Die reinste Budenzauberherrlichkeit

von Shirin Sojitrawalla

Frankfurt, 9. März 2010. Die Bühne im Bockenheimer Depot ist eine Mischung aus Amphitheater und Zirkuszelt. Kleine Vorsprünge, auf denen noch nicht einmal ein Kinderfuß genügend Platz fände, sind Steilvorlage für allerlei lustige Auftritte und führen von oben hinunter auf eine kleine Drehbühne, auf der drei weiße schwermütige Luftballons ihre Köpfe in den Himmel zu recken versuchen. Freundliche Quatschmacher bevölkern die Bühne, und so richtig weiß man nicht, in welchem Stück man sitzt.

Bis der erste Satz aus Goldonis "Der Diener zweier Herren" ertönt, dauert es nämlich eine ganze Weile, doch bis dahin vertreibt die aufgeweckte Truppe uns die Zeit mit ihren Späßen. Und auch später, wenn alle Wesentlichkeiten des Stücks Erwähnung finden, dehnt das Ensemble die Handlung mit seinen schönen Schnapsideen, polyglott radebrechendem Sprachwitz, übermütigen Musik- und Turneinlagen sowie jeder Menge Schabernack und schwarzhumorigem Slapstick. Und das bringt einen oft mehr zum Lachen als Goldonis Sätze.

Unwirklich fantastisches Licht

Andreas Kriegenburg inszeniert den Commedia-dell’arte-Klassiker ohne Masken und in zirkushafter Budenzauberherrlichkeit. Alle Figuren sind weiß und cremefarben angezogen und die Bühne umstrahlt ein unwirklich fantastisches Licht. Truffaldino trägt als Clown vom Dienst zumindest eine Harlekinkrause um den Hals, aber ansonsten spielt ihn Mathis Reinhardt als sehr eigene Marke, nämlich hinreißend niedlich.

Mit seinen traurigen Augen und dem kindsköpfigen Gebaren ist er drolliges Kerlchen und süßer Tolpatsch. Valery Tscheplanowa gibt die umwerfende Rosaura als görenhaft kieksenden Goldengel und Roland Koch ist ein Pandolfo, der sich nicht zu schade ist, auch einmal als Albatros im Metallreifen zu kreisen. Wie überhaupt an diesem Abend keiner der Schauspieler auf der Bühne den Eindruck erweckt, er gehöre da nicht hin.

Dabei motzt die Truppe das Stück auf, wie es ihr in den Sinn zu kommen scheint. Zum Prusten blöd erstickt da etwa Blandina (Henrike Johanna Jörissen) an eben jenem Brotkrumen, den Truffaldino aus Versehen absichtlich hinunterschluckte, was in Frankfurt bloß von Pandolfo gesagt, von Truffaldino aber nicht ausgeführt wird. Aus diesem kleinen Einfall ergibt sich eine komödiantisch vollkommen übergeschnappte Glanznummer, die zwar Goldonis Text links liegen lässt, aber dafür gleich drei Schauspielern die Möglichkeit gibt, zu glänzen.

Originelle Form der Arbeitsverweigerung

Dabei hat man zuweilen den Eindruck, die Inszenierung nehme das ganze Stück auf den Arm, besonders die Liebesgeschichten wirken in Frankfurt wie ein Vollscherz, aber nicht viel anders wirken sie auch auf denjenigen, der das Stück heute liest. Während man aber vor der Pause aus dem Lachen gar nicht mehr herauskommt, verläppert sich das wilde Amüsement danach ein bisschen. Dann wartet man eigentlich nur noch auf den üblichen Höhepunkt: die Kellner-zweier-Herren-Nummer, bei der Truffaldino seinen beiden Arbeitgebern zur gleichen Zeit das Essen serviert.

Doch diese berühmte Szene, "the famous scene", wie Truffaldino sagt, fällt in Frankfurt aus. Na ja, nicht ganz, doch wir sollen uns das Meiste einfach einbilden. Truffaldino versichert dem Publikum, man habe lange geprobt, doch es sei einfach unmöglich, die Szene hinzubekommen. Das glauben wir gern, und lächeln über diese originelle Form der Arbeitsverweigerung, die mit wilder Spieltriebhaftigkeit wettgemacht wird. Die Nummer wird dann irgendwie doch noch aufgeführt, statt Essen verteilt Truffaldino aber bloß T-Shirts, auf denen die jeweiligen Speisennamen stehen. Den Rest besorgen Wille und Vorstellung. Nach exakt zweieinhalb Stunden verbeugt sich das Ensemble dann zum Schlussapplaus. Und wir? Sind amused.

 

Der Diener zweier Herren
von Carlo Goldoni
deutsch von Friedrich Ludwig Schröder
Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Harald Thor, Kostüme: Katharina Kownatzki, Dramaturgie: Alexandra Althoff.
Mit: Roland Koch, Valery Tscheplanowa, Thomas Huber, Christian Bo Salle, Bettina Hoppe, Sascha Nathan, Nils Kahnwald, Henrike Johanna Jörissen und Mathis Reinhardt.

www.schauspielfrankfurt.de

 

Mehr über Andreas Kriegenburg lesen Sie im entsprechenden Glossareintrag von nachtkritik.de. Eine andere Diener zweier Herren-Inszenierung fand vor zweieinhalb Jahren in der Wiener Josefstadt statt.

 

Kritikenrundschau

"Er ist bunt. Er ist ein Betrug. Und er ist eine Beleidigung", schreibt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.3.2010) über diesen Abend. Auf dem Theaterzettel stehe, man gebe den 'Diener zweier Herren' von Carlo Goldoni. Doch das sei ein Betrug. Denn dieses Stück werde zweieinhalb lange weilende Stunden lang derart in den Hintergrund gedrängt, "dass der Vordergrund sich in andauernder szenischer Schaumschlägerei selbst befriedigt." Man sehe einen bunten Abend. Comedy statt Komödie. "Der Abend zerfällt in Zirkusnummern. Statt Commedia dell'arte eine Commedia dell'Schwarte. Das Traumspiel wird zum Albtraumgehopse. Angerichtet von Andreas Kriegenburg, einem der altgedienten einfallspinselnden Folterknechte des neudeutschen Theaters. Dessen ostdeutsch gefärbte Spezialität war es bisher eigentlich, Tragödien zu enteignen und zu regievolkseigenem Allerlei zu sozialisieren. Jetzt macht er sich auch noch an Komödien."

"Im ersten Moment ganz witzig, irgendwann aber auch überflüssig" findet in der Süddeutschen Zeitung (11.3.2010) Jürgen Berger den entschleunigten Abend, den Andreas Kriegenburg aus Goldonis rasanter Verwechslungskomödie gemacht hat. Denn für den Kritiker sieht es so aus, "als habe Kriegenburg sich gelegentlich in der Weite der Improvisation verloren und Goldonis Komödie nicht immer dort abgeholt, wo sie auch aus heutiger Sicht noch ganz knackig ist. Geschieht es dann doch, wird es richtig gut."

"Zweieinhalb Stunden des Vergnügens an einer leichtfüßigen, aber nie leichtfertigen Aufführung" gibt in der Frankfurter Rundschau (11.3.2010) Peter Iden zu Protokoll, und zwar "durchzogen von eigenwillig schwebenden und doch kontrolliert in Form gehaltenen Phantasien." Dargetan wird das ganze aus seiner Sicht "von einem Ensemble, das mit seiner Spielfreude und vielfältigen Begabungen sehr für sich einnimmt. Alles ist hier Eroberung: Wieder entdeckt und gewonnen werden das Bockenheimer Depot als Spielort, Bühnenbild von Harald Thor und Kostüme von Katharina Kownatzki als wesentliche Elemente des Theaters, und mindestens zu Teilen eine der berühmtesten Komödien der dramatischen Literatur."

 

 

Kommentare  
Kriegenburg in Ffm: die interessanten Sachen immer woanders
Diese Art von Theater hat Kriegenburg schon mit Tschechows Onkel Wanja am Thalia in Hamburg versucht. Ein verspielt verträumtes melancholisches Clownstheater mit Musik. Ich finde das sehr poetisch und nicht so verkopft wie der Molière am DT. Schade das Kriegenburg immer wo anders die interessanten Sachen macht. Und dann ist das auch wieder so ein wer fehlt in Berlin. Valery Tscheplanowa und Bettina Hoppe, bitte wieder zurück kommen.
Goldoni in Ffm: Zensierter Hilfeschrei
(...) Gerhard Stadelmaier (...) sollte endlich begreifen, dass auch östlich des Mains Theater gespielt wird und einige der besten Regisseure eben aus diesem Osten kommen.
Was sagen eigentlich die Frankfurter Zuschauer dazu?

Sorry, Herr Stefan, aber gemäß unseren Goldenen Regeln für die wahre Kommentarkunst fallen auch nachvollziehbare Wutschreie, die mit rhetorischen Aufrufen und Unterstellungen gegenüber Personen des öffentlichen Bebens arbeiten, unter die Zensur.
Grüß Gott
die Redaktion
Goldoni in Ffm: Nachfrage wg. Zensur
O.K., dann anders. Wut empfinde ich nicht beim lesen von Stadelmaier-Kritiken, nur großes Bedauern. Aber sind denn jetzt Spiralblock und Schönsprechtheater Unwörter bei der Kritik seiner allbekannten Ausführungen? Er nimmt ja auch kein Blatt vor den Mund. Na dann schreib ich vielleicht einen Leserbrief an die FAZ, wenn das hier nicht geht.

Lieber Herr Stefan,
nein, "Spiralblock" und "Schönsprechtheater" sind super-Worte.Ich freu mich schon drauf, welche Sätze Sie damit konstruieren werden.
Und nochmal nein, er nimmt wirklich kein Blatt vor den Mund. Aber er unterzeichnet eben auch mit vollem Klarnamen. Das ist immer wieder der Unterschied.
Herzlich
nikolaus merck
Goldoni in Ffm: bloß kein Lob dieses Mannes
Es ist wirklich nicht sonderlich wichtig sich an einzelnen nörgelnden, gehässigen oder auch gedankenlosen Formulierungen dieses Kritikers aufzuhalten, so bewegend die Begegnung mit seinen Worten auch sein mögen, da die Vision seines Geschmacks in einem Theater sich findet, dass in jedem Fall inakzeptabel ist und dem aufs schärfste zuwider gehandelt werden muss, auch auf die Gefahr hin tatsächlich belangloses und schlechtes Theater zu produzieren, sollte jeder Groll sich in zärtliche Gelassenheit wandeln. Der Gelungeheitsidee dieses Kritikers zu widersprechen ist höchste Theaterpflicht und jedwedes Lob muss hingegen alle Alarmglocken in Gang setzen die verfügbar sind. Nichts in unserer Theaterwelt kündigt mehr von der Sedierung gedanklicher Lebendigkeit als ein Lob dieses Kritikers. Insofern erübrigt sich der Zorn an dieser Stelle.
Goldoni in Ffm: triefender Hass?
dieser triefende hass, mit dem stadlchen immer wieder um sich schmeißt, ist erschreckend und augen öffnend zugleich.

davon abgesehen: mich persönlich reizt die kritik, schade, dass ich's in absehbarer zeit kaum nach frankfurt schaffen werde, um mir diesen scheinbar spielfreudigen, bunten abend anzusehen.
Goldoni in Ffm: stehe nicht allein
Nocke spricht mir aus der Seele......bin also mit diesem Gefühl nicht allein
Danke
Goldonis Spiralblock: Eine Ode
Ode an den Spiralblock
zur Rettung der abendländischen Kultur


Die Kunst des schönen Sprechens am Theater
Oh Block du weißt welch Geistes Vater
Sie zu verdrängen sucht in einem fort
Von diesem wunderbaren Ort
Die will ich preisen auf dir jeder Zeit
Zu allem dafür bin ich stets bereit

Just Edith sah ich deklamieren
So wunderschön und nicht auf allen Vieren
Wie diese Frevler vor des Macbeth Thron
Verspottend diese Kunst Doch ihren Ton
Wird niemand treffen nicht in Jahren
Dies bin ich angetreten zu bewahren

Und so Spiralblock mein
Muss ich Tag aus Tag ein
Beschreiben dich ohn Rast und Ruh
Doch ach die Liebesmüh wozu
Kannst lieber Block du mir das sagen
Ich will nicht ob der großen Last verzagen

Und wieder muß ich da entdecken
Versuchen heimlich ein paar Gecken
Die Kunst des wahren Schönen
Mit lauter Ekel zu verhöhnen
Als Waffe für oh Block ich Dich ins Felde
Der Sieg ist unser schon in Bälde


Na bitte, sach ichs doch.
Glückwunsch
nikolaus merck
Goldonis Spiralblock: ich versuche mich ja auch schon
@ 7

Ein Ort "wilder Kunstproduktion": nachtkritik de. !
Freut mich, Ihre Ode zu lesen, versuchte mich ja auch schon, -so castorfangebunden- mit Werchowenskij und Polleschabenden statt Schuhen als "Protestform" ("Das Werchowenskij-Gambit",
siehe Wuppertal I, wird ja von Herrn Chlebusch so getan, ich werde auf seinen "Biedermeier 2.0-Artikel" noch zurückkommen
("Die Deutsche Bühne", Märzausgabe 2010), als hätte es dergleichen in Wuppertal I nie gegeben, sondern nur ein einziges Gehacke, Gebeiße, Lamentieren ...)), wirklich, ohne Witz, machen Sie bitte weiter so und ähnlich, denn das können in der Zukunft noch ganz ordentliche Threads werden, denke ich !!
Meinen Sie Edith Clever ??
Dazu fällt mir allerdings ein, wo anderenorts so über die Volksbühne hergezogen wird oder die goldene Vergangenheit besungen, daß das gerade für mich ein Erlebnis war, die Edith Clever neben der Rois, neben der Peters in Genets "Zofen": das ist noch garnicht so lange her und hat irgendwie auch etwas von einem Fingerzeig gegen verhärtete Fronten !
Goldonis Spiralblock: Clevers Verdienste unumstritten
Damit keine Missverständnisse aufkommen, ich finde Edith Clevers Verdienste am deutschsprachigen Theater als unumstritten. Hier ging es allein um die Wahrnehmungen eines einzelnen Herren mit Spiralblock.
Goldonis Spiralblock: Rüschen an Gardinen
wenn es allein um die Neigung zu Schauspielern und ihren wirkmächtigen Sonderheiten ginge, wäre es ja mehr als verständlich, denn einer der Liebeskrank sich nur den oder die eine denken kann, hätte etwas rührend heroisches in seiner süßen Einfalt, nur haben wir es nicht mit einer solchen zu tun, sondern mit jemandem, der immer nur und allein auf die Gardinenstore schaut, ob die auch die entsprechenden Rüschen haben, da allein ein repräsentativer Kitschappeal für ihn von Belang ist, den Theater auszustrahlen vermag, bei Abwesenheit dieser für ihn so erregenden Duftmarke, sprüht er nicht unintelligenten Abscheu, der durch die gleichzeitige Unwilligkeit dabei auch Gedanke aufkommen zu lassen so niederträchtig wirkt.
Goldonis Spiralblock: noch n schönes Gedicht
nach einlaß und der schnellen stille wendet windgeschwind der stift im wald der wörter
satz für satz, block um block vor meiner brille.
oh dies linde schauspielgesinde, wohlan erinnyen,
ich, der einzig sehende, ich, unter lahmen blinden.

hier auf dem sperrsitz meiner lauen liebe
verwalt ich der ausgelaugten augen meisterdiebe
um zu schaun der seel´ blutenroten samt
wohlan dies ist mein behuf, dies ist mein amt.

jedoch,kein antlitz, welches kleistern kotzt,
kein organ, das vom geschlechte lüstern kündet,
alles harrt und weilet, alles still dem jetzo trotzt
und in ewiggleichem immerschönem mündet.

nicht derbes, herbes verwandtes sich verirrt ?
auf diese bretter, denen welt ich zollen sollt ?
mein sold, zug um zug erster klasse, wollte groll
und nun: ein "jawoll" erles ich meinem goldnen blatte hort.

so liegt es vor mir, verworren und verwirrt
ich torkele durch hohle gassen, narziss in lacken,
von wirt zu wirt, alle lachen meiner macken,
oh ich tier,
ein lob hat sich verirrt, so stehts geschrieben,
schwarz auf weiss, pointiert auf a 4, kleinkariert.

oh meine seel....
Goldonis Spiralblock: ins Kraut schießende Vermutung
Na wenn sich da nicht Herr Stadelmaier selbst zu Nachtkritik verirrt hat. Glückwunsch, war auch nicht schlecht. Aber ich wollte auch nicht in einen Sängerwettstreit treten.
Die Formulierungskunst beherrscht er ja ohne Frage nur die Polemik ist immer so billig.
Goldonis Spiralblock: Sind das noch die bekannten Stücke?
Dazu muss doch noch gesagt werden, dass die Aufführung selber natürlich Anlass gibt, das Verfahren mal ernsthaft zu hinterfragen, die Stücke überhaupt noch als solche zu benennen, ein Abend angelehnt an…, oder angeregt von…, weil ja eh das Stück bloß Anreger und Anlehner für Kurzweil ist, wäre wirklich fällig. Man tut den Stücken, den Autoren und sich selber keinen Gefallen, wir glauben noch ans Quatschmachen, aber nicht an die Stücke, an Dramaturgie, an Inhalt, wozu Lügen, wozu so tun als ob? Marketing?
Goldonis Spiralblock: gehört umgekrempelt
richtig, keiner von den Theatermachern glaubt an die Stücke, sondern nur an die Machart - hat das Stück ein paar Jährchen auf dem Buckel ist klar, dass es irgendwie umgekrempelt gehört.
Goldonis Spiralblock: Junge sind so Theater-konservativ
Hier nebenan bei Thalheimers Sophokles trauert auch eine junge 17 jährige Schülerin darüber, das die Stücke als solche nicht mehr erkennbar sind. Das tut mir dann auch immer leid, wenn ich meinen Neffen ins Theater geschleift habe und er nichts damit anfangen kann. Woher kommt dieser Hang zum Traditionalismus bei den jungen Leuten heute? Schräge Klamotten, laute Musik, alles wie in meiner Jugend, aber beim Theater immer so konservativ. Fehlt es da irgendwie noch an Vorstellungskraft.
Goldoni in Ffm: Kritik berührt den wunden Punkt
Stadelmaiers Kritik in der FAZ ist angemessen und trifft die Inszenierung dort, wo es weh tut, in den Magen. Kriegenburg zeigt bei seiner Goldoni Veräppelung auch, dass er ein liebenswerter Blender ist. Die Anspielung Stadelmaiers auf die Herkunft Kriegenburgs ist daher nicht unwichtig. Die sog. Wiedervereinigung hat gerade auf westdeutschen Bühnen -mit wenigen Ausnahmen- viele Vereinfachungseffekte und sozialverkitschte, massentaugliche Anything- Goes-Interpretationen von Klassikern etabliert. Aber genau das treibt ja wiederum vielen Menschen in die Theater. Gerade in Reeses Frankfurt ist gut zu beobachten wie massenkompatibles Theater zu vollen Sälen führt und zu einem begeisterten Publikum. Dieses Phänomen ist genau so wenig zu kritisieren wie Stadlmeiers Kritik selbst, die ja auf den wunden Punkt zu sprechen kommt und dafür deutliche Worte nutzt. Ich jedenfalls wünschte mir, es gäbe mehr Kritiker von Stadelmaiers Größe, die ihren Job beherrschten und Klamauk von Goldoni unterscheiden könnten.
Goldoni in Ffm: ein Zeichen von Vitalität
allerdings ist es nun doch nicht so einfach, und bestimmte Dinge sollten besser nicht vermengt werden. Es bedarf keiner Größe Klamauk von Goldoni zu unterscheiden, das trifft nicht den Punkt. Jeder der die Aufführung sieht, versteht leicht, dass das Stück nicht nacherzählt wird und das solchem Nach-und Nochmalerzählen nicht vertraut wird, im Gegenteil ist jedem rasch und leicht ersichtlich, dass mit dem Text gespielt und gehadert wird, das er lockt und zugleich solcher Verlockung auch misstraut wird. Der Versuch daraus ästhetisches Kapital zu schlagen, diese Anziehungs- und Abstossungsenergien in eigenes Spiel zu verwandeln ist mehr als bloß klamaukgesteuert - dieses Interese und diese Aufmerksamkeit sind wegen ihrer Neugier und Wachheit unbedingt Zeichen einer Vitalität ohne die Theater längst zur ritualisierten Zapfsäule für immer gleiche Phänomene veröden würde. Auch von Massenkompatiblem Theater zu sprechen ist schlecht möglich - Theater ist kein Massenphänomen. Auch taugt es nichts, Zuschauer die massenhaft ins Theatergehen zu diffamieren, oder auf Erfolge mit jener ihr seid-bloß-Masse-Keule zu schlagen, ebenso wie dieser Vorwurf der Beliebigkeit nicht triftig ist, das solche Beliebigkeit auch eine notwendige Bedingung von Lebendigkeit ist ( die Beliebigkeit muss eher gesteigert als eingeschränkt werden). Allein, die Frage, ob das, was tatsächlich zur Vorstellung kommt, einem etwas zu sagen vermag ist für den Einzelnen(!) wirklich von Interesse.
Goldonis Spiralblock: Fähigkeit zur Selbstironie
@12. ins Kraut schießende Vermutung
Sie haben Recht, das würde eine Fähigkeit zur Selbstironie bei St. voraussetzen.
Goldoni in Frankfurt: mündig sei der Zuschauer
Ich möchte mich hier doch noch mal zu Wort melden. Ich kann Nockes Beitrag voll zustimmen, will aber auch noch etwas weiter gehen.
Wer besitzt denn eigentlich neben dem Autor die Deutungshoheit über ein Theaterstück? Doch nicht der Kritiker oder irgendeine Gruppe von selbsternannten Schöngeistern, sondern die Macher und der mündige Zuschauer als Gegenüber. Ansonsten könnte man das Theater ja auch mit samt den Regisseuren abschaffen und Bewahranstalten für den guten Geschmack einrichten, in denen uns immer wieder Stücke gezeigt würden, die wir so schon Dutzende Male gesehen haben. Das wäre doch auf Dauer öd und gäbe keinen Sinn. Herr Truck ist gegen Massenkompatibilität, propagiert aber mit seinem Willen zu Stücktreue Einfalt statt Vielfalt? Darin ähnelt er fast schon den Kulturpolitikern der DDR.
Es würde irgendwann die gediegene Langeweile herrschen und übrigens kämen dann auch keine Gegenwartsstücke mehr vor.
Hat denn nicht auch im Gegenzug zur These vom importierten Osten, Michael Thalheimer seine Art der Reduktion als westsozialisierter Regisseur in den Osten gebracht.
Ich würde heute kein Theater mehr betreten, wenn ich schon vorher wüsste, was dort tatsächlich gegeben wird. Die sogenannte Blendung oder Vereinfachung besteht nicht darin, etwas zu zeigen was nicht erwartet wird oder wie es sein könnte, sondern darin, schon vorher wissen zu wollen, wie es sein müsste.
In diesem Sinne wünsche ich Oliver Reese weiter ein gutes Händchen bei der Auswahl der Regisseure und den Frankfurtern interessante Stückinterpretationen in immer vollen Theatersälen.
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