Vernichtung im Paragraphendschungel

von Sarah Heppekausen

Essen, 16. April 2010. Konstantinopel 1915, Berlin 1938, Nagasaki 1945, Beirut 1983, Grosny 2000, Manhattan Island 2001, Gaza 2009 – die Liste der Daten von Völkermorden, Kriegsverbrechen und Terrorakten ist lang. Ubu zählt sie auf, mit heruntergelassener Hose hängt er auf seinem Stuhl, entblößt und erledigt. Seit 436 Tagen sitzt er im Gefängnis, er muss sich vor dem internationalen Gerichtshof verantworten, dieser ausgetickte Kleinbürger, der Tyrann auf dem Thron.

Alfred Jarry hat mit seinem Ubu bereits Ende des 19. Jahrhunderts einen Typus geschaffen, der die grausamen Diktatoren des 20. Jahrhunderts beschreibt. Wer heute Jarrys Groteske inszeniert, kann das Wissen um die Geschichte nicht ausblenden, hat sich wohl der britische Erfolgsdramatiker Simon Stephens gedacht. Und demgemäß einen zweiten Teil für König Ubu geschrieben, einen, in dem die Frage nach Gerechtigkeit gestellt und dem rabiaten Machthaber der Prozess gemacht wird.

Sprachverwirrung ist Konzept

Schon zu Beginn, im ersten, im Jarry-Teil des Abends wird an der Präambel der UN-Charta geschrieben, werden Menschenrechte und Paragraphen-Zeichen in großen Buchstaben auf papierbezogene Bilderrahmen gemalt. Selbst Ubu pinselt "La Loi" – "das Gesetz" aufs braune Papier. Nicht viel später allerdings wird er dem Volk die gerahmten Großworte über die Rübe ziehen, schlagkräftig vernichtet der Anarchist gleichzeitig Mensch und Gesetz.

Das Wort, die Sprache spielen die zentrale Rolle in Sebastian Nüblings Inszenierung. Das Großprojekt des Essener Grillo Theaters in der letzten Spielzeit unter Intendant Anselm Weber ist eine Koproduktion mit der Toneelgroep Amsterdam. Nübling lässt die Essener und Amsterdamer Schauspieler niederländisch, deutsch, englisch und ubuistisch reden. Sprachverwirrung ist Konzept.

Schrecklich buntes Fest
Brueghels Bild vom Turmbau zu Babel, dass die Schauspieler in Nüblings Inszenierung von Stephens "Pornographie" mühsam zusammenpuzzelten, lehnt hier im Kleinformat wenig beachtet und doch bedeutungsschwanger mahnend an den hölzernen Stellwänden von Muriel Gerstners Bühne. Die ist freigegeben für Farbe, und die Schauspieler spritzen und schmieren sie tubenweise auf Boden, Bilder, Bücher, auf Glatzen und ins Gesicht. Das steigert noch die Spiellust bei Jarrys skurriler Textvorlage, mehr erzählt das farbenfrohe Fest der Säfte und Ausscheidungen dann aber auch nicht.

Hörenswerter sind die dadaistischen Sprechkunst-Einlagen von Nicola Mastroberardino, der sich als Ubu um Kopf und Krone sabbelt, und sich und sein Handeln mit der Parole "Ik mak mik riktik dik" motiviert. Sehenswerter sind Frieda Pittoors erste Aufwärmübungen als Königin. Ihre Ma Ubu im weißen Tutu trampelt breitbeinig an die Rampe, um ihr zaghaftes Winken dann doch in eine derbe Siegerpose münden zu lassen. "I like very much elephants and shoes" säuselt sie ins Mikro und lächelt etwas scheel. Diese Ma Ubu verbirgt Herrschsucht und Durchtriebenheit hinter plumper Maske.

Multiplizierter Despotismus
Mastroberardinos Vater Ubu – vom Alter her könnte es auch ihr Sohn sein – versteckt Geldgier und Gefährlichkeit überhaupt nicht. Die überkommen ihn wie der Drang, plötzlich loszurennen oder diabolisch zu züngeln. Sein Despotismus potenziert sich durch Unberechenbarkeit.

Den ersten Teil des Abends inszeniert Nübling mit dem hervorragenden Ensemble parodistisch-leicht. Gewalt wird zur Sketchnummer mit Gummi-Beinprothesen und orangefarbigem Tubenblut. Das Böse ist banal und zum Lachen. Diese bitter schmeckende Fluffigkeit verliert sich im schwächeren zweiten Teil. Beim "Sondergerichtshof für das ehemalige Polonien" wird das Spielen und Denken schwer zwischen Paragrafen-Auflistungen und gedankentiefen Sätzen.

Interpretation der Sprache

Aber manchmal gelingt es Nübling auch bei Stephens Text, mit Humor zu provozieren. Wenn Dimitrij Schaad als 14-jähriger Mc Club in Clownsschuhen den getreuen Sohn mimt, der Ubu soweit die Verantwortlichkeit abnimmt wie er ihn samt Stuhl über die Bühne trägt. Und dann erklärt, wie man ein vierjähriges Kind ermordet. Oder wenn Roland Riebling mit einem vom Gummiband verzerrten Gesicht kriegsversehrt in den Zeugenstand tritt und anfängt zu stottern. Da wird Grausamkeit wieder zu einer Fratze, an der man nicht vorbeiblicken kann.

Stephens entlarvt das Problem der Gerechtigkeit als Problem der Interpretierbarkeit von Sprache. Das ist durchdacht und nachvollziehbar, aber auch sehr konstruiert. Der seherische Blick eines Jarry ist auch mit dem Wissen des Spätergeborenen noch beeindruckender in seiner scharfen, bösen Komik. Nur ein Bild kurz vor Schluss brennt sich ein: Wenn Ubu mit heruntergelassener Hose auf dem Stuhl kauert und sagt, ihn werde niemand vermissen, da reicht es ein wenig zum Mitleid. Das ist ziemlich unheimlich.

 

Ubu
von Alfred Jarry und Simon Stephens
Regie: Sebastian Nübling, Bühne und Kostüme: Muriel Gerstner, Musik: Lars Wittershagen, Dramaturgie: Corien Baart/Thomas Laue.
Mit: Nicola Mastroberardino, Frieda Pittoors, Leon Voorberg, Dimitrij Schaad, Roeland Fernhout, Roland Riebeling, Hadewych Minis, Werner Strenger, Judith van der Werff, Alwin Pulinckx.

www.schauspiel-essen.de
www.toneelgroepamsterdam.nl


Eine andere prominente Zusammenarbeit zwischen Sebastian Nübling und dem britischen Dramatiker Simon Stephens entstand mit Pornographie im Jahr 2007 als Koproduktion des Hamburger Schauspielhaus mit dem Schauspiel Hannover und wurde 2008 zum Theatertreffen eingeladen – eine andere Version des Jarry-Stücks inszenierte unter der Überschrift Ubukoenig Dimiter Gottschef 2008 an der Berliner Volksbühne.

 

Kritikenrundschau

Sebastian Nüblings Inszenierung "Ubu" am Schauspiel Essen folge der Einsicht, "dass grotesker Witz hilft, das Entsetzliche zu ertragen; und zu erkennen", schreibt Gudrun Norbisrath auf dem Portal Der Westen (18.4.2010). Nübling stelle "ein wüstes Stück menschlicher Unzulänglichkeit und Allmachtsfantasie auf die Bühne", die Toneelgroep Amsterdam steuere ein "fabelhaftes Reservoire an schräger Bedeutsamkeit" bei. Muriel Gerstners Bühne sei "eine intelligente Zumutung" und die Inszenierung "äußerst unbequem", die Sprache wechsele vom Niederländischen ins Deutsche, nicht jedes Wort sei zu verstehen, "aber aller Sinn liegt offen zu Tage". Dieser Ubu sei "grell, bunt und scharf". Nicola Mastroberardino spiele einen "gerissen dummlustigen" Ubu, Frieda Pittoors eine "hinreißend böse Ma Ubu, herrschsüchtig, geil, naiv, schiefmäulig". Simon Stephens zweiter Teil stelle "einen neuen Bezug zur Wirklichkeit" her und liefere das "gerichtliche Nachspiel" in Den Haag. Da gebe es "eine böse Abrechnung mit den unmenschlichen Fragen nach den Details der unmenschlichen Taten, und einem offenen Schluss, der nahelegt, dass immer alles so weitergeht". Das sei leider "nicht wirklich gut", sondern bleibe "papieren". Trotzdem: "ein bemerkenswerter Abend".

"Der Gewaltrausch bleibt harmlose Spielerei", schreibt Stefan Keim (Die Welt, 20.4.2010), und zwar "ohne – wie es viele Inszenierungen vorher taten – auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu verweisen." Denn diese Ebene solle der zweite, von Simon Stephens verfasste Teil erfüllen: "Ubu steht vor dem Internationalen Gerichtshof und soll sich für seine Taten verantworten." Dramatische Dringlichkeit bekomme dieser Text aber nur in zwei Szenen: "Einmal erzählt ein Opfer vom Mord an Frau und Kindern, während ihm das Gesicht von Gummibändern verzogen wird. Und dann entblößt der junge Schlächter McClub (Dimitrij Schaad) die Bestialität hinter seinem Kindergesicht, das absolute Fehlen jeder menschlichen Moral." Der Gerichtshof lasse ihn laufen, debattiert auch darüber, ob er Ubu eigentlich verurteilen dürfe, für Gerechtigkeit erklärt er sich nicht zuständig. "Doch diese Thesen sind schnell klar, das Stück versinkt bald in einen politisch korrekten Kommentar. Und eben den braucht das anarchische, die menschliche Triebhaftigkeit feiernde Original von Alfred Jarry überhaupt nicht."

Stefan Keim bespricht Nüblings "Ubu" auch in der Frankfurter Rundschau (21.4.2010) und führt hier nochmal aus, dass der erste Teil wirke "wie ein außer Kontrolle geratener Kindergeburtstag. Das Meucheln und Morden ist bloß ein Spaß, die Toten stehen wieder auf, einer trägt übergroße Schuhe." Nach dem heiteren Gemetzel im ersten Teil komme dann der erhobene Zeigefinger. Diese Ubu-Weiterdichtung von Simon Stephens sei überflüssig und "nimmt dem Original viel von seiner anarchischen Kraft. Daran scheitert die Essener Aufführung."

Auf Muriel Gerstners Bühne pinselten die Personen "in verschiedenen Posen in stiller Hingabe Präambeln von Menschenrechtserklärungen auf Packpapierbögen", beschreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen (24.4.2010). "Die Figuren drücken auf die Tuben, besprühen und beschmieren sich mit Farbe. In hohem Bogen schießt das Rot an die Wand (...). Deutsch, niederländisch, englisch und ubudadaistisch redet der Text (...) durcheinander. Ordnung, Gesetz und Moral gehen im Chaos unter. Die Aufführung wird buchstäblich zur Schmiere", Ubus Schreckensregime zum "durchgeknallten Kindergeburtstag". Wie der damit allerdings "als verantwortlich für Verbrechen erscheinen soll, derentwegen er vor einen Sondergerichtshof zitiert wird", sei die Frage, die weder das Stück von Stephens noch die Inszenierung von Nübling beantworten könnten. "Der Versuch, die Verhandlung als Schauprozess aufzuziehen, spottet der Darstellung des Vorwurfs und gerät, als Ubu schließlich Völkermorde, Kriegsverbrechen und Terroranschläge aufzuzählen beginnt, zum unfreiwilligen Hohn auf die Opfer."

 

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