Blindtext fürs Bildungsbürgertum

von Esther Boldt

Mannheim, 19. Februar 2010. Verdeckte Ermittlungen sind eine Supersache. Nur eins können sie bedingt gebrauchen: Öffentlichkeit. Nehmen wir den US-amerikanischen Geheimdienst, die Central Intelligence Agency, kurz CIA: Lässt sie sich in die Karten schauen, ist die Mission gesprengt. Oder eben die Zentrale Intelligenz Agentur, kurz ZIA – ein virtuelles Kollektiv von Kulturagenten.


In den letzten Jahren hat die ZIA den Kulturbetrieb genau beobachtet und diese Beobachtungen in erfolgreiche Manipulationen umgewandelt: 2006 gewann ihr Weblog riesenmaschine.de den Grimme Online Award für Kultur und Unterhaltung. Im gleichen Jahr erhielt eine maßgeschneiderte Erzählung der ZIA-Mitbegründerin Kathrin Passig den Ingeborg-Bachmann-Preis. Wer da spricht, wird stets verwischt, damit folgen die Agenten der vieluntersuchten Schwarmintelligenz auf den virtuellen Spielplätzen des Web 2.0.

Zwischen Genius und Kulturdienstleister

Nun hat das Nationaltheater Mannheim die Literaturdienstleister eingeladen, das "Erfolgsstück der Saison" zu schreiben, das bei allen Stückewettbewerben absahnen soll. Im Oktober 2009 präsentierten sie erste Markterhebungen in Power-Point, die Besucherzahlen und Kritikererfolge abbildeten. Nun zeigten Sebastian Sooth und Philipp Albers von ZIA beim "Werkstattgespräch" mit Schauspieldirektor Burkhard C. Kosminiski, seinem Stellvertreter Ingoh Brux und Hausautorin Ulrike Syha erste Szenen aus dem "Auftragswerk: Lorem Ipsum" – als Lorem Ipsum wird im Agenturgewerbe der Blindtext bezeichnet. Und sorgten für große Diskussionen über den Status des Theaterautors.

Denn er ist ja derzeit ein umstrittener Kandidat zwischen Genius und Kulturdienstleister, der wahlweise über- oder unterfördert wird. Doch konnte man sich des Verdachts nicht erwehren, dass hier eine Debatte um ihrer selbst willen geführt werden sollte, als subversives Ablenkungsmanöver, um zu verschleiern, dass es gar nicht um den künstlerischen Prozess ging, dessen Status Quo hier angeblich präsentiert wurde.

Auch im Stückentwurf geht es um Abschweifungen. Der handelt unter dem Arbeitstitel "Bin schon unterwegs" von Godot, er kapert Becketts Klassiker hinterrücks und erzählt, warum Godot es einfach nicht schafft zu seiner Verabredung mit Wladimir und Estragon.

Schwarmintelligenz mit zwölf Chinesen und einem Intendanten

Um es kurz zu machen: Im ersten Akt, erste Szene wird er von einer Telefonwarteschleife, seiner Vermieterin und einem dreiköpfigen Affen - hallo, Zitat! - aufgehalten. Im zweiten Akt, erste Szene sind es zwei ausgefuchste Herren von der GEZ. Die Hürden des Alltags, analysiert Albers, stellten sich mit der Zeit als ganzer Inhalt von Godots Leben heraus. Er stehe dem eigenen Fortkommen im Weg, weil er sich ständig ablenken ließe.

Das kommt einem bekannt vor, die Verstrickungen in den Multitasking-Versprechungen von Email, i-Phone, Facebook und Twitter. Kathrin Passig schreibt gerade an einem Fachbuch zum Thema Prokrastination. Trotzdem sind die von drei Schauspielern verlesenen Szenen banal und weder inhaltlich noch sprachlich besonders vielversprechend.
Und prompt hebt eine große Debatte an darüber, ob und wo es dem Text an Tiefe fehle, wie viel Alltag auf der Bühne zu ertragen sei und wann die Situationskomik wahlweise in Kindertheater, Studentenscherz oder Kabarett kippe. Auch Dramaturg Brux (Zeitgeist! Oberflächenproduktion! Intelligente Abbildung der Leere der Gegenwart!) und Intendant Kosminski ("Jetzt sehen Sie mal, wie unsere Dramaturgiesitzungen so ablaufen!") melden sich zu Wort. Erregt und engagiert artet die Veranstaltung aus, und man möchte von der Rückbank konstatieren: Hut ab für dieses gelungene Ablenkungsmanöver in aller Scheinöffentlichkeit! Ironie- und Verschleierungstaktiken sind voll aufgegangen.

Aller Diskurs ist Hurz

Wir haben gelernt (I): Witzigkeit kennt Grenzen, Sinnlosigkeit ist inakzeptabel, Bildungsbürgertum keine Schande und es muss doch was Höheres geben im Theater als diesen Alltagsschmarrn! Ob die Agenten daraus eine geeignete Strategie ableiten können?

Zur Geheimdienstthese passt auch, dass sie gar nicht über ihre Arbeitsweise sprechen möchten und lapidar anmerken, sie hätten zwölf Chinesen engagiert, die ihnen bei den Dialogen hülfen. Überhaupt interessiert es Albers gar nicht mehr, ein Erfolgsstück zu produzieren. Vielmehr gehe es doch jetzt darum, dem Beckett-Klassiker provokant und frivol auf die Pelle zu rücken. Andererseits: Was macht man mit dem Mülheimer Preisgeld, wenn man es durch eine unbekannte Anzahl von Autoren – 15, 40 oder 150 – teilen muss, von den zwölf Chinesen ganz zu schweigen? Das ist ein echtes Problem! Da ist das Kollektiv nicht mehr lukrativ!
Aller Diskurs ist Hurz, meint zumindest ein Herr im Publikum, der sich über die "verblasene Diskussion über den Tiefsinn im Theater" freut. Und der hartnäckig behauptet, das sei doch alles bloß Theater: "Die Aufführung findet hier und heute statt!"

Wir haben gelernt (II): Auch Geheimdienste können das theatrale Als-Ob gut gebrauchen.

 

Lorem Ipsum (UA)
Ein Auftragswerk von Zentrale Intelligenz Agentur
Mit: Mit Philipp Albers und Sebastian Sooth (Zentrale Intelligenz Agentur), Thorsten Danner, Luisa Stachowiak und Klaus Rodewald (Schauspieler), Ulrike Syha (Hausautorin), Brux (Moderation).

http://lorem-ipsum.posterous.com
www.nationaltheater-mannheim.de


Fragen, die zum Mannheimer Projekt führten, wurden unter anderem 2009 beim Schleudergang Dramatik in Berlin, aber auch 2008 schon von Joachim Lux in seinem Eröffnungvortrag zum Stückemarkt des Theatertreffens erörtert. Moritz Rinke kann ebenso ein Lied davon singen, wie der Protagonist von Nis-Momme Stockmanns neuem Drama Kein Schiff wird kommen – zeitgleich mit dem Mannheimer Blindtext am Schauspiel Stuttgart uraufgeführt.

 

 

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