsen nach dem gleichnamigen Film vom Lars von Trier, Deutsch von Maja Zade
Regie und Bühne: Anna Bergmann, Kostüme: Claudia González Espíndola
Mit: Rika Weniger, Jens Olchast, Claudia Acker, Eva-Maria Pichler, Bernhard Hackmann, Gaby Pochert, Thomas Lichtenstein, Hartmut Schories

www.staatstheater.de


Die Regisseurin Anna Bergmann, 1978 geboren, inszenierte im November 2009 am Hamburger Thalia Theater Oscar Wildes Bunbury.

 

Kritikenrundschau

Regisseurin Anna Bergmann in ihrer Oldenburger Theater-Version des Lars-von-Trier-Films "Breaking the Waves" "gar nicht erst den Fehler, das Filmset nachzustellen", schreibt Karsten Krogmann in der Nord-West-Zeitung (15.2.2010). Stattdessen verlasse sie sich bei gänzlich kahler Bühne "ganz auf die Kraft der Geschichte – und auf ihre Bess, auf Rika Weniger". Dazu eine Windmaschine (ein Hubschrauber), drei Neonröhren (ein Krankenhausflur), vier Neonröhren im Quadrat (ein Krankenzimmer). Als "Dekoration für die großen Gefühle" lasse sie allein die "kluge Musikauswahl" Heiko Schnurpels zu. Wenigers Bess erzähle "mit jedem Augenaufschlag, jedem Lächeln, jeder Träne von der Liebe". Ihre "schauspielerische Wucht" reiße auch alle anderen Schauspieler mit, die sich "in Höchstform" prästierten – und neben dieser Bess doch "bloße Randfiguren" blieben. Krogmanns Fazit: "Wenn gutes Theater Theater ist, das einen nicht loslässt, das den Blick zwei Stunden lang zur Bühne zwingt, das Herzklopfen macht und einen bis nach Hause und in den Schlaf verfolgt, dann ist 'Breaking The Waves' ein Beispiel für gutes Theater. Ach was: für allerbestes Theater!"

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