Wie Vögel nach einer Sonnenfinsternis

von Joachim Lange

Basel, 15. März 2010. Die Schweiz hat zwar viele Berge, aber keine Wüste. Und der wohl bedeutendste lebende Komponist unter den Eidgenossen, Beat Furrer, hat nach eigenem Bekunden auch noch nie eine besucht. Dennoch heißt sein neues Stück Musiktheater nicht nur "Wüstenbuch", sondern hat auch mit der Wüste zu tun. Natürlich nicht mit einer, die ein mit Nil und Pyramiden ausstaffiertes Reiseziel abgeben würde. Sondern mit einer Wüste als Ort der Seelenerkundung. Einer metaphorischen Fremde in uns.

Gemessen an dem simplen Wunsch, von A bis Z auch zu verstehen, was auf der Bühne vor sich geht, ist das aus vielen Zutaten vom Komponisten selbst aus ganz unterschiedlichen Texten zusammengestellte Libretto, wenn nicht ein Buch mit sieben Siegeln, so doch eins mit einigen Fragezeichen.

Zwitschern von getupften Streicherklängen

Die Wortmelange bezieht eigens verfasste Textfragmente von Händl Klaus ebenso ein wie Passagen aus Ingeborg Bachmanns "Todesarten". Aber auch Lucius Apuleius in Latein, Verse von Antonio Machado in Spanisch oder die über eine historische Distanz von 3024 Jahren zu uns herüber leuchtenden Worte eines ägyptischen Papyrus, die Jan Assmann übersetzt hat und die wohl bei Furrer der Auslöser für das ganze Projekt waren: "Der Tod steht heute vor mir, wie wenn sich der Himmel enthüllt…". Aber das ist wirklich nur ein Fragment. Die Texte werden teils gesungen, teils gesprochen und immer irgendwie in das Ganze integriert.

Musikalisch ist der Abend ein Wechselspiel von gerade noch hörbaren, kostbar von Stille eingerahmten, gesungenen Tönen, einem Sirren oder Zwitschern von getupften Streicherklängen und immer mal dazwischenfahrenden Bläserpinselstrichen, die dem Ganzen Schweben und Raunen eine Richtung geben. So wird das, was aus den Kehlen der Sopranistinnen Hélène Fauchère und Tora Augestad, des Baritons Sébastien Brohier und dem als Chor fungierenden Ensembles Solistes XXI kommt, mit dem, was die zehn Bläser und fünf Streicher des Klangforum Wien und ihre Kollegen an den zwei Schlagwerken, dem Klavier und dem Akkordeon der Stille abringen, zu einer ganz eigenen Welt. Die fasziniert, wenn man sich darauf einlässt. Und die sich in einem Moment wunderbarer musikalisch und szenischer Ironie sogar physisch selbst negiert: Wenn nur der Kontrabass und die Sopranistin miteinander flirten, dann ist der Rest des Orchesters, scheinbar weggeschlummert.

Schwirren der ersten Worte

So was kommt eben vor auf einer jener seltsamen Marthaler Bühnen, die Anna Viebrock schon in alle möglichen Richtungen variiert hat. Diesmal hat ihr Bruder im Geiste, Duri Bischoff, einen zweistöckigen Irgendwo-Raum gebaut und davor das Orchester platziert. Es ist eins von den Hotels, an denen man sich wirklich nur auf der Bühne erfreuen kann. In die drei Zimmer über dem offenen Kellergeschoss kann man nämlich hineinsehen. Von dort oben schwirren die ersten gesprochenen Worte los. So wie verirrte Vögel.

In einem Zimmer fehlt der Ventilator, zwei haben einen schmalen Austritt, aber kein Geländer. Im Untergeschoss hat man einige der Waschbecken geklaut und dafür ein Sofa und Stühle vom Sperrmüll reingestellt. Und ein Klavier. Ein Mann sitzt an einem Tisch und simuliert Geschäftigkeit. Frauen mit Mantel und Handtasche laufen immer wieder von rechts nach links über die Bühne. Bis sie die Orientierung verlieren, wie Vögel nach einer Sonnenfinsternis.

Plötzlich schrecken sie am Ausgang zurück und wenden sich mit dem Gesicht zur Wand. Dann wieder zünden sie sich Zigaretten an, um sie gleich wieder fallen zu lassen. Oder sie fotografieren die Wände, vor denen sie stehen, als wären sie Archäologinnen. Kurzum, sie machen all das, was Marthaler-Menschen in einer Pension Nirgendwo irgendwann eben immer so machen. Diesmal bei einer Exkursion in einen Grenzbereich zwischen Erinnerung und Vergessen. Und das Ganze sieht nicht nur faszinierend fremdartig, eigensinnig und zugleich vertraut aus. Es klingt diesmal auch so. Für die Koproduktion des Theaters Basel mit den Berliner Festspielen und den Wiener Festwochen, die nach zwei weiteren Vorstellungen in Basel, am 27. und 28. März auch in Berlin zu sehen sein wird, gab es einhelligen Beifall.

 

Wüstenbuch
Musiktheater von Beat Furrer, Uraufführung
Musikalische Leitung: Beat Furrer, Inszenierung: Christoph Marthaler, Bühnenbild: Duri Bischoff, Kostüme: Sarah Schittek, Dramaturgie: Ute Vollmar.
Mit: Hélène Fauchère (Sopran I), Tora Augestad (Sopran II) Sébastien Brohier (Bariton),  Carina Braunschmidt, Olivia Grigolli, Catriona Guggenbühl, Ueli Jäggi, Isabelle Menke, Bettina Stucky, Solistes XXI (Einstudierung Rachid Safir), Klangforum Wien 

www.theater-basel.ch


Mehr über Christoph Marthaler erfahren Sie im entsprechenden Glossareintrag von nachtkritik.de.

 

Kritikenrundschau

In der Welt (17.3.2010) schreibt Wiebke Gerking über Furrers Komposition: "Furrer webt keine Flächen, er malt kein Gemälde; er verzwirbelt winzige Motivfetzen, Geräuschpartikel, Rhythmusattacken zu einem Klangfaden. Dieser Faden kann sich – selten – anfühlen wie ein geschmeidiges Stück Wolle, das zart an einem vorbeistreift; oder – öfter – wie ein Pferdehaar, das schmerzhaft in die Haut schneidet." Die Musik sei "anstrengend",  "weil Furrer fast immer auf leise Töne setzt". Am Ende aber habe man das Gefühl, "tatsächlich durch eine Wüste gegangen, dem Nichts ganz nahe gewesen zu sein, in seiner ganzen Schrecklichkeit wie Tröstlichkeit". Marthalers Regie sei "kongenial". Die "entfremdeten Verrichtungen auf der Bühne" oder auch das leitmotivische, auf den Tod Ingeborg Bachmanns verweisende Spiel mit einer brennenden Zigarette, die immer wieder fallen gelassen werde, ließe einen "zwischendurch Luft schnappen in dieser trostlosen, scharfen Welt aus aufgeladenen Klängen – ohne ihnen etwas von ihrer Substanz zu nehmen".

Peter Hagmann in der Neuen Zürcher Zeitung (17.3.2010) widerspricht Beat Furrer, der seine Musik als eine "Reise an die Grenzen der Existenz" begreife. Eine Reise hätte mit Bewegung, "im besten Fall sogar mit einem Ziel" zu tun. Von beiden könne im Falle von "Wüstenbuch" jedoch "keine Rede" sein. Gleichwohl evoziere das auf altägyptischen Papyri, Ingeborg Bachmanns "Todesarten"-Zyklus und Texten von Händl Klaus beruhende Libretto Gefühle von "Grenzerfahrung, Fremdheit, Verlorenheit". Die Musik setze "radikaler als in den vorangehenden Opern Furrers auf Reduktion". Wobei die "ins Werk eingelassene Komposition 'Lotófagos'" eine durchaus irritierende Nähe zu einem Kollegen zeige. "Die kleinen, rasch wiederholten Halbtonschritte und die sparsamen Gesten, bei denen sich ein liegender Ton in der Lautstärke steigert und sich dann in einer rasch kreisenden Bewegung auflöst, das sind charakteristische Merkmale des Personalstils von Salvatore Sciarrino, die der italienische Komponist in einer Vielzahl ebenfalls sehr leiser Stücke virtuos ausgearbeitet hat." Eine solche "Identifikation" mit einem anderen habe Furrer, der "seinerseits über eine klar ausgeprägte Handschrift" verfüge, doch eigentlich nicht nötig.

"Wüstenbuch" sei eine "der stimmigsten, fremdesten, schönsten Musiktheaterreisen seit langem", befindet Wolfgang Fuhrmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.3.2010). Sie basiere auf der "Kongenialität von Marthalers und Furrers Welten": "Hier wie dort sind sie bestimmt von bedächtigen, aber obstinaten, bewusst begrenzten, mit gelinden Variationen etliche Male wiederholten Verläufen, die refrainartig wiederkehren." Wie im "dreifachen Pianissimo des Prologs", wenn sich eine vom Akkordeon 'zitternd' gespielte kleine Terz mühsam immer wieder die Tonleiter hochschleppt, während die Streicher flöten und die Bläser raunen". Auf der Bühne wil es den Schauspielerinnen indessen nicht gelingen, sich eine Zigarette anzuzünden – "immer wieder fällt sie aus dem Mund". Vielleicht sei "Wüstenbuch" im Werk beider Künstler nicht die "stärkste Leistung". "Als ein Ereignis des Theaters aus dem Geiste der Musik aber wird es lange im Gedächtnis bleiben."

Reinhard Brembeck in der Süddeutschen Zeitung (17.3.2010) staunt, dass Furrer, der schon immer ein "Tramp der Avantgarde" gewesen sei, eine Grenze entlang ginge, "an der sich das Unfassbare auftut, das Erlebte schwindet, die Zukunft schweigt". Seine – "geradezu barockisierend" – Nummer für Nummer komponierten Vertonungen seien dabei aber häufig "nur Anregung" und könnten "vom Regisseur auch weggelassen" werde. Wovon Christoph Marthaler "durchaus Gebrauch" mache. Herausgekommen sei der "Wirklichkeit gewordene Traum von einem Theater, das keine Geschichte mehr erzählt, das keine Gestalten mehr entwirft", aber dabei "Dank seines poetischen Reichtums" "Relevanteres erzählt, als Geschichten und Gestalten dies überhaupt können".

Man müsse "Wüstenbuch" als "Installation mit hinzugefügter Musik und Sprache" nehmen, meint Hans-Klaus Jungheinrich von der Frankfurter Rundschau (22.3.2010). Die Wüste werde in Marthalers Optik "augenfällig als die Ödnis von Hotelzimmern und lieblos-zufällig möblierten Eingangsräumen, durch die Personen (...) hindurchgehen in der banalisierten Rätselhaftigkeit stereotyper Abläufe". Marthaler nehme die "outrierten Skurrilitäten" bei den Darstellern immer mehr zurück, man könne urteilen, dass sein Theaterstil sich "in seinen produktiven Einfällen gemildert, erschöpft und verbraucht habe und zahnlos geworden sei oder, fast schlimmer noch, dass er durch bessere Eingeübtheit nun geradezu Klassizität, Gültigkeit, Unwidersprüchlichkeit sich anmesse". Man könne in solcher Beruhigung allerdings auch gerade "ein kritisches Ferment sehen, die Verweigerung spektakelnder Eventhaftigkeit" – womit man auch "nah an die Intentionen des Komponisten" gelange. "Melodien, Rhythmen, Dissonanzen, Ballungen und Entflechtungen - das alles verschwindet bei Furrer zwar nicht ganz, aber es wird gleichsam von der Wurzel her neu konfiguriert. Das Tastende, Suchende, Fragile der Gestaltentstehung geschieht aus dem Nebenhaften, Schlierigen, Verschleierten".

 

 

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