Keine Ruhe vor dem Sturm

von Charles Linsmayer

Bern, 7. April 2010. "Ich sage immer: dass der Mensch dem Menschen so gerne zuschaut, das macht das Theater unsterblich." Ernst C. Sigrist, der den unverkennbar Bruno Ganz nachempfundenen Hitler-Darsteller Franz Prächtel spielt, sagt das im zweiten Drittel von "Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm", und in der von Andy Tobler verantworteten Schweizer Erstaufführung des Stücks in den Berner Vidmar-Hallen trifft er damit zugleich einen wichtigen Aspekt der Interpretation. Denn auf der schmalen Rampe dicht vor den wenigen langen Zuschauerreihen wirkt das Spiel der drei Protagonisten überaus nahe und unmittelbar und bekommen Mimik und Gestik eine tragende Bedeutung.

Physiognomische Anschaulichkeit

Schon die Einleitungssequenz, als die drei nichts anderes tun als auf ihren Hockern zu sitzen und zu warten, stellt eine Beziehung zum Publikum her, die die ganze Aufführung lang nicht mehr abreißt. Und der Triumph, die Frustration, die Leidenschaft, der Zorn, der Schalk, der Zynismus und die Rechthaberei auf den Gesichtern der Protagonisten geben den Verteidigungsreden und Plädoyers für eine bestimmte Art von Theater eine ganz konkrete physiognomische Anschaulichkeit, der man tatsächlich sehr gerne zuschaut.

Slapstick oder höherer Blödsinn ist es jedenfalls nicht, wenn die drei aufeinander losgehen und sich gegenseitig zu bekehren versuchen. Da steckt viel Herzblut drin und mischt sich der Kunst- eindeutig mit dem Generationendialog. Mag sein, dass alles in diese Geschichte von den Hitler- und Goebbels-Darstellern verpackt ist, die sich vor der Fernseh-Talk-Show zum Thema "Wie kann Hitler im Theater dargestellt werden" schon in die Haare geraten, bevor die Kamera läuft.

Aber letztlich ist das bloß der plakative Vorwand bzw. ein besonders spektakulärer Streitpunkt, um über all das diskutieren zu können, was das heutige Theater zwischen Werktreue, Regiekult und radikaler Infragestellung bewegt. Leonie Stein, Leiterin der Berner Schauspielschule während Theresia Walsers Ausbildungszeit, saß bei der Berner Premiere im Publikum und sah sich in den Dialogen des Stücks immer wieder an die Auseinandersetzungen unter den Studierenden erinnert, die genau so heftig und passioniert geführt worden seien wie jetzt auf der Bühne.

"Ohne Schweizer Pass hätte ich den Hitler nie gespielt"

Ernst C. Sigrists Franz Pächtel, dem alle Willkür ein Gräuel ist und der für seine Textdeutungen eigentlich gar keinen Regisseur brauchte, steht Thomas Pösse als Peter Söst gegenüber: ein anderer, aber keineswegs naturalistischer Hitler-Darsteller, der auf das Regietheater schwört und Pächtel mit witzigen und treffenden Attacken und Ironisierungen der Lächerlichkeit preiszugeben sucht.

Weniger vorsichtig und zurückhaltend ist der jüngste der drei, Sebastian Edtbauer als Goebbels-Darsteller Ulli Lerch. Kein Fettnäpfen, in das der Anhänger eines neuen, alle Traditionen über Bord werfenden Theaters nicht treten würde. Und doch ist gerade er es, der die beiden andern immer wieder aus dem Busch klopft und zu leidenschaftlichen Statements animiert. So provoziert er Pächtel zu dem Bekenntnis "Ohne Schweizer Pass hätte ich den Hitler nie spielen wollen" und Söst zu der Behauptung, als Kuchen essender Hitler habe er "bei jedem Bissen die Vernichtung mitgespielt".

Und während die Auseinandersetzung zwischen den drei Theaterprofis sich bis zu Invektiven und Fußtritten steigert, lacht das Publikum mal über die Verstiegenheiten der jüngsten Theaterexperimente, mal über das Pathos der Traditionalisten, mal über die Eitelkeit des Bühnenvölkchens überhaupt. Und wenn das Ganze plötzlich abbricht, weil der Zeitpunkt für die eigentliche Talk-Show gekommen ist, reibt man sich vergnügt die Augen und wird sich unversehens bewusst, dass man der Inszenierung eines ganz und gar unverkrampften, witzig-intelligenten Theaterstücks beigewohnt hat, das von fern an Thomas Bernhard oder Yasmina Reza erinnert, es aber auf ganz eigene, gekonnte Weise versteht, aus einer Insider-Fachdiskussion ein Amüsement für das breite Publikum zu machen.


Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm (SEA)
von Theresia Walser
Regie: Andy Tobler, Bühne: Anna Bucher, Kostüm: Verena Kopp, Dramaturgie: Patric Bachmann.
Mit: Ernst C. Sigrist, Thomas Pösse, Sebastian Edtbauer.

www.stadttheaterbern.ch


Die Frage, wie man auf der Bühne Nationalsozialisten darstellen kann, ist nicht eben aus der Luft gegriffen. Steht doch etwa der Filmstoff Sein oder Nichtsein nach Ernst Lubitsch bei den Theatern derzeit hoch im Kurs. So handhabte es der Schweizer Regisseur Rafael Sanchez am Deutschen Theater Berlin (November 2009) und so Henner Kallmeyer am Schauspielhaus Bochum (Juni 2009).

 

 


Kommentare  
Ruhe vor dem Sturm in Bern: Vermisst
Die Frage, wie man auf der Bühne Nationalsozialisten darstellen kann, ist nicht eben aus der Luft gegriffen.
und "So" handhabte es die deutsche Regisseurin Elina Finkel am Theater Ulm (März 2010) - "Wo"?!


(Lieber peripheripedant,
bitte sehen Sie uns nach, dass wir nicht sämtliche "Sein oder Nichtsein"-Inszenierungen dieser Spielzeit besprechen können. Sie vermissen Ulm, andere werden andere vermissen.
Was wir rezensieren, hängt mit der jeweils recht komplizierten, von zahlreichen Faktoren abhängigen Gesamtmonatsplanung zusammen. Immerhin haben wir gerade aus Ulm berichtet, nämlich über die Premiere von Malte Kreutzfeldts "Nordost" am 3.4.
Außerdem haben Sie wie stets die Möglichkeit, in der entsprechenden Forums-Spalte rechts unten selbst eine Leserkritik zu schreiben.
Beste Grüße,
Anne Peter / Redaktion)
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