Werkstatt statt Welttheater

von Dorothea Marcus

Freiburg, 21. Februar 2010. Wenn man heute vom Iran hört, denkt man meist an Wahlbetrug, eine brutal niedergeknüppelte Opposition, an ein Regime, das foltert und öffentlich hinrichten lässt, ein möglicherweise aggressives Atomprogramm. Kann man mit so einem Land überhaupt noch so etwas wie eine friedliche Theaterkooperation betreiben? Eine schwierige Frage, auch für das Theater im Marienbad in Freiburg. Freiburg ist die Partnerstadt der iranischen Stadt Isfahan, und seit rund sieben Jahren pflegt das Freiburger Kinder- und Jugendtheater auf gegenseitigen Gastspielen in Isfahan und Teheran den Kulturaustausch zwischen den Ländern.

Als die Freiburger "Parzival"-Inszenierung zu Beginn der Kooperation im Herbst 2003 in Teheran gastierte, war Hossein Parsai, der Leiter des "Dramatic Arts Center" in Teheran (eine Unterabteilung des iranischen Kultusministeriums), so tief beeindruckt, dass er den damaligen Intendanten Dieter Kümmel beauftragte, Ferdowsis "Shahnahme", das "Buch der Könige" zu inszenieren. Es sollte die erste völlig gleichberechtigte Koproduktion werden, mit iranischen und deutschen Schauspielern, Musikern, Bühnenbildnern – etwas, das etwa selbst Helena Waldmanns "Tentland" vor einigen Jahren nicht für sich beanspruchen konnte. Einen Deutschen an das heilige, große Nationalepos der Perser heranlassen, das hierzulande kaum bekannt ist? Ein kühnes Unterfangen, aber großzügig unterstützt von der Kulturstiftung des Bundes.

Der politischen Lage zum Trotz

Als Dieter Kümmel im Juni 2008 an einer schweren Krankheit starb, schien das Projekt mit ihm beerdigt zu sein. Doch die Stückfassung von Mohammed Charmshir und die Übersetzung von Alireza Morshed, die Schauspielersuche und vieles mehr waren schon so weit fortgeschritten, dass sich der Dramaturg und Regisseur Stephan Weiland entschloss, weiterzuarbeiten – trotz der sich verschärfenden politischen Situation. "Abbrechen wäre wohlfeil gewesen, eine Gutmenschgeste, die nichts bewirkt – immer noch gilt, dass da ein Fenster offengehalten wird, warum sollte man nicht weiter mit den Künstlern dort arbeiten, die ja keine Repräsentanten der Regierung sind?", sagt er.

Geprobt wurde mit je vier iranischen und deutschen Schauspielern, je vier Wochen im anderen Land, jeder spielt in seiner Sprache. Premiere war am 17. Januar diesen Jahres in Teheran – deutsche Journalisten waren nicht zugelassen und konnten erst am Samstag zur Freiburger Premiere kommen.

"Gott schneidet den Engeln die Köpfe ab"

Im "Buch der Könige" erzählte der persische Dichter Ferdowsi im 11. Jahrhundert die Geschichte Persiens. Sie verläuft von der mythischen Weltenschöpfung bis zum Ende der Sassaniden im 7. Jahrhundert in über 50.000 Doppelversen – weit mehr als die Epen Homers. Wie kann man so ein gewaltiges Werk auf die Bühne bringen? Stephan Weiland trifft eine grundlegende Entscheidung: Er inszeniert kein Welttheater, sondern eine Werkstatt, so karg, provisorisch und bescheiden wie möglich.

Die Bühne ist leer, bis auf einen braun-roten, verschlungen gemusterten Wandbehang, ein paar Koffer, eine Blechwanne, Holzstühle. Ein einsamer Cellospieler (Ankido Darash) stimmt sein Instrument, acht Schauspieler stehen, sitzen und lehnen sich an den Bühnenrand. Eine Frau angelt im Nichts, ein anderer spielt mit Totenschädeln, ein dritter filmt mit der Handkamera seine Kollegen. Die Kapitel des "Shahname" entwickeln sich aus Stille – und aus einer Probensituation.

Nur langsam kommen Geschichten in Gang. Zunächst werfen sich die Schauspieler poetisch-assoziative Satzfetzen zu, auf Farsi und auf Deutsch, die Übersetzung ist jeweils an den Wandbehang projiziert. Da wirkt manches fast wie eine ironische Replik auf die gegenwärtige Situation im Iran: "Wir haben beschlossen, dass die Welt, in der wir herrschen, voller Liebe, Freude und Gerechtigkeit sei", sagt einer der persischen Könige. "Gott sitzt im Himmel und schneidet den Engeln die Köpfe ab", sagt ein anderer.

Weißhaarige Krieger, Zaubervögel, Vater-Sohn-Konflikte

Kaum etwas hat die iranische Identität so geprägt wie das "Buch der Könige". Persische Sprache, Poesie, Schrift und Kultur berufen sich immer wieder auf sie, seine Mythen sind Iranern von Kindesbeinen an vertraut. Deutschen bleiben sie eher fremd, wenn sie das Programmheft nicht gelesen haben.

Ein Bündel wird auf die Bühne geworfen, darin ein Baby mit weißen Haaren. Weil es so fremd aussieht, lässt sein Vater es im Gebirge aussetzen. Es ist Zal, der, ähnlich wie Odysseus, fortan durch Raum und Zeit irrt und die Welt aus seiner Sicht erzählt, der Totenkopf ist sein Symbol. In der nächsten Szene ist er bereits ein alter Mann mit weißer Perücke, dann wieder ein unschuldiges, unwissendes Kind – die Perücke wandert immer wieder zu einem anderen Schauspieler. Aufgezogen und gerettet wird das alte Kind vom Vogel Simurgh, der ihm Federn mitgibt. In Gefahr kann Zal sie verbrennen. Die Geschichten um ihn entstehen mit einfachsten Mitteln: Die Schauspielerin, die sich in den Zaubervogel verwandelt, holt einfach Federmaske und Krallen-Krücken aus einem Koffer.

Als der Vater Rostam seinen Sohn Sohrab auf dem Schlachtfeld erschlägt, werden die Schauspieler wie Marionetten an Stöcken geführt, wie fremdgesteuerte Kampfmaschinen, blinde und dumpfe Krieger. Das Buch der Könige stellt sich dar als eine Abfolge von Schlachten und düsteren Vater-Sohn-Konflikten: Väter verstoßen oder erschlagen ihre Söhne, Söhne können den Ansprüchen ihrer Väter nie genügen oder werden fälschlich verdächtigt, sie mit ihren Frauen zu betrügen – wütend wirft Daniela Mohr als die den Sohn verführende Ehefrau des Vaters einen Schuh auf den widerstrebenden Sohn (Ashkan Khatibi), den sie anschließend aus Rache ins Verderben schickt.

Demut vor Komplexität

In Freiburg werden die Geschichten des "Shahnahme" allenfalls assoziativ angedeutet, niemals auserzählt – das lässt einen etwas unbefriedigt. Und doch ist es wohl die einzig angemessene Art, dem gewaltigen Epos zu begegnen: sich bescheiden und unprätentiös vor seiner Komplexität zu verneigen. Bewusst hat man die Inszenierung daher auch "Simurghs letzte Feder" genannt. Die Textfassung von Charmshir vermeidet konkrete Nacherzählung und macht das Stück eher zu einer poetischen Textfläche als zu einer politischen Parabel.

Immer wieder werden trotzdem Bezüge zur Gegenwart aufgemacht: Auf dem Wandbehang ziehen Bilder vom Stadtmoloch Teheran vorbei; die deutsche Schauspielerin Renate Obermeier vertraut ihre Zweifel, Ängste und Albträume während der Arbeit einem Anrufbeantworter in Teheran an; einmal wird sogar ein Stromausfall inszeniert – etwas, was während der vierwöchigen Probezeit in Teheran häufiger vorkam. Der Abend ist also mehr die Momentaufnahme eines fast unmöglichen Vorhabens. Und auch wenn dabei vieles sehr unkonkret bleibt und die Figuren den deutschen Zuschauern nicht unbedingt näher gebracht werden, entwickeln sich aus der Bescheidenheit heraus schwebend schöne Momente und entrückte Dialoge, besonders durch die konzentriert und mit großer Ausstrahlung agierenden vier Iraner.

Verstummen oder weiterarbeiten?

Und die politische Brisanz? Lässt man sich, wenn man die kulturelle Zusammenarbeit mit dem Iran fortsetzt, mittlerweile nicht von dessen menschenverachtendem Regime vereinnahmen? Im Programmheft liegt das Flugblatt von Exiliranern, die gegen das "propagandistische Kulturprojekt" wettern. Auch Regisseur Weiland hätte das Projekt in der heutigen politischen Lage wohl nicht begonnen – wenn nicht die Kontakte des Theaters im Marienbad zum Iran so viele Jahre zurückreichten.

Auch die iranischen Schauspieler beschäftigen sich damit, wie sie sich zu ihrer Regierung verhalten sollen – abgrenzen, verstummen, ins Exil gehen oder so gut wie möglich weiterarbeiten? Eine alte Frage in Deutschland. Die Darstellerin des Zaubervogels Simurgh, Simin Motamedarya, ist eine der bekanntesten Schauspielerinnen im Iran. Während der Proben wurde ihr der Reisepass entzogen, so dass sie beinahe nicht hätte mitspielen können. Kurz nach der Premiere, als "Simurghs letzte Feder" auf dem Teheraner Fadjr-Festival hätte gespielt werden sollen, boykottierte sie mit anderen Künstlern das Festival – und überließ ihre Rolle einer anderen. Das habe sich allerdings nur auf das Festival und die Kulturpolitik im Iran bezogen, so Simin Motamedarya. "Mit einer iranisch-deutschen Koproduktion macht man sich nicht zur Repräsentantin der Regierung – es ist zur Zeit sehr schwer, im Iran überhaupt jemanden zu finden, der für die Regierung ist, selbst in der Regierung selbst. Ich bin aber immer noch hier, um das Gute im Iran zu zeigen", sagt sie.

Simurghs letzte Feder
von Mohammed Charmshir nach dem persischen Nationalepos "Shahnahme" / "Das Buch der Könige"
Übersetzt von Alireza Morshed
Regie: Stephan Weiland, Künstlerische Beratung: Farhad Mohandespour, Bühne: Roland Spöderberg, Narmin Nazmi, Kostüme: Narmin Nazmi, Roland Söderberg, Sabine Steinort, Dramaturgie: Karolin Nedelmann, Wissenschaftliche Beratung: Alireza Morshed.
Mit: Negar Abedi, Ashkan Khatibi, Sebastian Menges, Daniela Mohr, Fatemeh Motamedarya, Renate Obermaier, Parviz Pourhosseini, Heinzl Spagl.

www.marienbad.org

 

Mehr über iranisches Theater finden Sie im nachtkritik-Archiv. Und anlässlich eines Gastspiels des Berliner Ensembles beim Fadjr-Theaterfestival Teheran 2008 diskutierte der iranerfahrene Dramatiker Claudius Lünstedt die Frage, ob Theater aus demokratischen Staaten in Diktaturen gastieren dürfen.

 

 

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