Geschichte aus einer Stadt vor unserer Zeit

von Christine Diller

Dresden, 27. Februar 2010. Da wiehert der gesamte Fürstenzug: All die ehrwürdigen Repräsentanten des Hauses Wettin, verewigt auf Meißener Porzellan und nun projiziert auf den Vorhang des Dresdner Staatsschauspiels, brechen samt ihren Pferden in schreckliches Gelächter aus ob solch weltfremder Tollpatschigkeit. Gerade nämlich hat der Student Anselmus am Schwarzen Tor zu Dresden ein altes Weib mitsamt seinen Äpfeln umgerannt, einige davon zermatscht, sein ganzes Erspartes vor Schreck und zur Wiedergutmachung dabei in den Sand gesetzt und sich damit den schönen Himmelfahrtstag versaut.

So erzählen es anfangs in verteilten Rollen die Schauspieler aus den dunklen Proszeniumslogen heraus, während im Video jener Anselmus auf einen ganz krassen Trip gerät. Und von dem kommt er nicht mehr runter, bis er mit seiner Schlangenfrau das sagenhafte Atlantis erreicht und die schlimme Realität endlich für immer hinter sich gelassen hat.

Das Märchen von der bösen, bierernsten Wirklichkeit

Sebastian Baumgarten hat die Novelle "Der goldne Topf" nach E.T.A. Hoffmann als Märchen nicht nur "aus der neuen Zeit", sondern der noch neueren Zeit erzählt. Die Männer tragen Rollis unter Jacketts zu bequemen Jersey-Hosen und unkleidsamen Kassenbrillengestellen. Die Frauen, allesamt Mädchen bis auf die böse Hexe, in netten Kleidchen. Und die bürgerlichen Stuben von Konrektor Paulmann und Archivar Lindhorst, in denen der Student Anselmus pflichtschuldigst verkehrt, hat Bühnenbildnerin Kathrin Frosch in eine Art zweistöckigen Plattenbau gepackt, den die Drehbühne mal von vorn, mal von hinten zeigt.

Unten haust der spießige Konrektor mit einem Aquarium und seiner ängstlichen Tochter Veronika, die es auf den Studenten Anselmus abgesehen hat, sofern der es einmal zur sicheren Position eines Hofrats bringen sollte. Oben, in einem Dschungel aus Topfpflanzen, vegetiert der Archivar mit seiner aufregenden Tochter Serpentina, die sich ab und zu in eine Schlange verwandelt und in deren sagenhaft dunkelblaue Augen der Student sich verguckt hat. Dabei sollte er doch durch Kopierarbeiten bei Archivar Lindhorst wieder zu Vernunft und Geld gebracht werden. Jetzt wird er dagegen in Erlösungspläne dieses eigentlich aus Atlantis verbannten Salamanderwesens verwickelt. So weit, so eindeutig das romantische Märchen von der biederen, bösen, bierernsten Wirklichkeit und der zauberischen, poetisch-überhöhten Traumwelt und so einleuchtend auch Baumgartens schön überspitzte Inszenierung.

Drollig sich windendes Schlangenmädchen

Sebastian Wendelin ist dieser total verspulte, ein wenig verklemmte Anselm, mit dem die bösen Mächte der Alltags- und der Unterwelt ihr munteres Spiel treiben. Zum Beispiel der oberlehrerhafte, honeckereske Konrektor in Gestalt von Wolfgang Michalek, seine gestörte Tochter, die zarte Picco von Groote, und sein Kumpel Registrator, der süffisante Fabian Gerhardt. Oder auf der anderen Seite der großartige Torsten Ranft als wahnwitziger, amphibienhafter Archivar mit Cathleen Baumann als drollig sich windendem Schlangenmädchen. Eine richtige Schlange spielt übrigens auch mit und schindet nicht nur in den vorderen Reihen mächtig Eindruck.

So rätselhaft und verwirrend, wie schon E.T.A. Hoffmanns Märchen ist, wird dann allerdings auch Baumgartens Inszenierung. Und man fragt sich spätestens ab der Mitte des Stücks, ob diese Anpassungsleistung noch hilfreich ist. Schließlich geht es darum, zu verstehen, warum Anselm in einem Kristall festgesetzt wird. Warum die Kulissen komplett in die Unterbühne hinabfahren und dort zum Atlantis werden. Was es bedeutet, dass Anselm die Weltflucht gelingt, und wie zynisch von Hoffmann die Ehelösung für Veronika gedacht ist, den väterlichen Freund und Registrator zu heiraten. All das verliert im wilden Hokuspokus, am Flügel virtuos von Max Renne untermalt, an Relevanz.

Als Phosphorus 1945 über Dreden kam

Nicht jedoch die Tatsache, dass dieses Märchen von romantischen Atlantisträumen, das in Dresden spielt, auch noch in dieser Stadt aufgeführt wird, die seit ihrer Bombardierung am 13. Februar 1945 den Mythos ihrer Schönheit mit legendärem Lokalpatriotismus und unbewältigter Opferrolle verknüpft. Natürlich lädt eine Figur wie Phosphorus, der in Hoffmanns fast visionärer Novelle auftaucht, dazu ein, Bilder von jener Bombennacht zu zeigen. Fragt sich nur, ob das die Verselbständigung des Dresdenmythos nicht eher nährt, statt ihn zu analysieren und zu hinterfragen.

Dennoch ist Baumgarten und seinem glänzend spielenden Ensemble eine freche, versponnene, zauberhafte Aufführung gelungen, ein in seiner Schrulligkeit hochkomisches Atlantis, in das man zwei Stunden lang amüsiert abtauchen kann.


Der goldene Topf
nach der Novelle von E. T. A. Hoffmann
Inszenierung: Sebastian Baumgarten, Bühne: Kathrin Frosch, Kostüme: Ellen Hofmann, Musik: Jörg Follert, Max Renne, Video: Stefan Bischoff, Dramaturgie: Jens Groß.
Mit: Sebastian Wendelin, Wolfgang Michalek, Picco von Groote, Torsten Ranft, Cathleen Baumann, Fabian Gerhardt, Max Renne.

www.staatsschauspiel-dresden.de


Der Regisseur Sebastian Baumgarten, der seine Theaterlaufbahn u.a. als Regieassistent von Ruth Berghaus begann, hat zuletzt im November 2009 am Stuttgarter Staatsschauspiel Michail Bulgakows Die Flucht inszeniert.

 

{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=WH_HqOtQeyU&feature=related}

 

Kritikenrundschau

Man müsse sich diese Inszenierung "mindestens drei Mal ansehen, auch wenn sie so manchem schon beim ersten deutlich zu viel wurde", meint Tomas Petzold in den Dresdner Neuesten Nachrichten (1.3.2010) mit Blick auf Sebastian Baumgartens Bühnenadaption des "Goldenen Topfes" am Staatsschauspiel Dresden. Was "mit Überforderung zu tun" habe. Baumgarten beginne in der "furiosen Inszenierung" zwar "fast ganz im Sinne Hoffmanns und mit viel Einfühlung in dessen Sprache, lässt es dann aber in der Waschtrommel seiner Zeitmaschine rotieren und bearbeitet es mit immer neuen, unvorhersehbaren Wendungen und Zitaten, bis sich auf radikale Weise greifbare Substanz von unauflösbaren Nebeln scheidet." In dem "nicht nur in den Mitteln durchdacht und selbstbewusst professionell inszenierten Wirbel aus Geschichte, philosophischen Anekdoten, banalen Episoden, düsteren Träumen und Erinnerungen" bleibe "kaum ein heiliges Axiom unangetastet". Wer unter der neuen Intendanz von Wilfried Schulz "bisher vergeblich auf eine polarisierende Inszenierung gewartet" habe, "hier hat er sie."

"Schrill, laut und schnell" sei Baumgartens Inszenierung, schreibt Valeria Heintges in der Sächsischen Zeitung (1.3.2010). Baumgarten beweise Hoffmanns Text "wohl anders Respekt, als es sich mancher gewünscht hätte", er nehme "das Kunstmärchen zum Anlass, um über Illusion und Realität, Dresdens Geschichte und den Einbruch des Fremden in das Bekannte nachzudenken". Dem Regisseur gelängen "zusammen mit einem Videokünstler und zwei Musikern verblüffende Spiele mit der Illusion", aber "die Grenzen dieser Illusionierung" seien "immer sichtbar und werden im Stil modernen Theaters auch zum Thema". Baumgarten bringe das alles "überaus dicht und komplex (…) auf die Bretter".

In der Dresdner Morgenpost (1.3.2010) schreibt das Kürzel gg (oder der-/diejenige, der/die sich dahinter verbirgt) davon, dass "Szenen von abgefahrenem Humor, bildgewaltigem Sog und geradezu schneidender Intelligenz, von überdrehtem Quatsch und beknackten Spinnereien" nahtlos in der Aufführung ineinander übergingen. "Nur wer textsicher ist, hat eine Chance, der Story zu folgen, alle anderen sind verloren." Dem spöttischen Zuschauerkommentar "Zirkus für Erwachsene" hält gg entgegen, dass es einen Weg gebe, "dieser Produktion Faszination abzugewinnen. Wenn man sie als Rausch begreift eben, weniger als Besäufnis freilich denn als LSD-Rausch. Verstanden als Halluzination ist sie grandioses Theater."

Katrin Bettina Müller
in der taz (10.3.2010) lobt zunächst Sebastian Baumgartens "große Begabung für die Überblendung unterschiedlicher Welten". "Doch je öfter sich ein Türgriff in eine Hexe verwandelt und Töchter in Schlangengestalt auftreten, desto mehr hechelt die Inszenierung dem Plot hinterher und ist in langen Textpassagen mit Erklären beschäftigt." Auch eingeschobenen Texten, etwa von Boris Groys, "fehlt der Raum", in dem sie verstanden werden könnten. Und dass Baumgarten das Fremde, "Nichtverstehbare" der arabischen Schriftzeichen, die Anselmus bei E.T.A. Hoffmann zur Abschrift gegeben werden, zum Anlass nimmt, "terroristisch gesinnten Fundamentalismus" zu zitieren, hält die Kritikerin für eine "oberflächliche Politisierung des Stoffes" und "eine große Verengung des Interpretationsraums". "Durch solche Schachzüge verspielt die Inszenierung, was sie zunächst durch ihr musikalisches Timing an Leichtigkeit gewonnen hatte."

 

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