Das kann doch eine Ratte nicht erschüttern

von Otto Paul Burkhardt

Stuttgart, 20. März 2010. Alle haben ein Problem: Sie arbeiten, bemühen sich redlich, dies auch gerne zu tun, und verpassen dabei ihr Leben. Später kommen die Krankheiten: Infarkt, Osteoporose und so weiter. Womöglich ein Unfall, der Tod der Partnerin. Arbeitslosigkeit. Und entsprechend lautloses, sozialverträgliches Ableben. Um all das geht's in Sibylle Bergs neuestem Stück "Hauptsache Arbeit!" – wobei das tapfer gut gelaunte Ausrufezeichen beredt Auskunft gibt über den Gemütszustand der Beteiligten: Normalität und nackte Verzweiflung liegen ziemlich dicht beieinander.

Es ist, typisch Berg, eine Sammlung von Kurzgeschichten, die zu einer Sozialgroteske zusammen montiert sind. Ein Häuflein Versicherungsangestellte unternimmt mit dem Chef einen Betriebsausflug auf einem Vergnügungsdampfer – klar, dass die Fahrt erstens zu einer Selbsterfahrungs-Reise und zweitens zu einer Katastrophe wird. "Überleben" heißt die Devise, "um etwas zu produzieren, von dem unklar ist, wozu es dient." Doch am Ende nimmt die Belegschaft – der Boss inklusive – aktive, medikamentöse Sterbehilfe in Anspruch, um sich per Kollektiv-Selbstmord aus dem sinnlosen Hamsterrad-Kreislauf auszuklinken.

Tête à Tête mit den Motivationstrainern

Ein bisschen ähnelt das Stück dem jüngsten Berg-Werk "Nur Nachts", das am Wiener Akademietheater kürzlich herausgebracht wurde. Auch in "Hauptsache Arbeit!" begegnen uns "Gesichter voll mit unzufriedenem Leben", nur dass hier statt böser Geister diverse Ratten ihr sinistres Spielchen treiben, eine gar als perfider "Motivationstrainer", pardon: "Motivationsratte".

So weit, so bizarr. Hasko Weber, Intendant am Stuttgarter Staatsschauspiel, inszeniert die Uraufführung denn auch als Selbsterkundungs-Trip auf See. Als Serie von Geständnissen auf dem Tanzdeck. Sieben Passagiere machen die Reise mit, entern mit angelernten Selbstermunterungs-Sprüchen ("Ich arbeite gerne!") aus dem Zuschauerraum die Bühne, sprich: den Dampfer und beziehen dort ihre Kajüten. Der Chef (Florian von Manteuffel) vergewaltigt hin und wieder eine Mitarbeiterin im praktischerweise blickdichten Campingzelt, ansonsten beklagt er schluchzend, er wäre eigentlich lieber ein "einfacher" Mensch, "ohne Bruximus" (Zähneknirschen) und "ohne Verantwortung".

Lucky-Loser-Angestelltenrevue

Was als heitere Selbstreflexion auf dem Sonnendeck beginnt, geht bei Hasko Weber zügig in herbe Tragikomik über. Eine Angestellte (Marietta Meguid) plappert trotzig: "Ich fühle mich wohl, dass ich weniger verdiene als Männer." Und deren Kollegin (Anja Brünglinghaus) wünscht sich gar einen Erlöser-Prinzen aus Indien herbei. Die anwesende Männerauswahl ist denn auch wenig berauschend: Einer (Jonas Fürstenau) bekennt: "Ich hasse meinen Vermehrungsauftrag", der andere (Sebastian Schwab) posiert im Boxermantel mit der Aufschrift "Schneller & härter geht immer".

Das Elend offenbart absurde Züge: Ein älterer Herr in kurzen Hosen (Ernst Konarek) hat mit seiner Frau in all den Jahren "nur zehn Sätze gewechselt". Und sein jüngerer, ähnlich resignierter Kollege (Martin Leutgeb), dessen Frau von einem Bus totgefahren wurde, findet: "Wir könnten dafür demonstrieren, dass wir uns gehören. Aber was sollen wir dann damit?" Fast vergessen: Die Motivationsratte (Bijan Zamani) quält die Betriebfest-Runde ständig mit bösen Wettbewerben – bis sich die armen Angestellten auch noch selbst gegenseitig mit Stromschlägen foltern. Eine zweite Ratte (Murat Parlak) spielt dazu ausgesprochen fesche, launige Kaufhausmusik. Nur dann und wann summt und singt die ganze Belegschaft naheliegenderweise "La Paloma" – stillstehend, versonnen, todtraurig und ein wenig marthalernd.

Wunschshow auf der Dampferfahrt in den Tod

Gut, passagenweise wirkt Sibylle Bergs Stück weniger wie eine Hardcore-Kritik am System, sondern wie ein zynisches Pointen-Soufflé, ein makabres, nicht ganz klischeefreies Revuechen über die Arbeitswelt. Doch immer wieder schlägt die Sozialgroteske zu  – und knallt dann voll ins Schwarze. Was bleibt? Ein Puzzle aus defekten Lebensläufen, eine tragikomische Dampferfahrt in den Tod, die Webers Regie um etliche Knoten beschleunigt, verdichtet und szenisch effektvoll aufgebrezelt hat.

Das mag dem mäandrierenden Text gut getan haben, andrerseits ging dabei vielleicht eine gewisse melancholische Tiefenschärfe des Tons, charakteristisch für Berg, verloren. Doch am Ende, wenn das Berg-Original einen "Haufen Leichen" ordert, versöhnt Weber wieder mit einer starken Idee: Er lässt all die gebeutelten, gequälten, deformierten Existenzen einen kurzen Moment vor dem Tod so sein, wie sie eigentlich sein wollen. Die Geringverdienende – ein lieblicher Rauschegoldengel, die depressive Kollegin – eine riesengroße Glamour-Frau. Und der Chef? Eine graziöse Primaballerina.

 

Hauptsache Arbeit! (UA)
von Sibylle Berg
Regie: Hasko Weber, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Anette Hachmann, Dramaturgie: Jörg Bochow.
Mit: Anja Brünglinghaus, Marietta Meguid, Minna Wündrich, Jonas Fürstenau, Ernst Konarek, Martin Leutgeb, Sebastian Schwab, Florian von Manteuffel, Murat Parlak, Bijan Zamani.

www.staatstheater.stuttgart.de

 

Mehr zu Sibylle Berg im nachtkritik-Archiv: Nur Nachts wurde im Februar 2010 von Niklaus Helbling in Wien uraufgeführt. Ihr Stück Die goldenen letzten Jahre, von Schirin Khodadadian im Februar 2009 am Theater Bonn uraufgeführt, war 2009 für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert: Mehr dazu auf nachtkritik-stuecke09. Von Hasko Weber besprachen wir zuletzt seine Inszenierung von Stalker, die im Februar 2009 in Stuttgart herauskam.

 

Kritikenrundschau

Für Martin Halter von der Frankfurter Allgemeinen (22.3.2010) ist Sibylle Berg eine "Höllenfürstin des Theaters", die "mit diabolischer Traurigkeit und satanischem Sarkasmus" arme Sünder grille, "die noch an ein Leben vor dem Tode glauben und sich mit ihrem romantischen Lieben und Hoffen nur immer tiefer in die Verdammnis stürzen". Die Hölle ihres neusten, in Stuttgart uraufgeführten Stückes "Hauptsache Arbeit!" sei das Betriebsfest mit seinem "dumpfen, angedrehten Frohsinn". Berg habe damit eine "rabenschwarze Groteske" geschrieben, "brauchbar für wütende Gewerkschafter und Frauenbeauftragte sowie als unterhaltsame Tragikomödie". Der Mensch sei bei Berg zwar "eine traurige, lächerliche Figur sein", habe aber doch "ein sentimentales Herz und manchmal sogar eine Seele". Hasko Weber habe "bisher nicht eben unter Komikverdacht" gestanden – "umso bemerkenswerter, wie munter er Bergs Firmenparty inszeniert". So wachse "zusammen, was nicht unbedingt zusammengehört: Kritik der Konsum- und Arbeitsgesellschaft und finsterer absurder Humor, Angestellten-Tristesse und quietschbuntes Firmenkabarett".

 

Wenn Sibylle Berg wie bereits Urs Widmer vor 10 Jahren in "Top Dogs" die "Auslesemechanismen im globalen Arbeitskampf" unter die Lupe nehme, "könnte man davon ausgehen, dass sie tatsächlich was zum Thema zu sagen hat", schreibt Jürgen Berger in der Frankfurter Rundschau (23.03.2010). Doch der Kritiker wird enttäuscht: "Etwas komplexer hätte man sich die Arbeitswelt schon vorgestellt." Spätestens wenn der "notgeile Chef zu den Einzelgesprächen mit den weiblichen Angestellten ein luftiges Rammelzelt auf dem Sonnendeck entfalten darf", tappe die Stuttgarter Uraufführung "in die Falle eines Textes, der nie so richtig weiß, was er nun ist: Wirklich böse, eventuell doch nur witzig oder einfach nur platt." Einprägsam sind für den Kritiker allein die von Weber "sehr schön" gelösten monologisierenden Passagen, in denen "Sybille Berg so nah an ihren Figuren, wie sie das eigentlich gar nicht sein will" ist. Aus ihnen heraus stellt sich dem Kritiker die grundsätzliche Frage, "ob der eigentliche Witz von 'Hauptsache Arbeit' dort zu finden ist, wo Sibylle Berg auf jeden Fall was Bizarres schreiben wollte, überzeugend aber nur dann ist, wenn es ihr um das Leben und die Not dieser Versicherungsmenschen geht."

 

Weber begreife das Stück "als Farce", erläutert Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (22.3.2010). Er betone "die Ironie, die Pointen, den wunderbaren Sprachwitz Bergs", nehme dem Text damit aber auch "seine Härte". Weber blicke letztlich "freundlich auf die Angestellten" und sehe sie als "Opfer". Einzig Anja Brünglinghaus, "mit bemerkenswerter Kälte", und Ernst Konareks ließen ahnen, "welch eine atemstockende Schärfe das Stück entfalten könnte". Während Weber "Hass und Selbsthass" der Figuren verflache, betone er deren Sehnsucht. Schräge Figuren sehe man da, "aber nicht wirklich böse. (...) Böse ist das System, der Chef, die Motivationsratte auf dem schlingernden Schiff". Immerhin raffe sich die Gruppe bei Weber einmal auf und prügele auf den Chef ein – "Gemeinsam wärt ihr stark, die Botschaft ist klar". Die Regie begnüge sich weitgehend "mit Bebilderung der Monologe", doch auf Bergs "zusätzliche Kommentatorenebene, die das Geschehen noch mal in einem anderen Licht zeigen könnte", verzichte Weber. Fazit: "Was bei Berg Gift war, wird bei Weber Galle. Keine Spur von frösteln machender Titanic-Großkatastrophe", stattdessen eine "schlichte Sehnsuchtsdampferfahrt".


Berg nehme hier die "Generation Marathon" ins Visier, so Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (22.3.2010). Dieses "Untergangsszenario einer durch und durch zynischen Gesellschaft" sei "ideal" für Webers "Debattentheater, das sich explizit als moralische Instanz positioniert". "Verpackt in Parolen und Sentenzen" markiere Berg "die Eckpfeiler einer auf Effizienz und Glanz frisierten Scheinwelt". Und dass das "nicht kabarettistisch oder platt gerät", liege an der "schneidenden Schärfe und Bitterkeit". Düster sei Bergs "Sehnsucht nach der totalen Auslöschung", sie lasse "keine Hoffnung, dass das Totenschiff je einen anderen Kurs nehmen könnte". Während Berg "jede Psychologie aus ihren Stücken heraushalten" will, individualisiere Weber hingegen "das Menschenmaterial", entwerfe "Charaktere mit Schrullen und Neurosen" und deute "komplexe Biografien an, indem er die Angestellten üppig mit Requisiten ausstattet" – im Ganzen "eine kauzige Karnevalsgesellschaft, die nicht merken will, dass es hier nichts zu feiern gibt". Aus der "wüsten Abrechnung mit der Leistungsgesellschaft" mache Weber so "eine muntere Revue", selten habe man sein Theater, bei starkem Ensemble, "so verspielt" gesehen.


Tim Schleider von der Stuttgarter Zeitung (22.3.2010) findet Sibylle Bergs Ausgangsthese "so klar wie die Kloßbrühe mittags in der Betriebskantine: Ohne Arbeit sind wir Würmer". Unsere Arbeitswelt mit ihrem "ganz alltäglichen Sprachkrieg der Bürohengste und Windows-Stuten" habe die Autorin wieder einmal "wunderbar getroffen", "grandios zu einem Stück Kunst verdichtet". Dem Stück, das man "zweifellos hart, grell und plakativ inszenieren" könne, gebe Weber hingegen eine "überraschend melancholische Note" und schaffe eine "hochelegante Elegie". Wenn immer wieder "La Paloma" angestimmt wird, rückten einem die Figuren "plötzlich sehr vertraut auf die Pelle". Nach "gewissen Anlaufholprigkeiten" entwickele der Abend "einen starken Sog", was neben Text und Regie "vor allem den Schauspielern zu danken" sei, die sich hier "wunderbar homogen als großes Ensemble erweisen". Die Angestellten-Darsteller changierten allesamt komplex "zwischen Hysterie, Depression und Angriffslust". "Dicht und souverän" befasse dieser Abend sich "mit dem Todesdreieck aus Zwangsarbeit, Zeitgeist und Zoten" und weise zugleich "alle Qualitäten eines großen Schauspielertheaters" auf.

 

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