Drei mal drei ist weniger als drei

von Matthias Schmidt

Gera, 16.-18. April 2010. Die Bühne am Park ist eine relativ kleine Spielstätte – wie ein schlichter, schwarzer Koffer liegt sie hinter dem prunkvollen Großen Haus. Wer die drei "OstOstOst"-Inszenierungen in Gera sehen wollte, musste in den schwarzen Koffer. Dass selbst die 200 Plätze der Bühne am Park an zwei von den drei Abenden nicht ausverkauft waren (der dritte war gerade mal halb voll), spricht für diese Entscheidung. Ein bisschen größer allerdings hätte schon sein dürfen, was sich in den Pressemitteilungen als Event von überregionaler Bedeutung ankündigte: ein Ring-Uraufführungsfestival! Drei Städte, drei Theater, drei mal drei und ein Thema – der Osten, zwanzig Jahre danach.

Was sich die Theater der ehemaligen Bezirksstädte Magdeburg, Chemnitz und Gera dann gegenseitig zum Gastspiel schickten, war – zumindest in Gera – eher ein beschauliches Seitenbühnentreffen für Insider. Was ja an sich auch nichts Schlechtes ist; man könnte "klein, aber fein" sagen und sich drüber freuen. Vielleicht spräche es sich herum, und beim nächsten Mal brummt der Laden dann. So war es leider nicht.

Vergebliches Wühlen in der Geschichte – Gera

Die Bühnen der Stadt Gera steuern eine Bühnenfassung von Jenny Erpenbecks Roman "Heimsuchung" bei – und scheitern brutal daran. Wer das Buch nicht kennt, hat kaum eine Chance, das Geschehen zu verstehen. Er sieht sechs Personen anderthalb Stunden lang in einer mit reichlich Torf ausgelegten Bühne wühlen und denkt sich, klar, eine Metapher, die wühlen in der Vergangenheit. Viel mehr aber erschließt sich nicht.

Man kommt einfach nicht heran an die Menschen, die über ein Jahrhundert verteilt in einem Haus am Scharmützelsee leben und jeweils ein Stück deutscher Geschichte erleben. Sie sind nicht Fleisch und Blut, sondern Papier. Schlimmer noch: man versteht Teile der Handlung nicht, weil man die handelnden Personen und ihre Beziehungen nicht erkennt. Die Idee, alle Rollen mit denselben Schauspielern in denselben Kostümen zu besetzen, sie ist reizvoll, weil sie die Wiederkehr des immer gleichen herzustellen wünscht – allein, sie funktioniert nicht.

Torfhauen und -stechen

Aus Erinnerungsbruchstücken, die 1936 mit dem Bau des Hauses beginnen und nach der Wende mit dessen Abriß enden, hat Erpenbeck ein Panoramabild des letzten Jahrhunderts gemacht, voller Episoden, die eindrucksvoll für private als auch gesellschaftliche Umwälzungen stehen. Auf der Bühne hingegen findet ein Torfhauen und -stechen statt, das irgendwann langweilt.

Die Tragik von Enteignung und Flucht und Rückübertragung nach der Wende – sie wird quasi "vom Blatt" gespielt und bleibt blutleer und behauptet. Erst am Ende, im Roman ist es der Epilog, findet Regisseurin Anja Gronau eine Idee, den Romantext wirklich zu inszenieren: während bürokratische Anweisungen für die ordnungsgemäße Entsorgung eines Gebäudes verlesen werden, demontieren die Schauspieler das Bühnenbild.

Bis dahin besteht der halbe Abend – gefühlt – aus dem Planen von Bepflanzungen. Mag sein, dass genau darin eine Erkenntnis steckt – dass man zu allen Zeiten Großes plant, indem man Bäume und Büsche anpflanzt und sich einrichtet, auf einer Parzelle und in einer Epoche. Auf der Bühne bleibt es, wie so vieles, eine Reißbrettidee, mühsam und bemüht. Beim Abholen der Jacken an der Garderobe wurde viel gegähnt. Schade drum!

Kleine Texte, großes Spiel – Chemnitz

Julia Dathes "Fickfleisch", das erste von drei kleinen Stücken des Chemnitzer Gastspiels, handelt in einer Studenten-WG und spielt am Tag der Feier der Deutschen Einheit. Zwei Radioreporter kommentieren das Ereignis, einer zusätzlich in Gebärdensprache (großartig: Jannik Nowak). Das machen sie mit einer solch ansteckenden Spielfreude, dass die Brisanz des Textes quasi weggelacht wird. Denn der große Festakt, um den sich die drei Spieler scheinbar wenig kümmern, wird von Gewalt und Randalen überschattet.

Drinnen in der WG fechten die drei Studenten derweil private Konflikte aus und erinnern sich an ihre DDR, in der sie doch eigentlich nur zwei, sieben und neun Jahre gelebt haben. Es wird gekifft, das "Lied von der kleinen, weißen Friedenstaube" gesungen, über Helmut Kohl und dessen neue Frau gelästert und schließlich kommt tatsächlich Sprengstoff ins Spiel. In ein Spiel, das ohne These auskommt und vielleicht gerade deshalb so gut ist.

Müll loswerden

"Jasminblüte" von Mirko Wenig ist eine kurze Aufarbeitung des so genannten sächsischen Justizskandals, und wieder gelingt es Regisseurin Christina Hofer, den Ernst des Stoffes in beeindruckende Leichtigkeit zu übersetzen. Ein hochrangiger Richter wird als Stammkunde in einem Leipziger Nachwende-Kinderbordell enttarnt, verschleppt die Ermittlungen und erklärt einem zum Hausmeister degradierten DDR-Richter, warum das weniger schlimm ist als dessen Verstrickungen in den Unrechtsstaat DDR. Wunderbar – konkret und als Metapher auf den Beitritt, der ja gar keine Wiedervereinigung war, wie die Studenten aus "Fickfleisch" zuvor geklärt hatten.

Roman Ehrlich versucht sich mit seinem "Klappenstück" als Enkel Becketts. Die Hauptfiguren seines Textes, "Der Hintere" und "Der Vordere", sind eher Sinnbild als Person. Sie tragen weiße Kapuzen-Overalls und wollen den Müll loszuwerden, den man ihnen immer wieder hineinsteckt. Es ist dies ebenso echter Müll wie auch die Last der Geschichte, und wie die beiden versuchen, sich davon zu befreien, ist im Ansatz ebenso spannend wie das Warten von Wladimir und Estragon.

Drei Miniaturen in einem multifunktionalen Bühnenbild (einer Ansammlung von Aktenregalen) – ein starker Auftritt der jungen Chemnitzer Mannschaft.

Für Polen ist der Osten der Westen – Magdeburg

Die Idee ist bestechend: weil die EU den Anteil Polens am "Neuen Europa" unterschlägt – die Streikbewegung, Solidarnosc, die Runden Tische – erhält eine polnische Fernsehproduzentin den Auftrag, dies zu korrigieren. Also muss sie auf das schauen, was gemeinhin als Ende des Ostblocks betrachtet wird: auf den Fall der Berliner Mauer. Malgorzata Sikorska-Miszczuk nimmt in ihrem Auftragswerk "Das Ende der Welt" die originellste Perspektive auf den Osten ein – die von noch weiter östlich, aus Polen.

"Die Wende hat in Polen angefangen", so die Grundthese des Stückes, das dann glücklicherweise aber alles andere als politisch korrekt vorgeht. Es gibt einen urkomischen polnisch-deutschen Doppelagenten (Jonas Hien), eine leicht hysterische Produzentin (Christiane-Britta Boehlke) und eine das Unterschichtenfernsehen karikierende Musterfamilie, an deren Geschichte die Geschichtsfälschung enttarnt werden soll. Schließlich kauft sich auch noch das Deutsche Fernsehen in die Sache ein und führt die Grundidee ad absurdum.

Leichtgläubige Wessis

Es ist eine heitere Lektion, die das Magdeburger Schauspiel bietet, voller Pointen auf das allgegenwärtige "Zeichen setzen" und die Wahnvorstellung des Mediums Fernsehen, die Wirklichkeit anhand eines Drehbuchs inszenieren zu wollen. Polen-Witze, Chinesen-Hass, Probleme mit dem Nationalstolz, Anekdoten von den unwissenden und leichtgläubigen Wessis (das polnische L, so wird erklärt, ist deshalb durchgestrichen, weil die Kommunisten es einst verboten haben!) – die Inszenierung in der Regie von Nina Gühlstorff läuft hervorragend. Bis irgendwann die Figuren aus ihren Rollen treten und Magdeburger Wendegeschichten erzählen. Und ihre persönliche Sicht auf die Wende, mal ehrlich und privat, mal opportunistisch und wieder drin in der Rolle.

So wird aus der polnischen Aufklärungssendung plötzlich eine Satire auf deutsche Talkshows, was immer noch sehr lustig ist, aber von der Anfangsidee viel zu weit weg. Der Versuch, zu ihr zurückzukehren, scheitert. Beziehungsweise verläuft jenseits des Nachvollziehbaren, was bitter ist, weil "Das Ende der Welt" bis dahin ein so schräger, komischer, unterhaltsamer Blick auf die Ost-West-Frage war. Sogar die Mitspiel-Aufforderungen ans Publikum wurden angenommen! Wie bei der Premiere des eigenen Ensembles am ersten Tag – sehr verhaltener Applaus.

Zu viel Wollen, zu wenig Gelingen

Ein "OstOstOst"-Gesamtfazit ist schwer zu ziehen, denn für sich genommen finden die Inszenierungen sicher ihren Platz im Repertoire der drei Häuser. Zu einem Festival geballt, hinterlassen sie einen merkwürdigen Eindruck: zu viel Wollen, zu wenig Gelingen.

Was die Resonanz angeht: Vielleicht war in Magdeburg und Chemnitz ja der Teufel los – in Gera leider nicht. Vielleicht lag's ja am Vulkanstaub, der Rummelplatz direkt gegenüber war auch relativ leer.

 

OstOstOst – Ring-Uraufführungsfestival

Theater und Philharmonie Thüringen/Bühnen der Stadt Gera
Heimsuchung
von Anja Gronau und Anne-Sylvie König nach Jenny Erpenbeck
Regie: Anja Gronau, Bühne: Katrin Hieronimus, Kostüme: Olaf Habelmann, Dramaturgie: Anne-Sylvie König.
Mit: Peter Donath, Manuel Kressin, Judith Mauthe, Jochen Paletschek, Luzia Schelling, Heide Simon.
www.tpthueringen.de

Schauspiel Chemnitz
Was vom Westen übrig blieb
Trilogie mit Texten von Julia Dathe, Roman Ehrlich und Mirko Wenig
Regie: Christine Hofer, Ausstattung: Lisa Däßler, Cleo Niemeyer, Elisabeth Weiß, Dramaturgie: Matthias Huber.
Mit: Julia Berke, Laura Hänsel, Wenzel Banneyer, Jannik Nowak, Sebastian Tessenow.
www.theater-chemnitz.de

Theater Magdeburg
Das Ende der Welt
von Malgorzata Sikorska-Miszczuk
Regie: Nina Gühlstorff, Bühne/Kostüme: Marouscha Levy, Dramaturgie: Heide Palmer.
Mit: Christiane-Britta Boehlke, Babette Slezak, Jonas Hien, Ralph Martin, Sebastian Reck.
www.theater-magdeburg.de

 

Kritikenrundschau

"Eine theatralische Wende-Jubelfeier ist "OstOstOst" nicht, viel mehr als ein paar Oberflächenkratzer hinterlässt das Projekt aber auch nicht", meint Uta Trinks in der Freien Presse (20.4.2010). Aber wenn die Magdeburger "Das Ende der Welt" beschwören, "dann haben sie zumindest den originellen Ansatz, die Sicht von außen auf die Ereignisse zu präsentieren". Die polnische Autorin Malgorzata Sikorska-Miszczuk thematisiere den Verdruss der Nachbarn, dass sich die Deutschen den Fall des Eisernen Vorhangs allein auf die Fahne schreiben: "Grotesk und absurd mutet das Treiben um die Wahrheitsfindung an, das gleichzeitig eine generelle Kritik der globalisierten Wohlstandsgesellschaft versucht." Das alles wirke ein bisschen wie das berühmte Stochern im Nebel und chaotisch obendrein. "Doch ausgerechnet eine an Halluzinationen leidende Frau bringt es auf den Punkt: Alles und jeder schleppt Geschichte mit sich herum, und zwar nicht nur die jüngste."

Henryk Goldberg schreibt in der Thüringer Allgemeinen (20.4.2010) zu "Heimsuchung": "Anja Gronau, die Regisseurin, äußerte gelegentlich einer Pressekonferenz, sie habe eigentlich gedacht, dieses Buch könne man nicht auf die Bühne bringen. Leider hat sie diese Meinung korrigiert." Denn ihre Inszenierung bestätige wie zutreffend der ursprüngliche Impuls war. So wie ein Haus "nicht allein durch seine Kubatur beschrieben sei, so ist ein Roman nicht durch seine Story erzählt. Nicht einmal, wenn man diese Texte beinahe im Original mit verteilten Rollen zitiert." Die sechs Darsteller hätten 90 Minuten lang "nichts zu spielen. Sie haben keine Figuren, die sie entwickeln, keine Konflikte, die sie austragen können". Der Text zerfalle "in lauter Banalitäten, vorgetragen mit einem peinlich forcierten Pseudo-Naturalismus, der schon vor vierzig Jahren schlechtes Theater war". Die Darsteller seien "an dieser Peinlichkeit unbeteiligt, denn sie haben nichts zum Darstellen, sie müssen diese theatralische Heimsuchung nur aushalten".


Über den Chemnitzer Uraufführungsabend "Was vom Westen übrig blieb" schreibt Andreas Montag (Mitteldeutsche Zeitung, 20.4.2010): "Julia Dathe hat den aufregendsten Titel gefunden, Mirko Wenig ein konkretes Kapitel jüngerer Zeitgeschichte nachgearbeitet und Roman Ehrlich den besten der drei sehenswerten Einakter beigesteuert." Und die "Texte dreier junger Autoren" seien ein Versprechen auf einen "frischen, womöglich sogar frechen Zugriff auf die deutsch-deutsche Gegenwart". Diese "frohe Erwartung ist komplett eingelöst worden". Insgesamt nämlich sei ein "Topf voller Ostsuppe" zu erleben gewesen," die noch ausgelöffelt werden muss". Vor allem das Stück von Mirko Wenig erlange an diesem Abend "tragikomische Größe": "Das liegt nicht zuletzt allerdings an der Leistung von Wenzel Banneyer, der aus der engagierten Truppe (...) noch herausragt.

"Für die Ostthüringer Zeitung (20.4.2010) berichtet Angelika Bohn über "Heimsuchung" von Anja Gronau von einem "weitgehend ratlosen Publikum", das diese Inszenierung hinterlassen habe. Gronaus Inszenierung erinnere an "ein Kaleidoskop, in dem statt bunter geometrischer Schnipsel deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert in winzige Fetzen gerissen wird. Das ergibt ab und an faszinierende Muster. Doch wenig, ausgenommen vielleicht Liebe und Tod der Bauerntochter, wird begreifbar." Manchmal berühre dennoch ein Bild, "etwa wenn Judith Mauthe als Tochter des jüdischen Fabrikanten sich an das Grundstück mit dem Badehaus erinnert, kurz bevor sie ermordet wird". Im Zeitraffer aber gehe es "um Liebe, Verrat, Ehebruch, Hausbau, Drittes Reich, Gartenfest, Gaskammer, Krieg, Befreiung, Wende, Alteigentümer und Abriss. Alles gesagt und nichts gewonnen."

 

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