Denn wir wissen nicht, was er will

von Esther Slevogt

Berlin, 25. Februar 2010. Da sitzt man also wieder auf den weißen Seesäcken im mit schwarzer Plastikfolie komplett ausgekleideten Panzerkreuzer am Rosa-Luxemburg-Platz. Sitzt in Bert Neumanns Totalbühnenbild, das sämtliche Aufführungen dieser Volksbühnensaison einrahmt und den Zuschauer zum Teil der Inszenierung macht: als sich auf dem Boden fläzender, im Stellungskrieg um die bequemste Sitz- oder Liegeposition befindlicher Beobachter und temporärer Bewohner eines enormen Theaterasyls, der auf diesem Weg mit ins jeweils von den Verhältnissen gezeichnete Bild gepresst worden ist. Im vorliegenden Fall das vom hässlichen Deutschen, von dem man ja weiß, dass er auf dem Theater immer noch am besten aussieht. Erst recht in der Volksbühne, dieser letzten Bastion, die noch das Leiden an Deutschland als Kunstform betreibt.

Am Hindukusch wird die Komödie verteidigt

Eine Komödie steht auf dem Programm, die ein sehr trauriger deutscher Dichter schrieb. Weshalb die Komödie auch nicht besonders komisch ist, die Frank Castorf hier in Szene gesetzt hat. Da wird nämlich eine Familie zu Grunde gerichtet und das Leben einer jungen Frau zerstört. Und zwar von den titelgebenden Soldaten, womit ein mahnender Theaterzeigefinger auch direkt auf unser böses Heute und die deutschen Soldaten am Hindukusch weisen kann.

Allerdings steht das nur einmal kurz auf dem Leuchtbuchstabenband über der Szene. Sonst hätte man das gar nicht bemerkt. Auch deshalb nicht, weil die verlebten Pappkameraden, die uns hier als Soldateska vorgeführt werden, eher wie ältliche Gymnasiallehrer wirken, die sich als Therapie ihres Burn-Out-Syndroms Sex mit jungen Mädchen verordnet haben, aber nicht mal hier wirklich eine gute Figur machen können. Womit der Abend ein grundsätzliches Glaubwürdigkeitsproblem hat, eins, das im Grunde schon damit beginnt, dass der Plot des Dramas heute nicht mehr funktioniert, weil der Moralkodex nicht mehr existiert, der aus lebensgierigen jungen Frauen, die sich vorehelich mit Männern einlassen, naturgemäß sozial Geächtete macht.

In Goethes Verlies

Und so fängt das ganze Drama schon schief an: zwei schräge junge Frauen sitzen an einem Tisch. Die eine, Marie, an der Lenz sein tragisches Exempel statuieren wird, ist eine langbeinige, höchst schrille Beauty - halb Rokoko-Barbie, halb Olimpia, E.T.A. Hoffmanns mechanische Frau aus dem "Sandmann". Gespielt wird sie von der deutsch-russischen Schauspielerin Margarita Breitkreiz, die die hochpräzise, von geradezu mechanischer Schönheit geprägte Lenzsche Sprache musikalisch zerdehnt, harte Konsonanten so guttural weichspült, dass man sicher sein kann: diesen Künstlichkeitspanzer wird nicht das kleinste Unglück durchdringen.

Ein Eindruck, der sich beim Auftritt des blassen Verführers Desportes noch verstärkt – gespielt vom Schweizer Schauspieler Hans Schenker, der nicht nur in deutscher Sprache parlieren, sondern mitunter auch auf Französisch Comédie-Française-reif deklamieren kann – was aber dem Abend auch nicht wirklich weiter hilft, der sich mit großer Harmlosigkeit über dreieinhalb zähe Stunden zieht und so recht nicht verdeutlichen kann, was eigentlich sein Punkt sein soll. Geht es um die aufklärungsresistente Menschheit, die in blinder Glücksgier immer den falschen Weg einschlägt? Geht es ums Heute, ums Gestern, das Theater oder gar um Frank Castorf an sich?

Am Ende sitzt die Verführte als gefallenes Mädchen mit ihrer mitgefallenen Schwester (Ada Labahn) auf einem Strohsack, den sie sich aus Gretchens Verlies im Goetheschen Faust ausgeliehen hat. Goethe, der dem Lenz ebenso übel mitpielte, wie Faust seinem Gretchen. All diese Künstler-Egoisten aber auch.

Fürs staatliche Soldatenpuff

Und so sitzt man auf seinem Seesack bald auch als gefallener Zuschauer. Möchte so gerne ein Drama sehen, sieht aber keins. Weiß nicht mal, wieso dieses Mädchen hier eigentlich gefallen sein soll. Nur, damit sie am Ende mit sexy Corsage als fleischgewordene Männerfantasie über die Bühne laufen kann?

Dauernd kommen Bühnenarbeiter herein, die wie Bestattungsunternehmer gekleidet sind, und räumen klapprige Gestelle mit angetackerten Tapetenrollen auf der Szene hin und her, die am Ende dann leer ist. Es sitzen dort schließlich Volker Spengler als gütige Gräfin in blauer Robe, die mit dem verkalkten Obristen (Harald Warmbrunn) über eine Lösung der großen Probleme sinniert, die durch die Ehelosigkeit der Soldaten entstehen. Das hat sich schon rührend weltfremd Herr Lenz himself so ausgedacht, diese Pflanzschule für Soldatenfrauen, und seinem Landesherren auch höchstselbst genauso vorgeschlagen. Bei Castorf klingt das jetzt ein bisschen so, wie wenn bei Frank Plasberg ein paar schrille Talkshow-Probanden sitzen, und über die Probleme reden, die durch das Zölibat bei den Jesuiten entstehen.

Die Sensation

Man muss allerdings anmerken, dass der Abend auch seine Highlights hat: Bärbel Bolle als zirpendes Muttermassiv in wallenden Gewändern. Mex Schlüpfer als woyzeckhafter Stolzius, der immer rasender in seiner Ohnmacht wird, sich aber leider an Frank Sinatras abgelutschter Hymne "I did it my way" abarbeiten muss, bevor er mit dem Verführer seiner Marie, mit Desportes in den Tod gehen darf.

Und dann Sir Henry am Klavier und die israelische Sopranistin Ruth Rosenfeld, denen dieser Abend eigentlich gehört, in den Castorf - neben Kurt Weill, Rolling Stones oder fröhlichem Liedgut von NVA und Volkspolizei - immer wieder Passagen aus Bernd Alois Zimmermanns Oper nach dem Lenz-Schauspiel eingeschoben hat. Die Verve, Ironie und Virtuosität, mit der beide hier agieren, ist die einzige Sensation an diesem Abend, der bei jedem ihrer Auftritte abhebt. Aber wieder abstürzt, kaum dass sie verschwunden sind.

 

 

Die Soldaten
von Jakob Michael Reinhold Lenz
Inszenierung: Frank Castorf, Bühne: Bert Neuman, Edwin Bustamante, Kostüme: Adriana Braga, Musikalische Leitung: Sir Henry.
Mit: Kurt Naumann, Bärbel Bolle, Margarita Breitkreiz, Ada Labahn, Mex Schlüpfer, Hans Schenker, Harald Warmbrunn, Frank Büttner, Axel Wandtke, Henry Krohmer, Ruth Rosenfeld, Uwe Dag Berlin, Volker Spengler, Bon Park und Ruth Rosenfeld (Sopran, Gitarre) sowie Sir Henry.

www.volksbuehne-berlin.de

 

Mehr zu Frank Castorf und Jakob Michael Reinhold Lenz: die Kritik der Hofmeister-Premiere in Zürich im Januar, außerdem gibt es mehr zu Frank Castorf in unserem entsprechenden Glossareintrag.

 

Kritikenrundschau

Eberhard Sprengs Hauptkritikpunkt an der Inszenierung ist, dass die Figuren "drei Stunden lang keine Entwicklung durchmachen". Auf der Webseite von Deutschlandradio Kultur (25.2.2010) schreibt er außerdem, es sei "erstaunlich, was Frank Castorf in der gegenwärtigen politischen Gemengelage alles nicht inszeniert", weder "Ekelrituale von Gebirgsjägercorps", noch "Afghanistan-Entgleisungen" oder "Abu-Ghraib-Skandale". Stattdessen das Stück "fast geradlinig von Anfang bis Ende". Aber es handele sich eben um ein "Theater, das auf der Stelle tritt und dabei laut schreit und keift". Denn trotz Mex Schlüpfers "I did it my way" als Stolzius habe "keine der Figuren (...) eine Chance (...) irgendetwas auf eigene Art und Weise zu erleben".

Wie die "von einem Bauerntheater aufgeführte Imitation einer Castorf-Inszenierung" wirkt der Volksbühnenabend auf Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (27.2.2010). Man sehe immer noch "Spuren von Castorfs Talent", ahne, was für ein toller Abend das mit guten Schauspielern hätte werden können. "Aber die Laienspielschar aus aufgedunsenen Zombies und routinierten Langweilern serviert die Szenen mit einer Müdigkeit, die sich dann auch zügig der auf Seesäcken im Parkett gelagerten Zuschauern bemächtigt." Alles, was hier aus Sicht des Kritikers dringend nötig wäre, fehlt, nämlich "Leichtigkeit, Tempo, Spielintelligenz". Stattdessen gebe es ziellos ausgewalzte Szenen, Selbstzitate und nackte Männer. Große Ausnahme sei die Opernsängerin Ruth Rosenfeld, "die nicht nur, am Flügel begleitet vom kongenialen Volksbühnen-Musiker Sir Henry Passagen aus Bernd Alois Zimmermanns Oper "Die Soldaten" singt, sondern in ihren überdrehten Tanzeinlagen genau die Dosis Spielfreude, Übermut und Aberwitz hat, die dem Restensemble fehlt."

Die Volksbühnenskandale dieser Spielzeit seien eher orthopädischer Natur, schreibt mit Bick auf Bert Neumanns Sitzseesäcke Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel (27.2.2010). Denn auch Castorfs jüngste Inszenierung lasse den "stur vor sich hinrostenden Volksbühnepanzer" nicht besser aussehen. Das militärische Sujet des Stücks "das Castorf nicht inszeniert hat" fand Schaper eher peinlich als sinnfällig aktualisiert. "Es läuft dann eben auf die alte Übung tumbe Männer gegen hysterische Frauen hinaus. Margarita Breitkreiz als Marie, Ada Labahn als ihre Schwester Charlotte: Die wievielte Generation aufgekratzter Volksbühnen-Girls in Dessous ist das eigentlich schon? Die Frauen kreischen und hüpfen, die Herren Offiziere hocken rum, und fertig ist die Laube. Fix und fertig." Doch gebe es in dieser Inszenierung noch eine stille Linie. "Wie Kurt Naumann Maries Vater spielt, der vor Angst um seine scharfe Tochter fast vergeht und sie selbst den Säbeltigern zum Fraß vorwirft – das berührt. Und es geht ans Herz, wie Bärbel Bolle – wie lange hat man sie nicht auf der Bühne gesehen – die beiden Mutterrollen fast verstummend trägt, erträgt. Das ist schön, das ist ein anderes Theater, in dem man fühlen und denken und Text hören kann. Und wie am Ende Harald Warmbrunn, der Obrist, dasitzt, wortlos, vielleicht eine halbe Stunde lang, und wie es dann mit Todesverachtung aus ihm heraustropft: 'Die letzten zwanzig Minuten haben mich zehn Jahre älter gemacht.' Szenenapplaus, Gegröle. Der Satz bedeutet, in Volksbühnen-Zeit übersetzt: Die letzten fünf Jahre haben uns alle zwanzig Jahre älter gemacht."

"Also worum geht es Frank Castorf?", fragt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (27.2.2010), dem der Abend selbst diese Frage nicht beantworten kann. "Es ist nämlich so: Wenn Castorf sich für etwas interessiert, dann geht er darin verloren. Dann gibt es auf den ohnehin wenigen Proben viel virtuoses Assoziationspalaver. Es lassen sich von diesen Assoziationen aus vielleicht interessante Bögen zum Stück schlagen, aber in der Inszenierung bleibt von der Verzweiflung des Dichters nur ein spätes, irres Lenz-Textchen und von Afghanistan lediglich eine Leuchtschrift-Erwähnung: 'Kameradschaftsabend am Hindukusch'. An welchen Haaren etwa der schneidig in den Raum gerufene Satz 'Arbeit macht frei' herbeigezogen wurde, hat der Meister vielleicht schon selber wieder vergessen. Nur damit sich Margarita Breitkreiz so schön erschrocken umgucken kann?" Margarita Breitkreiz, die den Kritiker an eine "aufreizend unkoordinierte Stabheuschrecke mit Perücke" erinnert.

Für Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.2.2010) hat die Aufführung schon früh "jedes kreative Prickeln und fast allen Humor" verloren. Lediglich die von Ruth Rosenfeld und Sir Henry präsentierten "Tonschnipsel" aus Bernd Alois Zimmermanns gleichnamiger Oper verschaffen der Kritikerin "wirklich eine Ahnung von den Abgründen und Scheußlichkeiten", die dem Stück seine Relevanz verleihen würden.

Der Dramatiker Lenz habe "keine Hoffnung ins Theater implantieren" wollen, schreibt Jürgen Otten in der Frankfurter Rundschau (1.3.2010), vielmehr wolle er "die Menschen so zeigen, wie sie sind: prosaisch. Damit man ihm aber nicht sogleich auf die Schliche käme, nannte er sein Stück 'Die Soldaten' eine Komödie." Otten vermutet, dass Frank Castorf "gerade daran Gefallen" gefunden habe: "Am Prosaischen und am Genre. Denn beides liegt ihm." Manchen Zeitgenossen möge es "erstaunen, aber wir erleben, von winzigen Ausnahmen abgesehen, die aber so deftig und/oder witzig sind, dass sie den Fluss nicht stören, das Original - eine Komödie von der Schlechtigkeit der Soldaten, die als Menschen zur Welt kamen, dann aber unter Waffen herzlos wurden. Der Dialektiker Castorf zeigt sie als Narren (...) sie alle wirken in ihrer Manie(r) des zynisch Räsonierens einfach nur ridikül." Castorf habe mit dieser Aufführung eindrucksvoll bestätigt, dass er in der Kunst, "das Stück im Licht der Geschichte zu brechen und das Wesentliche durch die Überbetonung des Unwesentlichen zu etablieren", unerreicht sei.

 

Kommentare  
LenzCastorfs Soldaten: Castorf ist Desportes
Ist doch klar, daß das nichts werden kann. Castorf will Lenz sein, ist aber Desportes. Und wer schielt kann nun mal den Horizont nicht sehen.
LenzCastorfs Soldaten: Dauer 3:08
Das Stück hat 3:08 gedauert. Nicht über 3:30.
LenzCastorfs Soldaten: ja, Desportes
das finde ich einen sehr geistreichen kommentar.
derselbe gedanke drängte sich mir beim lesen des castorf interviews auch auf,
LenzCastorfs Soldaten: wann nur noch Oper
Wann entschließt sich Frank Castorf endlich nur noch Oper zu machen, dann muss man nicht 3,5 Stunden leiden, sondern kann tatsächlich glückselig nach 2 Stunden ohne Kreuzschmerzen das Theater verlassen. Aber das Leiden gehört eben bei Castorf immer dazu.
Vielen Dank trotzdem an Ruth Rosenfeld und Sir Henry. Das war wirkliche Komödie.
LenzCastorfs Soldaten: Theatersessel anderswo
mit verlaub gesagt, denke ich, dass dies eine der einfach gestricktesten kritiken ist, die ich je las! sicherlich, theater muss auf verschiedenen menschen unterschiedlich wirken. aber bei DIE SOLDATEN muss man doch darüber sprechen, wie castorf in einer skizzenhaften art und weise bühnenräume schafft, die ein welt in auflösung beschreiben. dieser zustand, der haltlos gewordenen bürgerlichen welt, die sich an letzte strohhalme klammert und dennoch stürzt, ist eine meinetwegen dreistündige zustandsbeschreibung, die mir (ganz subjektiv) unglaublich viel erzählt. neuentdeckungen sind bei den schauspielern zu machen, wie hans schenker, und die ewige seesackdiskussion ist nun wirklich fad. es ist bequem, es ist anders, es ist volksbühne, auf theatersesseln kann man in der ganzen republik sitzen, die sind nach 3 stunden eben auch nicht bequemer, aber darum kann es doch auch gar nicht gehen, oder doch...am ende...ist theater so klein?
LenzCastorfs Soldaten: gefühlte Stoppuhr
@ Ichwarda
Hallo liebe Stoppuhr,
es waren 3:25 inkl. für Volksbühnenverhältnisse schmalem Beifall, aber gefühlt mindestens 4 Stunden.
LenzCastorfs Soldaten: Verteidigung der eigenen Biografie
Herr Krauss, wo haben Sie denn die bürgerliche Welt in Auflösung gesehen? Ich habe nur eine Inszenierung in Auflösung gesehen, die nicht so recht auf den Punkt kommen wollte. Es ging hier um die Verteidigung der Geilheit und der Behauptung von Desportes, dass alle Frauen Huren sind. Eine bürgerliche Welt wurde da gar nicht verhandelt, sondern höchstens denunziert aus der Perspektive eines Künstlerfürsten, der versucht hat gegen Lenz die eigene Biografien zu verteidigen und deswegen mit seiner Inszenierung gescheitert ist.
LenzCastorfs Soldaten: Fallhöhe Doppelstockbett
Die Kritik trifft es ziemlich genau. Kein Leid nirgends, null Fallhöhe außer aus Doppelstockbetten. Eine Welt in Auflösung, ja so kann man es noch ganz gut beschreiben. Aber wozu, auf was spielt das an? Der Kameradschaftsabend am Hindukusch. Was soll das sein? 15 min. zur aktuellen Politik, verpufft durch rumsitzen. Das Deklamieren aus Lenz Briefen in Russland, ganz amüsant, bringt aber auch nicht weiter. Der Rest ist Klamauk, allerdings wie immer ganz gut in Szene gesetzt von tollen Schauspielern, ohne die Castorfs Theater nicht mehr funktionieren würde.
LenzCastorfs Soldaten: kraftlose Schauspieler
@stefan: tolle schauspieler? um gotteswillen - wen meinen sie???? es fehlt eine überzeugende schauspielerische leistung, vielleicht einige momente der margarita breitkreiz die anscheinend die neue jeanette spassova sein soll - ansonsten schauspielende laien und kraftlose schauspieler, die in die jahre gekommen nur noch herumsitzen und texte aufsagen... schrecklich.
LenzCastorfs Soldaten: die tragenden fehlen
Ich meine natürlich die typischen Castorfschen Schauspieler. Das funktioniert so nur an der Volksbühne. Der Dilettantismus ist Konzept. Daran darf man sich nicht stören. Allerdings fehlen seit einiger Zeit auch Schauspieler, die das wirklich gut umsetzen und ganze Inszenierungen tragen können. Ich möchte hier keine Namen nennen. Aber jeder weiss sicher, wen ich meine.
LenzCastorfs Soldaten: Häppchen für Männer am Hindukusch
die hindukusch-szene war ein persönliches highlight von mir. ich habe männer gesehen, die irgendwo auf der welt rumsitzen, dumpf werden und denen man "kulturelle häppchen" bietet, damit man ihnen das gefühl vermittelt, dass sie weiter am "leben" teilhaben. sie wissen nicht, wie ihnen geschieht und was das soll, aufbegeheren können sie schon gar nicht mehr, dann glotzen sie eben die frau an, die da wunderschön auftaucht, auch wenn sie mit kunst alle nichts am hut haben. ein tolles bild, das viel erzählt, wenn man zuhören will. wenn nicht, bleibts eben unerzählt.
LenzCastorfs Soldaten: Frau und Kind zuhause
Interessant wäre es ja mal zu erfahren, ob es tatsächlich so was wie Truppenbetreuung in Afghanistan gibt, so wie früher Lili Marleen z.B., oder ob die Soldaten, wie im Programmheft berichtet, nur saufen, weil sie nicht raus kommen. Dann passt das Bild natürlich gut. Dann ist das aber trotzdem nur eine Aussage in Bezug auf die Geilheit von Soldaten im kasernierten Zustand. Hat das jetzt noch was mit Lenz zu tun? Will Castorf Freudenhäuser am Hindukusch, oder vermutet er dort sogar welche? Die Frage ist doch eher, was machen die Soldaten überhaupt da? Die meisten haben eh Frauen und Kinder zu Hause. Also das ist für mich hier die falsche Fragestellung.
LenzCastorfs Soldaten: gegen verplüschte Gegenwart
geht es hier um den abend, um theater oder um alte geschichten und platzverweise. ich sah und durchlitt gleichberechtigt einen wunderbaren, dekonstruktiven, rauschhaften, bitterbös, nackt romatischen, deutschen, mutigen wie natürlich auch im besten sinne müden abend - von allem etwas - mit wunderbaren schauspielern, feinen nuancen wie groben plattitüden, kunsträumen, die sich im gesamt ergeben und keines aller teile entbehren können. da gibt es nicht gut oder schlecht, denn das eine bedingt das andere und kann ohne den gegenpart nicht sein. schauspielerisch sehr gut wenn man genau hingeschaut hat, wer will das können schlecht reden, weil ihm die regie nicht schmeckt, wer will denunzieren weil nicht mehr blutjung, kann nur gut oder überhaupt gespielt, werden wenn man faltenfrei und unter 30 ist? um dann die, die gar nicht mehr spielen oder besonders laut schreien, nur noch sind, als große könner zu huldigen, statt ihr beeindruckendes sein zu beschreiben. zerfall in sprache, gesten, bild, bühne und klang. alles hier ein bißchen simpel beschimpft und beschrieben. warum geht jemand der blümchentheater erwartet überhaupt dorthin? es geht um ganz besonderes theater, provozierend, im wörtlichen sinne unbequem und denjenigen ein kunstwerk eröffnend, die sich einlassen wollen. ich sah gutes theater und harte arbeit, dilletantismus schimpft sich leicht von jenen, die nicht wissen, was sich dahinter an arbeit, an gekonntem mißklang verbirgt.
wir sollten glücklich sein, solches theater zu haben als gegengewicht, als abbbild, als denkanstoß zu allen verplüschten gedankenlosigkeiten der gegenwart. und wer nicht will, der muß ja nicht rein. ich bin froh, es gesehen zu haben.
LenzCastorfs Soldaten: das beste an der hindukusch-szene
das beste an der hindukusch-szene war, dass sir henry und ruth rosenfeld diesen dümmlichen interpretationsrahmen gar nicht brauchten, um sensationell rüberzukommen. ansonsten blieb das bild eine reine behauptung, die man noch nicht mal verstand, wenn man nicht aus versehen den szenenhinweis auf dem leuchttafel gesehen hätte. die kostümieren war ja auch mehr was für zugereiste karnevalisten aus bonn.
LenzCastorfs Soldaten: mit Kultur berauschen lassen
Man kann sich nicht im schicken Premierenkleidchen in schicke Theatersesselchen setzen, hübsche, sprechende Menschlein anschauen und angenehme zwei Stündchen mit Kultur berauschen lassen, bevor man mit Sekt und Sushi den allen Regeln der culturell correcness entsprechenden Abend ausklingen lässt. Im wahrsten Sinne des Wortes muß man die A...backen zusammenkneifen auf weißen Säcken, selbst die Stinkesocken des Sacknachbarn in Kauf nehmen und zu aller Tragik auch noch die Hirnzellen drei Stunden und ein paar mehr anstrengen um etwas, dafür aber viel, mitnehmen zu können von dem Abend.
LenzCastorfs Soldaten: Liebeserklärung an den Verrat
es gibt durchaus inszenierungen, wo die nachtkritik hält was sie verspricht. was die gestrige nacht angeht, kann man das traurige scheitern der kritikerin fast anfassen. für diesen castorf abend brauche ich etwas länger und die kritikerin wohl auch, oder eben nicht.... die physis die dieser abend ausstrahlt ist miß interpretiert, wenn man sie in weiße säcke hinein analysiert. das kann einem mit einer gewissen leiblichkeit schon mal passieren, trifft dennoch nicht den kern, das tasächlich andere mit dem ich mich beschäftigen muß. und auch in seiner müdigkeit, vielleicht in seinem sterben gar, bleibt dieser castorf immer anders unerreicht. und wir werden ihn doch sterben sehen, wie alle anderen auch. und was heißt besserer, schlechterer schauspieler, was heißt das? es hätte einen anderen abend gegeben, nicht den. dieser abend hatte etwas vollkommen unvollkommenes in seiner unvollkommenheit. dieser abend war wieder eine liebeserklärung an den verrat. ich habe mich sehr ernstgenommen gefühlt und muß jetzt etwas damit anfangen. respekt und danke
LenzCastorfs Soldaten: Selbstfindungsgruppe auf Seesäcken
Liebe ernestine, lieber Mücke,
Eure Lobhudeleien und Durchhalteparolen in allen Ehren. Ich bin es inzwischen leid, wie inmitten einer Selbstfindungsgruppe auf Seesäcken zu hocken und die immer wiederkehrenden Castorf-Projektionen von Sex und Leidensdruck zu sehen. Auf Sekt und Sushi kann ich gut verzichten auf Sinn auf Dauer nicht.
LenzCastorfs Soldaten: nach der Resignation
@ ernestine
Was ist denn Deine Vorstellung von Blümchentheater? Warst du schon in einem anderen Theater als in der Volksbühne? Das würde mich mal interessieren. „wir sollten glücklich sein, solches theater zu haben als gegengewicht, als abbbild, als denkanstoß zu allen verplüschten gedankenlosigkeiten der gegenwart.“ Toll gesagt, nur ich habe Blümchentapeten und Plüsch ohne Ende gesehen an diesem Abend. Für was brauchst Du denn Denkanstöße? Reicht es nicht mehr zum selber denken?
@ Mücke
„die A...backen zusammenkneifen ... und zu aller Tragik auch noch die Hirnzellen drei Stunden und ein paar mehr anstrengen um etwas, dafür aber viel, mitnehmen zu können von dem Abend.“ Ich hoffe, Du hast keine Verhaltung bekommen. Und was genau hast Du jetzt mitgenommen? Auch das würde mich interessieren?
@ besucher
Klingt da etwas Resignation mit? Ist zumindest aber ehrlich und nachvollziehbar. Anfänglich habe ich auch noch so gedacht. Nun ist aber endgültig der Ofen aus.
LenzCastorf Soldaten: über Neumann & Pipilotti Rist
Ich werde den Eindruck nicht los, dass Bert Neuman mit diesen Seesäcken eine Kollegin zitiert: "Pour your body out." von Pipilotti Rist. (im Folgenden eine Beschreibung aus der "art")

„TULPENWÄLDER, FLIEGENPILZE UND GLÜCKSCHWEINE“

„Über Tausend geladene Gäste drängten in das gigantische Marron Atrium im ersten Stock der Eingangshalle, wo über alle Wände rosarote, lilafarbene und giftgrüne Bildsinfonien von Blumenfeldern, überlebensgroßen Pilzwäldern und viel Obst und Gemüse flimmerten. In kleinen Gruppen beieinanderstehend oder sich in Socken auf der von der Künstlerin entworfenen, kreisförmigen Sitzlandschaft räkelnd, genoss das Publikum eine visuelle Orgie verkitschter Natur, die ab und zu in Zivilisationsmüll degenerierte, um gleich wieder zum organischen Traumland zu werden.“

„Unterwasseraufnahmen, fließende Blenden und eine perfekte Bespielung der Projektionsflächen sorgten für Wohlgefühl ohne Ecken und Kanten. Ein Dutzend High-Definition-Projektoren wurden unter Anleitung von Chefkustos Klaus Biesenbach perfekt in die Wände integriert und tauchten das ehrwürdige, aber stets etwas steife MoMA in haushohe elektronische Traumwelten. Dazu summte Musik in Wohlfühlakkorden – und ein überwiegend junges Publikum vergaß ob so viel Harmonie Wintereinbruch und Finanzkrise, um sich im elektronischen Eden der Schweizerin zu suhlen, die dieses Mal auf hintersinnige Provokationen, nackte Haut und Anarchohumor verzichtet hatte. Gefleckte Glücksschweine, barfüssige Jünglinge oder strahlende Blondinen wanderten durch rosa Landschaften, zusammen mit den Besuchern, die als Schattenriss in der Videoinstallation auftauchten.“

„Auch am Morgen nach der Eröffnung zeigte sich das "normale" Laufpublikum des MoMA, sprich Touristen aus aller Welt, entzückt. Auf dem Weg zu den Kassenschlagern van Gogh und Miró machten zahlreiche Besucher aller Altersklassen in Pipilotti Rists durch lilafarbene Vorhänge vor dem Tageslicht geschützten Atrium halt, zogen sich die Schuhe aus und legten sich auf das blaue Fellmöbel.“

Zitat aus der „art“
LenzCastorf Soldaten: über Neumann & Pipilotti Rist II
Nur geht es bei Pipilotti Rist ganz anders zu. Die Zuschauer werde von einer Phantasie umfangen, mit genommen, tauchen selber in ihr als Schattenbilder auf. Die Arbeit "Pour your body out." war eine bewußte Setzung, gegen die Realität draußen, gegen die Metropole New York, mit all seinem Stress, seiner Beschleunigung. Eine vorsätzliche Oase, ein Eden, dem man entspannt zusehen, an dem relaxed Teil haben konnte. Die Betrachtungsanforderung war, sich zu entspannen, sich hineinziehen zu lassen in Bilderwelten, die man als Intermezzo zwischen dem alltäglichen New York draußen empfinden konnte, um in dieser Lebenspause eine alternative Wahrnehmung zum Alltäglichen zu schulen. Um dann sich anders gestärkt wieder der Realität zu stellen. Ein Genuss eben, so wie moderne Künstler eben gerne mal die Kunst begreifen, als ein Genussmittel. Warum nicht, wenn es sich um einen bewußten Vorgang handelt, der uns für das Alltägliche neue Perspektiven vermittelt ? In den Metropolen muss man schon genug ungefilterte Realität ertragen. Da sind Gegenwelten geradezu gefordert als Kontrastmittel.

Castorf hat seine Zuschauer zwar ähnlich dieser Arbeit von den Sitzen befreit. Aber nicht vom Sitzen, Absitzen seiner Inszenierung, will mir scheinen. Seine Betrachtungsanforderung bleibt die Selbe. Aber woher nimmt der Mann dies Recht zur Qual eigentlich ? Sind das nicht ganz nostalgische Ansätze: Der Zuschauer muss leiden, um zu begreifen ? Geradezu entmündigend, mein Eindruck. Da draußen laufen die Idioten rum. Die zwingen wir jetzt mal ganz penälerhaft auf Seesäcke und dann sollen sie mal sehen, wie ihnen geschieht. Und das "Warum" verheimlichen, verrätseln wir, entziehen wir ihnen. Nichts als verdeckte Herrschaftsformen, die Künstlerinnen wie Pipilotti Rist längst hinter sich gelassen haben.

Ich bin ratlos. Wohin soll ich mich wenden ? Erahne ich doch schon zu gut, was mich dort erwartet ? Oder mache ich mir aus den Kritiken heraus falsche Vorstellungen ?

Ich werde einfach noch ein wenig abwarten, bis die Winde der Kritiken sich gelegt haben und dann vielleicht mal für eine halbe Stunde reinschauen. Soviel Anstand muss dann wohl doch noch sein. Und wer weiß, vielleicht werde ich ja hineingezogen in die Welten des Herrn Castorf.
LenzCastorf Soldaten: der Rest
Lieber Stefan, was regst Du Dich so auf, es zwingt Dich doch keiner in die Volksbühne zu gehen. Aber mitreden willste offensichtlich doch. Mein Rest ist Schweigen.
LenzCastorf Soldaten: was sind die Argumente?
@ Mücke
Hier findet ja leider gar kein Dialog statt. Ich habe einige Gründe vorgebracht warum ich die Inszenierung nicht mag. Dann soll ich halt nicht in die Volksbühne gehen. Was sind das denn für Argumente? Im Gegenteil ich gehe gerne in die Volksbühne, aber ich bin noch nicht so vernagelt, das ich sie für das Non plus ultra in der Berliner Theaterlandschaft halte. Castorf hat einige der bemerkenswertesten Theaterinszenierungen nicht nur in Berlin gemacht. Endstation Amerika und die Dostojewski-Stücke gehören zum Besten was ich je gesehen habe. Seine Innovation hat sich leider aufgebraucht. Er zitiert sich nur noch selbst und verstrickt sich in immer wiederkehrende Stereotypen. Das langweilt mich zusehends. Trotzdem werde ich weiter in die Volksbühne gehen und aufregen werde ich mich sicher nicht, sondern nur berechtigte Kritik äußern.
@ 123
Der Gegensatz von Pipilotti Rist zu Frank Castorf ist, das P. Rist sich ihre kindliche Neugier und Sicht auf die Welt bewahrt hat, wogegen Castorf resigniert und nur noch negativ denkt.
Im übrigen könnte man die Seesackdebatte ja entzaubern, indem man einfach annimmt, das sich das alte Volksbühnenmobiliar zur Aufarbeitung befindet und zur nächsten Spielzeit in neuem Glanz erstrahlen wird. So wie auch in anderen Bereichen ganz unbemerkt etwas neuer Glanz im alten Gemäuer Volksbühne aufgetaucht ist. Also das Leiden ist nur von kurzer Dauer.
LenzCastorf Soldaten: Bestätigung
Ich kann das, was Ernestine und Mücke schreiben, in allen Punkten nur bestätigen.
LenzCastorf Soldaten: wenn eine Ära stirbt
resignation? nein - doch ist es durchaus traurig wenn eine ära stirbt. wo will denn castorf quälen, oder langweilen, wo zeigt er denn mit dem finger, versteh ich nicht. ich glaube, es ist auch nicht seine aufgabe jemandem zu erklären was er damit meint. ich komm damit sehr gut allein klar. natürlich verstehe ich, wenn du verstehen willst. aber ich verstehe schon so viel von herrn westerwelle, von frau merkel und konsorten - es hilft mir einen dreck. machnmal tut es mir ganz gut an einer welt teilzunehmen, von der ich mehr ahne, das hilft - ein stück zumindest. der wolf schläft schon lang - sogar sein traum läßt wimmern.
LenzCastorf Soldaten: Lebensstellung im Kombinat
Castorf, der selber Soldat am Ratzeburger See war, mit starrem Blick auf die Grenze Bücher lesend, hat sich wahrscheinlich nie aus dieser lauernden Haltung herausbewegt, sicher oft die Kostüme gewechselt, die Kulissen, aber im Kern immer noch spähend, Ausschau haltend. Über ihm schwebend, die Dekonstruktion all dessen was er an Lektüre verschlang, weil sie nirgends Halt in seinem Leben fand. Angesichts dieses unproduktiven, verordneten Herumlungerns mussten ihm seine Leseabenteuer als unwahr erscheinen. Produktiv Rumgammeln nannte Müller dies glaub ich. Castorfs Haltung bleibt bis heute in seiner Lagerung ungebrochen. Ganz anders als die eines Grübers, dessen junger Glauben an den Kommunismus in Bremen gebrochen wurde. Heraus kam eine unerhörte Musikalität der Melancholie, der Vergeblichkeit, der man sein eigenes Leiden anvertrauen konnte. Wie aber einen älteren Mann heute noch brechen? Kaum denkbar so eine Unverschämtheit. Eine Stadt hält einen Theaterkünstler vielleicht sieben oder acht Jahre aus. Danach müsste er sich selber neu erfinden, um zu verbleiben. Castorf sitzt in Berlin, als ob er eine Lebensstellung in einem Kombinat erlangt hätte. Ein Bleiberecht auf Lebenszeit. Da wird er den Kummer wohl tragen müssen, der nun über ihn kommt. Ein Spätvertriebener könnte er immer noch werden und sich zu freiem Lenztum durchringen. Seine Chancen in Moskau auf der Straße zu erfrieren, wären dabei sehr gering. Vielleicht laden ihn die Seesäcke doch nun zum Reisen ein und er kehrte wieder, als ein Neubeladener und würde abermals geliebt.
LenzCastorfs Soldaten: Von der Dauer
Die zweite Vorstellung dauerte 3:00 und keine Minute länger. Ist da was gekürzt worden?
LenzCastorfs Soldaten: Wirklich nur 3 h
@B-Premiere,

Nein, es ist nicht gekürzt worden. Wie ich gesagt habe: die Premiere hat 3:08 gedauert. Ich war auch gestern Abend da. Das Stück hat nie 3:30 erreicht.
LenzCastorfs Soldaten: komplett bekloppte Nebensachen
dann hat ihre stopuhr versagt. ich habe knapp dreieinhalb stunden gemessen. nicht ganz 3:30 aber 3:23. wieso ist denn das hier überhaupt wichtig? man hat den eindruck, weil es der inszenierung insgesamt an substanz fehlt, wird jetzt über komplett bekloppte nebensachen gezankt.
Castorfs Soldaten: Musiktheater-Verständnis
Das ist auch interessant, dass Castorf nur noch von Musikkritikern mit einem sehr konservativen Avantgardeverständnis wie Jürgen Otten (in der FR) gelobt wird. Denn im Musiktheater kommt es heute noch immer nicht auf den Gehalt des Stoffs an. Da kann man den Publikum noch jeden Bären aufbinden. Das Sprechtheater hat scheinbar einen anderen Gegenwarts- und auch Theaterbegriff entwickelt, an den ("der alte Dialektiker" O-Ton Otten) Castorf nicht mehr heranreicht mit seiner Kunst. Spannend, das!
LenzCastorfs Soldaten: die Sinne öffnen!
Ich habe die Vorstellung von Soldaten am Samstag gesehen und frage mich, wo manche Besucher ihre Ohren haben. Vielleicht springen deshalb die Musiktheaterkritiker auf die Inszenierung an: Weil sie hören. Die Castorf-Inszenierung ist sicher in ihrer Erzählung sperrig und widerständig und vermittelt nicht im didaktischen Sinne den Stoff, aber sie erzählt mir auf vielen verschiedenen Zwischenfrequenzen viele Geschichten nebenbei. Die kann man nur hören oder sehen, wenn man die Sinne öffnet. Wenn man ohnehin weiß, dass Castorfs Glanzzeit vorbei ist, dann sieht man die Inszenierung eben auch so.
Castorfs Soldaten: junge Leute gingen scharenweise
Nein, es war zum größten Teil einfach nur gräßlich. Wollte man einem jungen Menschen, der erst seit kurzem ins Theater geht erklären, daß Castorf zu den bedeutenden deutschen Theaterleuten gehör(t)e, er würde einen nicht nur ungläubig anschauen sondern höchstwahrscheinlich für verrückt erklären. Ich bin mir nicht sicher, ob der Abend seit der Premiere noch mehr gelitten hat, aber gestern war es eine unerträgliche Zumutung. Ich hätte es den jungen Leuten gleichtun sollen, die die Vorstellung vorzeitig gleich dutzendweise verließen.
Zum größten Teil uninspirierte Schauspieler, einige wußten nicht mal ihren Text (die Souffleuse mußte massiv eingreifen), die Leuchtband-Texte kamen mal, dann wieder nicht, mit Verlaub: von Bühnenbild kann keine Rede sein (gab ja auch keine/n ausgewiesene/n Bühnenbildner/in), junge Frauen müssen selbstverständlich wie Huren aussehen, damit sie ältlichen "Soldaten" gefallen, vom Vater kann die Tochter die Liebe nur mit eindeutig sexueller Attitude versuchen einzuklagen (aus welchem grausamen Katalog ist das denn?), warum diese "Soldaten" das von W. Langhoff/Rudi Goguel im KZ (!) Börgermoor geschriebene Lied der Moorsoldaten singen ist nicht nur unklar sondern auch frech gemein, ja häßlich und obgleich Sir Henry und (gestern) Winnie Böwe hinreißend waren - von großem musikalisch-theatralischen Anspruch geleitet -, reichte das als Trostpflaster für einen durch und durch wegwerfenden/ weggeworfenen (nein nicht Theater-) Abend nicht aus.
Castorfs Soldaten: auf unterschiedliche Netzhäute fallen
ich war einer der jungen leute und bin nicht gegangen. ich habe mir auch das von ihnen beschriebene programmheft gekauft und darin eine fotostrecke von perry kretz gefunden. er ist einer der bedeutendsten kriegsfotografen unserer zeit, wie ich herausfinden konnte. ich bin erstaunt und glücklich, wie unterschiedlich kunst doch auf die unterschiedlichen netzhäute fällt und dort unterschiedlichste bilder entstehen läßt. für mich war der abend beeindruckend. vor allem durch den umgang mit der bühne. eine sich auflösende räumlichkeit hat sich mir erzählt, die doch einiges mit unserer welt zu tun zu haben scheint.
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