Denn wir wissen nicht, was er will

von Esther Slevogt

Berlin, 25. Februar 2010. Da sitzt man also wieder auf den weißen Seesäcken im mit schwarzer Plastikfolie komplett ausgekleideten Panzerkreuzer am Rosa-Luxemburg-Platz. Sitzt in Bert Neumanns Totalbühnenbild, das sämtliche Aufführungen dieser Volksbühnensaison einrahmt und den Zuschauer zum Teil der Inszenierung macht: als sich auf dem Boden fläzender, im Stellungskrieg um die bequemste Sitz- oder Liegeposition befindlicher Beobachter und temporärer Bewohner eines enormen Theaterasyls, der auf diesem Weg mit ins jeweils von den Verhältnissen gezeichnete Bild gepresst worden ist. Im vorliegenden Fall das vom hässlichen Deutschen, von dem man ja weiß, dass er auf dem Theater immer noch am besten aussieht. Erst recht in der Volksbühne, dieser letzten Bastion, die noch das Leiden an Deutschland als Kunstform betreibt.

Am Hindukusch wird die Komödie verteidigt

Eine Komödie steht auf dem Programm, die ein sehr trauriger deutscher Dichter schrieb. Weshalb die Komödie auch nicht besonders komisch ist, die Frank Castorf hier in Szene gesetzt hat. Da wird nämlich eine Familie zu Grunde gerichtet und das Leben einer jungen Frau zerstört. Und zwar von den titelgebenden Soldaten, womit ein mahnender Theaterzeigefinger auch direkt auf unser böses Heute und die deutschen Soldaten am Hindukusch weisen kann.

Allerdings steht das nur einmal kurz auf dem Leuchtbuchstabenband über der Szene. Sonst hätte man das gar nicht bemerkt. Auch deshalb nicht, weil die verlebten Pappkameraden, die uns hier als Soldateska vorgeführt werden, eher wie ältliche Gymnasiallehrer wirken, die sich als Therapie ihres Burn-Out-Syndroms Sex mit jungen Mädchen verordnet haben, aber nicht mal hier wirklich eine gute Figur machen können. Womit der Abend ein grundsätzliches Glaubwürdigkeitsproblem hat, eins, das im Grunde schon damit beginnt, dass der Plot des Dramas heute nicht mehr funktioniert, weil der Moralkodex nicht mehr existiert, der aus lebensgierigen jungen Frauen, die sich vorehelich mit Männern einlassen, naturgemäß sozial Geächtete macht.

In Goethes Verlies

Und so fängt das ganze Drama schon schief an: zwei schräge junge Frauen sitzen an einem Tisch. Die eine, Marie, an der Lenz sein tragisches Exempel statuieren wird, ist eine langbeinige, höchst schrille Beauty - halb Rokoko-Barbie, halb Olimpia, E.T.A. Hoffmanns mechanische Frau aus dem "Sandmann". Gespielt wird sie von der deutsch-russischen Schauspielerin Margarita Breitkreiz, die die hochpräzise, von geradezu mechanischer Schönheit geprägte Lenzsche Sprache musikalisch zerdehnt, harte Konsonanten so guttural weichspült, dass man sicher sein kann: diesen Künstlichkeitspanzer wird nicht das kleinste Unglück durchdringen.

Ein Eindruck, der sich beim Auftritt des blassen Verführers Desportes noch verstärkt – gespielt vom Schweizer Schauspieler Hans Schenker, der nicht nur in deutscher Sprache parlieren, sondern mitunter auch auf Französisch Comédie-Française-reif deklamieren kann – was aber dem Abend auch nicht wirklich weiter hilft, der sich mit großer Harmlosigkeit über dreieinhalb zähe Stunden zieht und so recht nicht verdeutlichen kann, was eigentlich sein Punkt sein soll. Geht es um die aufklärungsresistente Menschheit, die in blinder Glücksgier immer den falschen Weg einschlägt? Geht es ums Heute, ums Gestern, das Theater oder gar um Frank Castorf an sich?

Am Ende sitzt die Verführte als gefallenes Mädchen mit ihrer mitgefallenen Schwester (Ada Labahn) auf einem Strohsack, den sie sich aus Gretchens Verlies im Goetheschen Faust ausgeliehen hat. Goethe, der dem Lenz ebenso übel mitpielte, wie Faust seinem Gretchen. All diese Künstler-Egoisten aber auch.

Fürs staatliche Soldatenpuff

Und so sitzt man auf seinem Seesack bald auch als gefallener Zuschauer. Möchte so gerne ein Drama sehen, sieht aber keins. Weiß nicht mal, wieso dieses Mädchen hier eigentlich gefallen sein soll. Nur, damit sie am Ende mit sexy Corsage als fleischgewordene Männerfantasie über die Bühne laufen kann?

Dauernd kommen Bühnenarbeiter herein, die wie Bestattungsunternehmer gekleidet sind, und räumen klapprige Gestelle mit angetackerten Tapetenrollen auf der Szene hin und her, die am Ende dann leer ist. Es sitzen dort schließlich Volker Spengler als gütige Gräfin in blauer Robe, die mit dem verkalkten Obristen (Harald Warmbrunn) über eine Lösung der großen Probleme sinniert, die durch die Ehelosigkeit der Soldaten entstehen. Das hat sich schon rührend weltfremd Herr Lenz himself so ausgedacht, diese Pflanzschule für Soldatenfrauen, und seinem Landesherren auch höchstselbst genauso vorgeschlagen. Bei Castorf klingt das jetzt ein bisschen so, wie wenn bei Frank Plasberg ein paar schrille Talkshow-Probanden sitzen, und über die Probleme reden, die durch das Zölibat bei den Jesuiten entstehen.

Die Sensation

Man muss allerdings anmerken, dass der Abend auch seine Highlights hat: Bärbel Bolle als zirpendes Muttermassiv in wallenden Gewändern. Mex Schlüpfer als woyzeckhafter Stolzius, der immer rasender in seiner Ohnmacht wird, sich aber leider an Frank Sinatras abgelutschter Hymne "I did it my way" abarbeiten muss, bevor er mit dem Verführer seiner Marie, mit Desportes in den Tod gehen darf.

Und dann Sir Henry am Klavier und die israelische Sopranistin Ruth Rosenfeld, denen dieser Abend eigentlich gehört, in den Castorf - neben Kurt Weill, Rolling Stones oder fröhlichem Liedgut von NVA und Volkspolizei - immer wieder Passagen aus Bernd Alois Zimmermanns Oper nach dem Lenz-Schauspiel eingeschoben hat. Die Verve, Ironie und Virtuosität, mit der beide hier agieren, ist die einzige Sensation an diesem Abend, der bei jedem ihrer Auftritte abhebt. Aber wieder abstürzt, kaum dass sie verschwunden sind.

 

 

Die Soldaten
von Jakob Michael Reinhold Lenz
Inszenierung: Frank Castorf, Bühne: Bert Neuman, Edwin Bustamante, Kostüme: Adriana Braga, Musikalische Leitung: Sir Henry.
Mit: Kurt Naumann, Bärbel Bolle, Margarita Breitkreiz, Ada Labahn, Mex Schlüpfer, Hans Schenker, Harald Warmbrunn, Frank Büttner, Axel Wandtke, Henry Krohmer, Ruth Rosenfeld, Uwe Dag Berlin, Volker Spengler, Bon Park und Ruth Rosenfeld (Sopran, Gitarre) sowie Sir Henry.

www.volksbuehne-berlin.de

 

Mehr zu Frank Castorf und Jakob Michael Reinhold Lenz: die Kritik der Hofmeister-Premiere in Zürich im Januar, außerdem gibt es mehr zu Frank Castorf in unserem entsprechenden Glossareintrag.

 

Kritikenrundschau

Eberhard Sprengs Hauptkritikpunkt an der Inszenierung ist, dass die Figuren "drei Stunden lang keine Entwicklung durchmachen". Auf der Webseite von Deutschlandradio Kultur (25.2.2010) schreibt er außerdem, es sei "erstaunlich, was Frank Castorf in der gegenwärtigen politischen Gemengelage alles nicht inszeniert", weder "Ekelrituale von Gebirgsjägercorps", noch "Afghanistan-Entgleisungen" oder "Abu-Ghraib-Skandale". Stattdessen das Stück "fast geradlinig von Anfang bis Ende". Aber es handele sich eben um ein "Theater, das auf der Stelle tritt und dabei laut schreit und keift". Denn trotz Mex Schlüpfers "I did it my way" als Stolzius habe "keine der Figuren (...) eine Chance (...) irgendetwas auf eigene Art und Weise zu erleben".

Wie die "von einem Bauerntheater aufgeführte Imitation einer Castorf-Inszenierung" wirkt der Volksbühnenabend auf Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (27.2.2010). Man sehe immer noch "Spuren von Castorfs Talent", ahne, was für ein toller Abend das mit guten Schauspielern hätte werden können. "Aber die Laienspielschar aus aufgedunsenen Zombies und routinierten Langweilern serviert die Szenen mit einer Müdigkeit, die sich dann auch zügig der auf Seesäcken im Parkett gelagerten Zuschauern bemächtigt." Alles, was hier aus Sicht des Kritikers dringend nötig wäre, fehlt, nämlich "Leichtigkeit, Tempo, Spielintelligenz". Stattdessen gebe es ziellos ausgewalzte Szenen, Selbstzitate und nackte Männer. Große Ausnahme sei die Opernsängerin Ruth Rosenfeld, "die nicht nur, am Flügel begleitet vom kongenialen Volksbühnen-Musiker Sir Henry Passagen aus Bernd Alois Zimmermanns Oper "Die Soldaten" singt, sondern in ihren überdrehten Tanzeinlagen genau die Dosis Spielfreude, Übermut und Aberwitz hat, die dem Restensemble fehlt."

Die Volksbühnenskandale dieser Spielzeit seien eher orthopädischer Natur, schreibt mit Bick auf Bert Neumanns Sitzseesäcke Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel (27.2.2010). Denn auch Castorfs jüngste Inszenierung lasse den "stur vor sich hinrostenden Volksbühnepanzer" nicht besser aussehen. Das militärische Sujet des Stücks "das Castorf nicht inszeniert hat" fand Schaper eher peinlich als sinnfällig aktualisiert. "Es läuft dann eben auf die alte Übung tumbe Männer gegen hysterische Frauen hinaus. Margarita Breitkreiz als Marie, Ada Labahn als ihre Schwester Charlotte: Die wievielte Generation aufgekratzter Volksbühnen-Girls in Dessous ist das eigentlich schon? Die Frauen kreischen und hüpfen, die Herren Offiziere hocken rum, und fertig ist die Laube. Fix und fertig." Doch gebe es in dieser Inszenierung noch eine stille Linie. "Wie Kurt Naumann Maries Vater spielt, der vor Angst um seine scharfe Tochter fast vergeht und sie selbst den Säbeltigern zum Fraß vorwirft – das berührt. Und es geht ans Herz, wie Bärbel Bolle – wie lange hat man sie nicht auf der Bühne gesehen – die beiden Mutterrollen fast verstummend trägt, erträgt. Das ist schön, das ist ein anderes Theater, in dem man fühlen und denken und Text hören kann. Und wie am Ende Harald Warmbrunn, der Obrist, dasitzt, wortlos, vielleicht eine halbe Stunde lang, und wie es dann mit Todesverachtung aus ihm heraustropft: 'Die letzten zwanzig Minuten haben mich zehn Jahre älter gemacht.' Szenenapplaus, Gegröle. Der Satz bedeutet, in Volksbühnen-Zeit übersetzt: Die letzten fünf Jahre haben uns alle zwanzig Jahre älter gemacht."

"Also worum geht es Frank Castorf?", fragt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (27.2.2010), dem der Abend selbst diese Frage nicht beantworten kann. "Es ist nämlich so: Wenn Castorf sich für etwas interessiert, dann geht er darin verloren. Dann gibt es auf den ohnehin wenigen Proben viel virtuoses Assoziationspalaver. Es lassen sich von diesen Assoziationen aus vielleicht interessante Bögen zum Stück schlagen, aber in der Inszenierung bleibt von der Verzweiflung des Dichters nur ein spätes, irres Lenz-Textchen und von Afghanistan lediglich eine Leuchtschrift-Erwähnung: 'Kameradschaftsabend am Hindukusch'. An welchen Haaren etwa der schneidig in den Raum gerufene Satz 'Arbeit macht frei' herbeigezogen wurde, hat der Meister vielleicht schon selber wieder vergessen. Nur damit sich Margarita Breitkreiz so schön erschrocken umgucken kann?" Margarita Breitkreiz, die den Kritiker an eine "aufreizend unkoordinierte Stabheuschrecke mit Perücke" erinnert.

Für Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.2.2010) hat die Aufführung schon früh "jedes kreative Prickeln und fast allen Humor" verloren. Lediglich die von Ruth Rosenfeld und Sir Henry präsentierten "Tonschnipsel" aus Bernd Alois Zimmermanns gleichnamiger Oper verschaffen der Kritikerin "wirklich eine Ahnung von den Abgründen und Scheußlichkeiten", die dem Stück seine Relevanz verleihen würden.

Der Dramatiker Lenz habe "keine Hoffnung ins Theater implantieren" wollen, schreibt Jürgen Otten in der Frankfurter Rundschau (1.3.2010), vielmehr wolle er "die Menschen so zeigen, wie sie sind: prosaisch. Damit man ihm aber nicht sogleich auf die Schliche käme, nannte er sein Stück 'Die Soldaten' eine Komödie." Otten vermutet, dass Frank Castorf "gerade daran Gefallen" gefunden habe: "Am Prosaischen und am Genre. Denn beides liegt ihm." Manchen Zeitgenossen möge es "erstaunen, aber wir erleben, von winzigen Ausnahmen abgesehen, die aber so deftig und/oder witzig sind, dass sie den Fluss nicht stören, das Original - eine Komödie von der Schlechtigkeit der Soldaten, die als Menschen zur Welt kamen, dann aber unter Waffen herzlos wurden. Der Dialektiker Castorf zeigt sie als Narren (...) sie alle wirken in ihrer Manie(r) des zynisch Räsonierens einfach nur ridikül." Castorf habe mit dieser Aufführung eindrucksvoll bestätigt, dass er in der Kunst, "das Stück im Licht der Geschichte zu brechen und das Wesentliche durch die Überbetonung des Unwesentlichen zu etablieren", unerreicht sei.

 

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