alt

Operation am offenen Herzen Tschechows

von Christian Rakow

Berlin, 27. Februar 2010. Ihre Morgengymnastik sieht fast wie Animationssport im All-Inclusive-Hotel aus. Der Doktor zählt auf Russisch Schrittfolgen an; und hinter ihm her wogt das Grüppchen Nervenkranker gleich müden Wohlstandsurlaubern: Einen Step nach links, die Ärmchen hoch und vorwärts durch den leeren, klinisch weißen Bühnenraum.

Diese Irren im Krankenzimmer Nr. 6 erscheinen uns seltsam vertraut. Die Mutter mit dem traurigen Charme der abgekämpften Primadonna (Almut Zilcher); der tragikomische Vater, dem vielleicht Jobsorgen ein wenig Haar und Hirn zerstrubbelt haben (Wolfram Koch). Oder der Sohn, ein fahriger Langzeitstudent im ausgeblichenen T-Shirt (Andreas Döhler), und die Tochter, ein herzensgutes Nervenbündel, das von einem längst vergessenen Bräutigam am Altar stehen gelassen wurde (Katrin Wichmann). Neben ihnen tapst wortkarg der Großvater im zerschlissenen Frack (Harald Baumgartner).

Zusammengekehrte Reste versunkener Biografien

Nein, diese Insassen der Nervenheilanstalt sind keine Fremden. Es sind die derzeit best bekannten Figuren auf unseren Gegenwartsbühnen, die Tschechowschen Sehnsuchts- und Verlustfiguren. Wenn sie ihren Mund öffnen, ertönen häppchenweise Highlights aus den großen Dramen. Es ist ein echtes Ratespiel für Kenner: Hier entpuppt sich Almut Zilcher als Gutsbesitzerin Ranjewskaja, die ihren Kirschgarten beklagt. Dort vertröstet Andreas Döhler als philosophierender Arzt Astrow aus "Onkel Wanja" seine Kummergefährten auf fernes Glück und Fortschritt der Menschheit in zweihundert Jahren. Wir sehen die berühmten theatralen Identifikationsfiguren als Wahnsinnige, die die Reste ihrer versunkenen Biographien zusammenkehren.

Regisseur Dimiter Gotscheff hat sich also nicht begnügt mit Tschechows kleiner Erzählung "Krankenzimmer Nr. 6" (von 1892), in der ein Psychiater zum Patienten seiner eigenen Anstalt wird, weil er inmitten dumpfer Hinterwäldler abseits des reformfähigen Russlands mental kapituliert. Vielmehr hat Gotscheff, mithilfe einer Spielfassung von Ivan Panteleev, die gesamte Enzyklopädie des Dichters aktiviert und den diagnostischen Blick des Arztes Anton Tschechow konsequent mit seiner Poetik kurzgeschlossen.

Suchscheinwerfer als futuristische Schlingpflanzen

Den Clou dieses Verfahrens legt Samuel Finzi als gutmütig labiler Onkeldoktortyp schon zu Beginn offen: "Heute gießt man Geisteskranken kein kaltes Wasser mehr auf den Kopf und steckt sie nicht mehr in die Zwangsjacke; man behandelt sie menschlich und veranstaltet für sie, wie man in den Zeitungen schreibt, sogar Theatervorstellungen." Im Ansatz wird eine nahezu Foucaultsche Analyse der Psychiatrie entworfen: Das rationale, humanistische Denken und die mit ihr verschwisterte realistische Theaterkunst formieren sich, indem sie das Kranke markieren und aussondern. Folgerichtig übernimmt Margit Bendokat sowohl eine jugendlich frische Rolle als Erzählerin als auch das Ordnungspersonal und, in unseren Reihen stehend, die Anstaltskommission, die den Arzt als Wahnsinnigen einweist. Denn in der Klinik entscheidet sich, was als irre eingeschlossen gehört, und was als großes menschliches Leidensvermögen erzählerisch nach draußen, in Kunst und Alltag, gelangen darf.

Der Kern dieser psychopathologischen Selbstreflexion liegt bereits in Tschechows Erzählung vor. Gotscheff und Panteleev haben sie als Kritik der realistischen Bühnenkunst hellsichtig weiterentwickelt, wenn sie die derzeit empathiefähigsten Theaterfiguren vom Schlage eines Wanja oder Astrow an ihren Ursprung in der Klinik zurückverweisen. Bühnenbildnerin Katrin Brack steuert dazu eine imposante Überwachungsästhetik bei. Wie futuristische Schlingpflanzen werden riesige Suchscheinwerfer vom Schnürboden herabgelassen und leuchten das durchweg grandiose, in sich gekehrte, reduzierte Spiel des Ensembles in jedem Detail aus.

Im kalten Glanz des OP-Lichts

Und dennoch hat der Abend etwas seltsam Manieriertes, droht sein kaum zweistündiges Experiment immer wieder in Brillanz zu erstarren. Wieso? Wie mit einem Skalpell hat Gotscheff alle Regungen zwischen den Figuren weggeschnitten und eine Ansammlung von menschlichen Monaden übrig behalten. Wo die lebendigen Situationen zwischen den Figuren aber fehlen, da gerinnen berühmte Tschechowsätze zu Pathosformeln, die man mit spitzen Fingern und Lächeln in den Mundwinkeln von sich weg halten muss: "Das ist doch kein Leben!"

"Wozu?", lautet die Lieblingsfrage des Stückes. Gotscheff streicht alle bei Tschechow subtil ausgebreiteten sozialen Kontexte der Klinik (Anstaltsregularien, Ökonomie, Bildungsdiskurse etc.) – und verliert so letztlich die analytische Perspektive. "Moral und Logik haben hier nichts zu suchen", bekundet Finzis Arzt unterschwellig leutselig. "Alles hängt von einem Zufall ab. Wer eingesperrt ist, der sitzt, und wer nicht eingesperrt ist, geht spazieren, das ist alles." Mit kühler Virtuosität wird peu à peu ein blinder Fatalismus zurechtpräpariert. Wir sind potenziell krank, jeden kann es erwischen, die Anstalt fragt nicht nach Gründen. Nun gut. Nachts sind alle Katzen grau.

Bei Michael Thalheimer, der hier wie ein Seelenverwandter erscheint, würde man in solcherart entkernten Klassikeraufführungen mit expressivem Pathos eingeholt, auf dass uns das ewige, menschliche Leiden schüttele. Gotscheff wählt demgegenüber den Weg Becketts: in die distanzierte, heitere, absurd-existenzialistische Resignation. Er hat fraglos eine große Operation am offenen Herzen Tschechows vorgenommen. Überlebt hat der Patient auch. Ob das neue, auf Schritt gebrachte Organ für größere Sprünge in die Wirklichkeit taugt, ist im kalten Glanze des OP-Lichts nicht die Frage. Bravorufe gab es für den Chirurgen Gotscheff und seine Mannschaft bei der Premiere jedenfalls.

 

Krankenzimmer Nr. 6
Nach Anton Tschechow, Deutsch von Peter Urban, Fassung von Ivan Panteleev
Regie: Dimiter Gotscheff, Bühne und Kostüme: Katrin Brack, Musik: Philipp Haagen, Dramaturgie: Claus Caesar. Mit: Harald Baumgartner, Margit Bendokat, Andreas Döhler, Samuel Finzi, Philipp Haagen, Wolfram Koch, Katrin Wichmann, Almut Zilcher.

www.deutschestheater.de

 

Mehr über den Regisseur Dimiter Gotscheff im entsprechenden Lexikon-Eintrag, wo es auch Links zu anderen Inszenierungen gibt, für die Katrin Brack die Bühne entwarf – wie etwa Alfred Jarrys Ubukönig an der Berliner Volksbühne oder Büchners Leonce und Lena am Thalia Theater in Hamburg.

 

Kritikenrundschau

Auf der Webseite der Berliner Zeitung Der Tagesspiegel (28.2.2010) freut sich Christine Wahl über Gotscheffs "grandiose Inszenierung" und Ivan Panteleevs "hochintelligente Stückfassung". Der Clou an diesem Abend bestünde darin, dass sämtliche Patienten Figuren aus anderen Tschechow-Stücken oder -Erzählungen seien, all die an "fehladressierten Lieben" und "schiefgegangenen Lebensplänen" leidenden Figuren, "mit denen wir uns so unglaublich gern identifizieren". Doch Gotscheffs Inszenierung lasse "keine kuscheligen Vereinnahmungsschlupflöcher". Das "erstklassige Ensemble" verweigere mit "präzisem Minimalismus jedwede voreilige Kumpanei", jeder sei "im 'Krankenzimmer Nr. 6' mit sich und seiner Neurose allein". Samuel Finzi und Wolfram Koch seien "gewohnt großartig", "unglaublich" aber auch wie "kitschfrei" etwa der Verlust des Sohnes immer wieder aus Almut Zilcher hervorbreche. Oder die "Pathosfreiheit" von Andreas Döhlers Bericht von der Insel Sachalin, in dem er eine Massenhinrichtung kapituliere. Margit Bendokat gebe die Wärterin Nikita als "stilechte Alptraumfigur von Horrorfilm-Gnaden". Gotscheffs "kluger Tschechow-Kommentar" stelle im Deutschen Theater eine "ideale perspektivische Ergänzung" zu Jürgen Goschs Tschechow-Inszenierungen dar.

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (28.2.2010) schreibt Julia Encke: Schon beim Anblick von Katrin Bracks "dynamischen Sehnsuchts-, Angst- und Kontrollbildes" aus riesigen "Aufmerksamkeit- und Suchscheinwerfern" sei man mit dem Deutschen Theater, dessen "letzte Premieren einen etwas ratlos zurückließen", vollkommen versöhnt. Gotscheff inszeniere eine "Allegorie über Überwachen und Strafen", indem er die "historische Verankerung" von Tschechows kleinem Roman "sanft" zurückdränge, jeden Naturalismus vermeide, dafür aber "wie immer" großes "Schauspielertheater" zeige: mit Samuel Finzi, "dem die Qual seiner Existenz" das Gesicht verzerre; mit Wolfram Koch als "philosophischem Gegenpart" und Margit Bendokat als Erzählerin, die die "Textzitate mit (...) verschmitzten Tschechow-Lächeln" unterlege.

Der Abend gebe zwar vor, die Tschechow-Erzählung "Krankenzimmer Nr. 6" zu erzählen, doch bald entscheide Gotscheff sich "für eine tieftümelnde Best-Of-Tschechow-Show, eine Schnitzeljagd durch die Dramen", schreibt Tobi Müller in der Frankfurter Rundschau (1.3.2010). Darin spiele Margit Bendokat "die einzige interessante Figur", sei "die brutale Wächterin wie die heimliche Dichterin". Meist böten die Anstalts-Insassen allerdings "zusammenhanglos Rollen-Fragmente aus irgendeinem Tschechow-Klassiker dar" – doch auch "Schauspieler dieses Kalibers" stünden "in kurzen Hosen da, wenn sie Fitzelchen als Weltliteratur verkaufen müssen". Man sample sich durch Tschechows Dramen, und "es wird nichts ausgelassen", "außer der eigentlichen Erzählung". Von deren Konflikt blieben nur "ein paar Sätze und ein paar Bilder. Die sind gut, aber von der Länge eines Trailers." "Den Kern der Erzählung, die halbphilosophische Erörterung des Leidens, in eine Kunstreflexion zu verwandeln , scheint die Absicht dieser aufwändigen Vermeidung zu sein, in der Psychiatriepatienten sich als Schauspieler entpuppen." "Gotscheff ist ausgerechnet mit diesem harten Text weich geworden. Ein Text, der ohne die Melancholie der Unabänderlichkeit auskommt, der sonst so viele Tschechow-Stücke grundiert."

"Ach, diese Irren da unten. Mit einem langen, nicht unfreundlichen, aber doch abschätzigen Blick über die Goldrandlesebrille hinweg hat Samuel Finzi das Publikum pathologisiert." Das feiere die Gotscheff-Premiere, so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (1.3.2010), entsprechen mit "irrsinnigem Jubel". Dem Regisseur sei da "ein edles Gedankentheaterschmuckstück" gelungen, indem Bendokats Nikita "die brutale Ordnungshüterin dieses vollautomatischen Irrenknastes" abgibt – "Diese stumpfsinnige Psychopathin verkörpert das Normale." Gotscheff kümmere sich kaum um die in der Erzählung enthaltene Sozialkritik, sondern fasse "die Frage nach der Grenze zwischen dem Normalen und dem Verrückten poetologisch und erweitert sie zur der Frage nach der Grenze zwischen Leben und Spielen" – "Wer würde nicht lieber Tschechow-Spielen, um der realen Nikita-Normalität zu entkommen?" Alle auf der Bühne seien "immer auch Spielermenschen, die auf eigenen Wunsch aus der Wirklichkeit gesperrt wurden und ihr Dasein in der Gotscheff-Anstalt genießen, im Wissen um die Traurigkeit des Daseins". Man könne Gotscheff – wie auch Gosch – "vorwerfen, dass sie sich mit ihrem Theater aus der Wirklichkeit in die Ästhetik zurückziehen. Man kann sich aber auch bei ihnen bedanken, dass sie einen für das eine oder andere Stündchen mitnehmen".

Tschechows traurige, packende Geschichte lasse sich "mit Hilfe der stets hinreißenden Margit Bendokat und anderer vorzüglicher Darsteller (...) sachgerecht in Fantasiewirklichkeit voller leiser Schreckensbilder transponieren", findet Ulrich Weinzierl von der Welt (1.3.2010). Auch das Suchscheinwerfer-Bühnenbild überzeugt: "Das Rieseninsekt eines keineswegs therapeutischen Regimes von Überwachen und Strafen hat 1000 Augen". Der Einfall, aus den Insassen "lauter alte Bekannte" zu machen, sei bloß auf dem Papier ein reizender Einfall: "Soirée im Kopf von Anton Pawlowitsch!" Dessen "schwerste Neurotiker, resignierte Sehnsuchtsgestalten, Lebensuntergänger unter sich, weggesperrt in ihrem Existenzkerker". Doch "die Fülle der Zitate verwirrt mit Tschechow nicht besonders Vertraute, die Übrigen werden durch das heitere Figurenraten unziemlich abgelenkt. Rätselrallyes für Insider sind im Theater fehl am Platz." Viele szenische Details, auch die "musikalische Sprachbehandlung" glückten tadellos, "doch das Ganze entwickelt zu wenig Sog. Und alsbald fängt man sich zu ärgern an: über die Hybris, die der poetischen Kraft des Originals misstraut und es zur Zutat für eine Eigenschöpfung degradiert."

Irene Bazinger freut sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.3.2010) über ein "helles, heiteres Narrenspiel". Die Aufführung sei "wie eine dezente Abfolge von Therapiesitzungen angelegt", bei denen die Patienten "still ermuntert" würden, "sich in egal welcher Form zu öffnen und etwas von sich mitzuteilen". Während dabei "bald ihre Obsessionen aufbrechen und sie wirr durcheinander über ihre jeweiligen Ticks sprechen", senke sich "ein ganzer Schwarm von unterschiedlich großen Scheinwerfern auf die leere Bühne herab". Die Bühnenbildnerin Katrin Brack bringe "mit diesem Himmel aus lauter Technik, der den Unglücklichen fast auf den Kopf fällt, ein wichtiges Element des Theaters, das Licht, in Verbindung zu den Überwachungskameras etwa in Gefängnissen". In einem "blitzblanken Tollhaus" zeige das "ausgezeichnete Ensemble mit Vergnügen und Verve Tschechows Erniedrigte und Beleidigte". "Neu sind Tschechows Betrachtungen zum inneren wie äußeren Gesundheitssystem zwar nicht mehr, aber in der charmant souveränen Inszenierung von Dimiter Gotscheff als hohe Kunst mit Herzblut sehenswert umgesetzt."

 

mehr nachtkritiken