Erklärungsversuche Selbsthass eins und zwei

von Petra Kohse

Berlin, 21. September 2007. Peter Stein hat der Zeitung Die Welt ein Interview gegeben. Und wenn Peter Stein ein Interview gibt, dann wird dieses Interview gedruckt. Auch wenn es darin um nichts geht – außer um Verachtung.

Stein schimpft, Stein höhnt. Und fällt dabei ausgerechnet über jene fäkalsprachlich her, die von sich aus den Kontakt zu ihm suchen oder sich für seine Arbeit interessieren (jemand, der eine Aufführungsaufzeichnung auf CD gebrannt hat, eine Intendantin, die ihm eine Inszenierung angeboten hat...). Deren Anerbieten erscheint ihm offenbar unwürdig und verstärkt das Grundgefühl eines Beleidigtseins – das auch im genüsslichen Selbstbeschimpfen seinen Ausdruck findet. Er sei "hässlich", ein "Schlappschwanz", "mittelbegabt"...

Peter Stein, ein einsamer, verletzter Wolf, der vom Rudel verjagt wurde (seine Lesart) oder das Jagdgebiet nicht teilen wollte (andere Lesart), und der nur noch an sich selbst herumnagt, bis wieder jemand nahe genug herankommt, den er beißen kann.

Wessen Leben lebt er, wenn nicht das eigene?

Das ist nicht schön, kommt aber in jedem sozialen Umfeld vor. An diesem Fall jedoch interessiert, dass er so prominent verhandelt wird. Die Medien reißen sich um einen Biss von Peter Stein, jede Wunde, die er sich selbst zufügt, wird mit Aufmerksamkeit vergoldet. Und der Fall fasziniert, weil er so schwer verständlich ist. Hat der 69-jährige Peter Stein nicht ein Lebenswerk angehäuft, das theaterhistorisch gerahmt und im Gedächtnis des jeweiligen Publikums hell ausgeleuchtet ist? Arbeitet er nicht noch immer, hoch angesehen, vielfach unterstützt und erfolgreich? Hat er nicht alles, wovon ein Mann im Rentenalter, ganz gleich in welcher Branche, träumen kann?

Erklärungsversuch Selbsthass die erste: Vielleicht liegt es daran, dass Peter Stein gar nicht Theaterregisseur, sondern Geisteswissenschaftler werden wollte. Worauf die Schlussbemerkung des aktuellen Interviews hindeutet, in der er sagt, dass das einzige, worauf er stolz wäre, die Tatsache sei, dass seine Übersetzung der "Orestie" an Universitäten benutzt werde. Nur, warum hat der Frankfurter Industriellensohn dann nicht diese Laufbahn eingeschlagen? Wessen Leben ist es, dass er gelebt hat und lebt, wenn nicht das eigene?

Erklärungsversuch Selbsthass die zweite: Es ist sein Perfektionismus, der Peter Stein das Leben vergällt. Dass er dem Ideal, das er vor sich sieht, in seiner Arbeit nie ganz entspricht, kann er sich nicht verzeihen. Er scheitert, glaubt sich aber in seinem Scheitern immer noch himmelhoch über jenen, die das ebenfalls tun, es aber nicht so schlimm finden oder womöglich gar nicht wissen. Dass er sich das Unmögliche abfordert, ist so hypertroph wie selbstzerstörerisch. Um das auszuhalten, darf man keine Alternative anerkennen.

Schleef war auch so einer

Peter Stein, ein Getriebener, Monomanischer. Ein großer Künstler dabei, ob man seine Ästhetik und Werte nun teilt oder nicht. Er ist nicht der einzige seiner Art. Einar Schleef war auch so einer. In seinen Tagebüchern ist nachzulesen, wie er sich das jeweils Höchste auferlegte, wie er sich keine Ruhe ließ und sich vors innere Gericht stellte – und wie verächtlich er auf Lob von der falschen Seite oder für von ihm Verworfenes reagierte.

Auch er wütete und schimpfte in Interviews, sah sich verfolgt und behindert, wenn den absoluten Forderungen, die er in seiner Arbeit stellte, nicht nachgekommen werden konnte. Und bediente sich ebenfalls einer stark körperbezogenen Sprache, zerrte das Gemeinmachendste, Fehleranfälligste am Menschen in seiner Bedürftigkeit ins Rampenlicht und trampelte darauf herum. Zwischendurch konnte er dann wieder sehr witzig sein.

Hand in Hand an der Grenze des Soziablen

Eine Begegnung mit einem Solchen ist wie ein personifiziertes, ausgelagertes Jüngstes Gericht. Eine Konfrontation mit den schlimmsten Gedanken, die man über sich selber denkt. Wenn sich Peter Stein für "mittelbegabt" hält – was kann das Leben dann für einen selbst noch bereithalten! Gleichzeitig markiert einer wie Stein – und das ist das kathartische Moment, wegen dem die Öffentlichkeit nach jedem Wort, das er fallen lässt, schnappt – die Grenze des Soziablen. Dies, wofür er steht, verweigert die Gemeinschaft, und da ist man doch froh, dass die eigenen Brötchen vielleicht klein sind, aber warm und knusprig aus dem Ofen kommen.

Umgekehrt dürfte auch das mediale Wüten eine Funktion haben, die jenseits des Performativen liegt: So lange sich ihm die Mikrofone entgegenstrecken, muss Peter Stein sich seinem Gott nicht stellen. Und auch wenn er sich dafür schon gleich wieder hassen dürfte – es wird ihn schon auch entspannen.

 

Eine Kritik zu Peter Steins jüngster Inszenierung, Schillers Wallenstein in Berlin-Neukölln, lesen sie hier.


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