Die Banalität des Biederen

von Stefan Bläske

Wien, 16. April 2010. Gleich zwei Ansagen musste Matthias Hartmann an diesem Abend machen. Zunächst im Burgtheater, vor Faust II. Wegen isländischer Vulkanasche und Flugausfall kam ein Künstler zu spät, Naturschauspiel verzögert Kulturschauspiel. Im Akademietheater beginnen die Geschichten aus dem Wiener Wald pünktlich, hier fordert erst das Ende eine Erklärung. Warum keine Schwarz-gewandeten beim Premieren-Applaus, kein Regisseur, der sich verbeugen mag? Und keine Eruptionen als Begründung?

Stefan Bachmann ist krank geworden, sagt der Intendant, das Ensemble hat gemeinsam mit Sven-Eric Bechtolf zu Ende geprobt. Zwei Regisseure also waren am Werk, und doch wirkt das Werk, als habe es an der Regie gemangelt. Eine biederbrave Umsetzung, mit einem starken Ensemble zwar, aber mit kaum Konzept, Verve und Rhythmus, ohne klaren Zugriff. Stattdessen ein banges Lavieren, als bestünde das höchste Ziel darin, die Klippen zu umschiffen auf der schönen blauen Donau. Es gleicht wohl einem Spießrutenlauf, in Wien den Wiener Wald zu inszenieren.

Küßdiehand-Höflichkeit der Möchtegernmenschen

Auf der Bühne nun besteht dieser Wald nicht aus Bäumen, aber doch aus Holz. Verwurstetes Holz, zur bürgerlichen Fassade zusammengezimmert: Kleiderkästen, Schränke, Sideboards, Büffets und Kommoden sind – alles andere als kommod – übereinandergestapelt, türmen sich bühnenfüllend zur Schrank-Wand. Was das bedeuten mag, haben wir von Harald Schmidt gelernt, der gerade unsere Interieurs analysieren ließ. Die Schrankwand kam dabei gar nicht gut weg: Ein schweres stolzes Exemplar wurde vom Studiodach in die Tiefe gestürzt, sodass es zeitlupendramatisch auf den Pflastersteinen zerbarst und der "Atavismus" entlarvt war.

Derart nun lassen sich die Figuren in Horváths Volksstück begreifen: Männer wie Schränke, hohl inwendig; voll Moder und Motten; personifizierte Atavismen; als Bürgerlein verkleidete Bäuerchen; Möchtergernmenschen; großmannssüchtige, ewiggestrige, fassadenfromme; charakterlos hinter ihren Kalendersprüchen und der Küßdiehand-Höflichkeit. Bei aller Dummheit aber, auch bei allen Stereotypen, die Horváth aufgreift: es sind ja doch Menschen, und es ist das Menschliche, das uns an ihnen interessieren könnte.

Bekannte Gesichter, gemischte Stimmungen

Dabei eine Balance zu finden, ist nicht einfach, und jeder Darsteller tariert seine Figur anders aus: Die Spanne reicht von Falk Rockstrohs zurückhaltender, fast psychologischer Anlage des alten Rittmeisters bis zu Gerrit Jansens Slapstick-Akrobatik des betrunkenen, stramm-rechten Jura-Studenten. Mit hexenhafter Stimme krächzt Bibiana Zeller die Großmutter, die ihr uneheliches Enkelkind, diese Schande, tötet. Johann Adam Oest als Zauberkönig und Regina Fritsch als Trafikantin Valerie nehmen die Sprache, Gefühle und Bedürfnisse ihrer Figuren immer wieder ernst, führen sie sehr häufig aber auch chargierend, manchmal komödiantisch vor. Den Premieren-Bravos zufolge scheint dies die Spiel-Art zu sein, in der das Publikum "sein" Volksstück wünscht.

Birgit Minichmayr und Nicholas Ofczarek, die als Jederweib und Mannsteufel derzeit das Dream-Duo des österreichischen Theaters bilden, sorgen mit ihrer Interpretation des nur kurze Zeit glücklichen Pärchens Marianne und Alfred allerdings für Irritationen. Sie, von denen man ein kraftvolles Miteinander kennt und erwartet, spielen im Wiener Wald ein bisschen aneinander vorbei. Aber das ist gut so. Denn auch die Beziehung von Marianne und Alfred ist ja kein echtes Miteinander.

Was passiert, wenn Marianne das Haus verlässt

Während Birgit Minichmayr sehr körperlich agiert, ist Nicholas Ofczarek ganz in die Sprache eingetaucht. Oft steht er ruhig, ein Fels in der Brandung, und sondert dabei – betont beiläufig – Bosheiten ab. Ekel Alfred ist im Grund' nicht bös', aber ignorant, ein Hallodri, der nimmt, was er bekommt, ein Zocker, der's gleich wieder aufs Spiel setzt. Ofczarek lässt diesen Schlawiner wienern, bis die Schwarten krachen, er ist ein Meister des Tonfalls und des Timings. Messerscharf die Spitzen, die er setzt.

Das Befinden der armen Marianne indes zeigt sich vor allem in der Haltung ihrer Arme. Wie kleinlaut sie sie anfangs hinterm Rücken verschränkt, als sie noch unter der Knute von Papa Puppenklinik-Leiter lebt. Wie sie sich festklammert an den Schrankwänden, wenn sie ihre ersten Gehversuche unternimmt, ihre arrangierte Verlobung platzen lässt und sich Alfred an den Hals wirft. Wie sie die Arme in die Höhe reckt in ihren kurzen Emanzipationsversuchen. Wie sie sie dann trotzig oder schützend vor der Brust verschränkt, wenn sie ihr Leben als "gefallenes Mädchen" rechtfertigen muss. Wie sie schlussendlich einsam dasteht, als ihr Mann weg und ihr Kind tot ist. Minichmayrs Marianne stemmt die Hände in die Hüften und streckt die Ellbogen zur Seite wie kleine Stummelflügel. Hilf- und kraftlos scheint sie, wie eine andere Horváth-Figur, nur eben stumm, zu sagen: "dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln".

Walzer, Vogelgezwitscher und die Vierte Wand

Marianne kehrt zurück zum Fleischhauer Oskar, dem vom Vater bestimmten Gatten, der das als Happy End begreift. Es ist das Gegenteil. Während Ibsens Nora am Ende aus der Ehe ausbricht, die Tür dröhnend ins Schloss fällt, kehrt Horváths Marianne entkräftet zurück. Nach vergeblichem Ausbruch bricht sie nur noch zusammen. Oskar öffnet ihr seine Tür und fühlt sich großmütig dabei, aber die Tür ist eine Schranktür, dahinter kaum Raum. Der Schrank wird zum Schrein, die Ehe zum Grab.

Weit kommt man eben nicht in diesem Bühnenbild. Und auch nicht mit diesem Vierte-Schrank-Wand-Theater, mit Walzermusik und Vogelgezwitscher vom Band. Man könnt' sich kreuzweise darüber ärgern, dass sich weder inhaltlich noch formal ein echtes Anliegen der Regie transportiert. Man könnte die Inszenierung aber auch als adäquate Umsetzung sehen, insofern sie in ihrer ganzen Ästhetik das Biedere und Festgefahrene der Figuren spiegelt. Und natürlich kann man – trotz der heterogenen Dialektversuche und Spielstile – Horváths bitterbösen Humor genießen, und die teilweise sehr tollen Darsteller. Küssdiehand?

 

Geschichten aus dem Wiener Wald
von Ödön von Horváth
Regie: Stefan Bachmann, Sven-Eric Bechtolf. Bühnenbild: Hugo Gretler, Kostüme: Annabelle Witt Musik: Felix Huber, Dramaturgie: Plinio Bachmann. Mit: Regina Fritsch, Gerrit Jansen, Johannes Krisch, Birgit Minichmayr, Johann Adam Oest, Nicholas Ofczarek, Barbara Petritsch, Hanno Pöschl, Thomas Reisinger, Robert Reinagl, Falk Rockstroh, Hermann Scheidleder, Bibiana Zeller.

www.burgtheater.at

 

Andere Versionen von Horváths berühmten Stück gab es zuletzt unter anderem in Weimar, wo Nora Schlocker im Januar 2010 die Geschichten aus dem Wiener Wald am Nationaltheater inszenierte. Auch zu Sven-Eric Bechtolf und Stefan Bachmann gebt es mehr im nachtkritik-Archiv.

 

Kritikenrundschau

Nicht mal im Scheitern glanzvoll findet Norbert Mayer diese letzte Premiere der ersten Hartmann-Saison in der Online-Ausgabe der Wiener Presse (17. 04.2010), wo er auch ein Zerwürfnis zwischen Stefan Bachmann und den Schauspielern andeutet, weshalb der designierte Salzburger Schauspielchef Sven-Eric Bechtolf in letzter Minute eingesprungen sei. Stefan Bachmanns Interpretation sei brav, ja ausgebrannt, die Arbeit insgesamt uninspiriert. Hugo Gretlers Bühne ist für Mayer eine "furnierte Kunstwelt" und Zumutung für die Schauspieler, von denen mancher aus Kritikersicht eine "hochklassige Fehlbesetzung" ist. Es gibt aber auch schauspielerische Glanzlichter, darunter Nicholas Ofczarek als Strizzi Alfred, die "tolle" Regina Fritsch als Valerie. Und Birgit Minichmayr natürlich: "Wenn sie singt, von der Wachau wie von ihrem verpfuschten Leben, wird alles still. Wenn sie tanzt, gewollt ungelenk wie eine in ihren Trieben niedergehaltene Bürgerstochter, dann empfindet man Mitleid. Wenn sie beichtet und Robert Reinagl als richtender Geistlicher über ihr droht, so wie all diese bösen Männer über ihr stehen, zum Missbrauch bereit, dann ist das eine Unterwerfung, der sie sich im letzten Moment entzieht."

Von einem "Babel der Theatersprachen" spricht Uwe Mattheiß in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (18.4.2010), aus dessen Sicht der Abend "Horváths Musik" gründlich verfehle. Dabei möchte Mattheiß die "unerhörten Sätze, die Horváth seine Selbstunternehmer und Sozialdarwinisten in ganz unvolkstümlicher Präzision absondern lässt" einmal mit neuen Bildern im Kopf neu hören, will, "was Horváth in der Analyse vorzeichnet", mit heutigem Wissen weitergeführt sehen. Hugo Gretlers Bühnenbild legt diese Möglichkeit für ihn zumindest wohl an. Denn das Second-Hand-Mobiliar führt dem Kritiker auch das "enteignete Leben" des Horváth-Personals vor Augen, dessen Illusion und Verbrechen es sei, "dieses Leben in den Griff" kriegen zu wollen. "Den zahllosen Türen der Schränke und Kommoden entweicht das präfaschistische Gift und die Galle eines siechen Wiener Kleinbürgertums." Doch die Inszenierung begnüge sich mit der Darstellung allgemeinmenschlicher Natur, "wo doch Gesellschaft ist". So stehe Birgit Minichmayr als Marianne plötzlich im Zentrum einer überzeitlichen Tragödie, "Nicholas Ofczarek gibt das Denkmal des letzten Wiener Zuhälters, bevor die albanischen Kollegen das Geschäft übernehmen."

Das Bühnenbild Hugo Gretlers - "ein Schrank neben und über dem anderen" - mache eine Aufführung des Stücks bereits unmöglich, meint Helmut Schödel in der Süddeutschen Zeitung (19.4.2010). Stefan Bachmann lade uns "zweieinhalb furchtbare Stunden in Gretlers Trödelkeller ein, in dem selbst die besten Burgtheater-Schauspieler wie Flohmarktangebote aussehen müssen." Und Schödel geißlt Fehlbesetzungen: "Wenn man einen so erstklassigen Schauspieler wie Nicholas Ofczarek hat, begabt auch zum Ungeschlachten, (...) und ihn dann aber als Alfred besetzt, einen auf Pferdewetten spekulierenden Strizzi, hat man nicht einmal die Burg verstanden. Johann Adam Oest ist ein großer Schauspieler, aber kein Wiener "Zauberkönig", wofür er nichts kann." Birgit Minichmayr schließlich sei "keine klassische Marianne, dazu fehlt es ihr vielleicht an Leidensfähigkeit, aber sie hätte bravourös den Widerstand spielen können (...). Aber anstelle der Widerständlerin kam eine vielleicht vom Probenstreit erschöpfte Schauspielerin auf die Bühne, die offenbar nicht glauben konnte, wo man sie hinbestellt hatte." Schödels Fazit: "Es wäre nicht sinnlos, diese Produktion einfach abzusetzen."

"So lieb- und bedenkenlos" habe man Horváths "Josefstädter Figuren, die Opfer ebenso wie die Täter, noch selten abgefertigt", klagt Ronald Pohl im Standard (19.4.2010). "Ein Sammelsurium aus angerissenen Tönen und verschlampten Haltungen" ergebe "noch kein wahres Ganzes", jede Figur schlage "sich bloß auf gut Glück durch den 'Wiener Wald'". Diese "entgeisterte und verknöcherte Inszenierung" verfüge "über keinerlei Gehör", segle "achtlos über die vielen 'Stille'-Momente hinweg" und stehle "den Kleinkrämern die Seelenmusik". Und Horváth tauge "auch nicht zur Denunziation. Wer seine Figuren ob deren abgründiger Dummheit nicht zu lieben imstande ist, der muss eben die Finger von Wien und der Walzerseligkeit lassen."

"Das 'Singen und Klingen in der Luft', welches das Bild einer gedankenlos bösartigen Gesellschaft wie mit Zuckerglasur versüssen müsste", entfalle in Stefan Bachmann Inszenierung ersatzlos, schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (19.4.2010). "Bachmanns Schauspieler, eigentlich lauter Könner, entwickeln kein Verhältnis zu ihrer Umgebung - da es diese nicht gibt. Sie agieren fast wie Marionetten aus der Puppenklinik des Zauberkönigs". Und wo "Ungemütlichkeit sichtbares Programm" sei, könne "keine Oberflächengemütlichkeit denunziert werden". So wandere denn "Birgit Minichmayrs Marianne im verrutschten grünen Kleidchen verloren durch ein Abziehbilder-Sammelsurium dem Text von Horváth entlang, dessen zynische Poesie in eklatanter Diskrepanz steht zur unbeholfenen Umsetzung."

Die "Geschichten aus dem Wiener Wald" hätten Patina angesetzt, konstatiert Stephan Hilpold in der Frankfurter Rundschau (19.4.2010), "die Entlarvung der österreichischen Seele ist Klischee geworden." Genau das zeige "die jüngste Wiener Inszenierung, die erste am Burgtheater seit vielen Jahren. Sie ist mit jenem Schmelz überzogen, den Horváth so gehasst hat. Von der Kälte hinter den charmierenden Wörtern bleibt auf der mit 50er-Jahre-Kästchen voll gestellten Bühne kaum eine Spur. Und das, obwohl die Besetzung die Crème der österreichischen Mimen beinhaltet - aber vielleicht ist genau das ihr Problem. Jeder der durchwegs wunderbaren Schauspieler spielt in dieser Inszenierung seinen privaten Horváth - zusammen kommen sie aber nicht."

"Diese 'Geschichten aus dem Wiener Wald' sind ein Fiasko, kein Horváth", urteilt Paul Jandl in der Welt (19.4.2010). "Das berühmte Horváthsche Timing, die 'Stille' zwischen den Sätzen und den Menschen, geht am Klappen der Türen zuschanden, und an der hilflosen Suche nach Halt. Niemand hat diese Figuren zusammengeführt, vor allem kein Regisseur. So tut jeder, wie er glaubt und wie er kann." Birgit Minichmayr könne sich "als Marianne zwischen mädchenhafter Unschuld und spröder Aufsässigkeit nicht entscheiden. Sie ringt mit ihren Armen, die doch ins Leere greifen. Nicholas Ofczarek hat an der Burg wilde Shakespearesche Könige gegeben, ausgerechnet als Lebenskünstler Alfred ist er ein unnahbarer Fels in der Brandung. Man kommt nicht zueinander, weder durch Liebe noch durch Abneigung, spielt am Gegenüber vorbei."

In der Zeit (22.4.2010) schreibt Peter Kümmel, "man" werde mit "diesem Wiener Wald schnell fertig", weil darin "kein Wesen zu finden" sei, "mit dem man auch nur eine Minute allein sein möchte". Das werde deutlich an der Art, wie Nicholas Ofczarek den Alfred spiele. Alfred "frisst und verbringt den Rest seiner Zeit damit, Speisereste aus seinem Zahnbrassengebiss zu pulen". Im Zuschauer entsünde eine "amüsierte Wut", die schwer zu unterscheiden sei, von der Wut auf den Schauspieler Ofczarek, "weil der so zufrieden" ist, den Alfred "für uns zu erledigen". Auch das Bühnenbild verrate die "astreine Gewissheit, mit den Figuren, die "drin hausen, fertig geworden zu sein". Einen einzigen großen Moment habe die Aufführung: wenn die "schartig-wuchtige Großschauspielerin" Birgit Minichmayer ganz alleine im Dunklen das Lied von der Wachau singe: "Sie dreht sich wachsam im Kreis, und nun spürt sie singend und tanzend das Trügerische und Falsche in allem, in der Stille um sie her, in dem Lied, das sie singt, in der Zukunft, auf die sie zuläuft."

 

 

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