Tägliche Zwiesprache mit dem Skelett

von Andreas Wilink

Gladbeck, 4. September 2007. Nicht nur alle Lust, auch alle Unlust will Ewigkeit. Die Umkehrung der Wagnerschen Formel wäre für Christoph Marthaler, der vor zwei Jahren selbst Bayreuth-Regisseur eines Anti-"Tristan" war, Leitmotiv seiner Arbeit und Ästhetik. Durch die Kunsträume des Erfinders der aufgehobenen Zeit geistert ein eigentlich unaufhebbarer Widerspruch: dass ihre Bewohner extreme Egozentrik bei Suggestion kollektiven Einerleis behaupten.

Jeder ein Sonderling, zusammen ein Club der Verirrten und Verwirrten, aus der Ordnung gefallen und unter die Mühlräder des Schicksals geraten. Müde und Beladene, Schlafwandler und Tagträumer, Weltverlorene und Ichversunkene. Diese Randexistenzen stehen im Verdacht, lebenserhaltender Maßnahmen bedürftig zu sein. "Sauser" – schweizerisches Äquivalent für "Sturm" (Österreich) und "Federweisser" (Deutschland) – kann als schwachprozentiges alkoholisches Getränk für vitalisierende Zwecke oder Rauschzustände kaum herhalten. Da gibt es andere Mittel.

Salzburger Nachtrag
Die Ruhrtriennale, die im dritten und offiziell letzten Jahr ihres Intendanten Jürgen Flimm das Mittelalter aufs Programm-Schild hebt, begann mit einem solch starken Elixier und Zaubertrank. "Le vin herbé", das von Willy Decker grandios inszenierte Oratorium Frank Martins, variiert den Tristan-Stoff, den Richard Wagner seinerseits 1857 in Zürich adaptiert hat. Womit wir leicht und ohne Umwege bei dem Ex-Züricher Schauspiel-Chef und Schweizer Marthaler wären.

Dessen "Kreation" "Sauser aus Italien. Eine Urheberei" hatte nach der Salzburger Uraufführung nun beim NRW-Landesfestival ihre Zweit-Premiere. Salzburger Nachtrag insofern, als sich der (Noten-)Schlüssel zu der Produktion bei dem Komponisten Giacinto Scelsi (1905-1988) findet. Am Ort von Flimms Neu-Engagement (bei der Triennale amtiert er seit 2005, in Salzburg seit 2007) war Scelsi eine ganze Konzertreihe gewidmet gewesen, "Kontinent Scelsi". Marthalers Titel „Sauser“ allerdings tut dabei nichts zur Sache. Und diese selbst ist wie gewohnt bei ihm eine nostalgisch-neurotische Reise rückwärts.

Über der Linie ein leerer Kreis
Dorthin, wo Idyll und kaltes Grausen miteinander in bestem Einvernehmen stehen. Mit vollem Namen Conte d’Ayala Valva, war Scelsi ein Eigenbrötler, radikal in seinem Abweichlertum. Innerhalb der Entwicklung des Minimalismus setzte er einen exzentrischen Akzent. Irgendwie aus der Zeit gefallen in seiner esoterischen Verweigerung, Stilisierung und Mystifikation, ist dieser Tonsetzer ein Sonderfall der Musikgeschichte. Klarheit und Verdunkelungsgefahr liegen bei Scelsi nah beisammen. Keine Fotografie existiert von ihm; ein eigenhändiges Porträt zeigt über einer Linie mit Signatur: einen leeren Kreis. Ein Zen-Emblem.

Perfekte Projektionsfläche also für Marthaler und Company – sein Ensemble mit vertrauten Gesichtern wie Olivia Grigolli, Bettina Stucky, Josef Ostendorf, Lars Rudolph und Graham F. Valentine – sowie das Klangforum Wien. Gestrandet in einer die Atmosphäre beklemmender Gemütlichkeit ausbrütenden Pension (von Duri Bischoff angelegt als offener Plattenbau mit Dachterrasse samt Antennengestrüpp), sitzen die Ausnahmeerscheinungen an gedeckten Tischen vor Bibliotheksregalen die Zeit ab.

Und vertreiben sie sich, indem sie gelegentlich ins Depressiv-Regressive abgleiten oder (auch musikalisch aufgekratzt) ins Übermütig-Ausgelassene, Slapstickhafte ausscheren, sogar paarweise in Tangoschritte einknicken und dabei subjektiv auf Scelsis meditativ-monolithische Musik reagieren: Streichquartette, Lieder, Tänze, Ständchen und komplex instrumentierte Stücke.

Hausgäste unter Artenschutz
Projektionsfläche auch deshalb, weil Scelsi seine "Dekompositionen" bevorzugt improvisierte, statt die Noten zu fixieren, womit die Frage der "Urheberei" und kreativen Autorenschaft ansetzt, die nach Scelsis Tod Mitarbeiter anstiftete, sich als dessen Ghostwriter zu brüsten und das Meer der Klänge für sich auszuschöpfen. Der "Fundamentalist des wesenhaft vereinzelten Tones" (Hans-Klaus Jungheinrich) korrespondiert habituell mit Marthalers wesenhaft vereinzelten Bühnenmenschen. Existenzial-Clowns, die tiefsinnige oder sinnlose, trübselige oder kuriose Sätze sagen wie "In einer Welt ohne Melancholie würden die Nachtigallen anfangen zu rülpsen", Sentenzen absondern und Bekenntnisse ablegen wie "Tagtäglich halte ich intime Zwiesprache mit meinem Skelett. Das wird mir mein Fleisch niemals verzeihen."

Den Charismatikern der Verweigerung und Bartlebys des "Lieber nicht" in ihrer gedimmten Lebenskraft gehen derartige erste und letzte Seufzer selbstverständlich über die Lippen. Die acht unter Artenschutz stehenden Hausgäste lauschen den Klängen, als speicherten sie sie hydraulisch, kommentieren sie mimisch, betragen sich heiter, konfus, verzückt, panisch, ge- oder enthemmt. Bis ein sattes Puccini-Finale den Bann zu lösen scheint und man "lieber doch" in Harmonie endet.

 

Sauser aus Italien. Eine Urheberei.
Regie: Christoph Marthaler, Bühne: Duri Bischoff, Klangforum Wien.
Mit: Olivia Grigolli, Katja Kolm, Sasha Rau, Bettina Stucky, Raphael Clamer, Jörg Ostendorf, Lars Rudolph, Graham F. Valentine.
Koproduktion der Ruhrtriennale mit den Salzburger Festspielen; Gladbeck, Zeche Zweckel.

www.ruhrtriennale.de


Kritikenrundschau

nach der Premiere bei der Ruhrtriennale am 4. September 2007:

Am Ende eines Doppelberichts zur Eröffnung der Ruhrtriennale erwähnt Frieder Reininghaus in der taz (6.9.2007) Christoph Marthalers Scelsi-Projektion mit freundlichem Gleichmut: In bewährter Manier stellt Marthaler das Repertoire seiner Slapsticks vor (...) Marthaler ist bei einem milde gestimmten Alterswerk angelangt, witzig, detailliert, kunstsinnig, aber mit nicht mehr viel Biss. So kommt Besinnlichkeit auf."

nach der Salzburger Premiere am 19. August 2007:

In der Süddeutschen Zeitung (21.8.2007) arbeitet Reinhard J. Brembeck vor allem die musikalische Dimension der ja auch als "Konzert" angekündigten Inszenierung heraus. Die zehn Scelsi-Stücke aus den Jahren 1954 bis 1987, die das Klangforum Wien darbiete, lasse Marthaler von seinem Schauspieler-Ensemble kommentieren und stelle damit die Frage, "wie viel heutigen Alltag die Avantgarde von früher aushält". Wobei er recht umstandslos in die Satire und den Slapstick einbiege und deutlich mache, dass "Scelsis Komponieren viel von Methode an sich hat". Der Regisseur sei nachgerade ein "Scelsi-Kritiker". Parodiert werde nicht nur, "mit welchem Unverständnis Normalmenschen auf Avantgarde reagieren, sondern auch, wie nah am Schindluder Avantgarde angesiedelt sein kann."

Julia Spinola in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.8.2007) indessen verstand Marthalers "Urheberei" durchaus als Analogie zu Scelsis Musik. Die "Unverbundenheit der Einzelklänge in seinen Stücken" korrespondiere mit der "Beziehungslosigkeit" der Darsteller. Und: "Wie der von Scelsi zelebrierte Kult des puren, syntaxlosen Klangereignisses sich den Formen eines diskursiven Musikverstehens zu verweigern trachtet, so versuchte die (...) Produktion, vollständig auf eine Handlung zu verzichten. Stattdessen begab sich Marthaler auf die Suche nach bildhaften Äquivalenten für den monolithischen Ausdruck von Scelsis Klangmeditationen."

Ulrich Weinzierl zeigte sich in der Welt (21.8.2007) ganz und gar beglückt und in Sektlaune. Scelsi gilt ihm als "Fixstern am Himmel der Moderne." Auf der Bühne sah er "ein verzaubertes, verwunschenes Haus voll seltsamster Bewohner." Sowie das herrlichst denkbare Zusammenspiel: "Mit winzigen Geräuschen und Gesten reagieren die Darsteller auf die mikrotonalen Veränderungen von Scelsis Musik. (...) Nein, dies ist kein Drama, kein buchstäbliches Schauspiel, sondern ein szenisches Konzert auf höchstem Niveau. (...) Marthalers schräger, minimalistischer Humor ist aus dem Geist der Musik geboren, so streng wie stringent. Reines Glück für Aug' und Ohr."

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