Brecht? Öh, ähm, naja!

von Wolfgang Behrens

Berlin, 21. April 2010. Nach dem vornehmsten Gebot befragt, soll Jesus zuerst – lange ist's her! – mit dem Gebot der allgemeinen Gottesliebe geantwortet haben, um dann noch ein zweites nachzuschieben: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Ganz einfach also! Man müsste nur diesem Gebot folgen, um ein gutes Leben zu führen und ein guter Mensch zu sein.

Das Blöde ist nur, dass dieses zweite der vornehmsten Gebote seinerseits zwei Gebote enthält, die sich auch noch zu widersprechen scheinen: "Liebe deinen Nächsten" und "Liebe dich selbst". Zwischen diesen beiden Handlungsmaximen die richtige Waage zu finden, kann einen schon einmal ein Leben lang beschäftigen. Oder ein Stück lang. Bertolt Brecht jedenfalls machte 1939 das Paradox dieses christlichen (und nicht nur christlichen) Nächstenliebegebots zum großen Thema seines "Guten Menschen von Sezuan".

Und weil das Thema so groß ist, fasste Brecht es exemplarisch an und – 's ist halt Brecht – auch ein bisschen lehrhaft: Das von den Göttern als guter Mensch ausgemachte Mädchen Shen Te ginge in dem Stück an seiner kein Maß kennenden Mildtätigkeit allzu schnell zugrunde, wenn es sich nicht von Zeit zu Zeit in seinen hartherzigen, aber ökonomisch vernünftigen Vetter Shui Ta verwandeln würde.

Vom Verfremdungseffekt zum Veralberungseffekt

Das große Thema, das Exemplarische, das Lehrhafte – das sind zweifellos Dinge, mit denen man sich heute schwertut auf dem Theater. Also lässt man sie beiseite. Wenn Friederike Heller jetzt an der Schaubühne den "Guten Menschen" inszeniert, dann zeigt sie sich an dem grundlegenden Konflikt des Stückes wenig interessiert: Es geht nicht mehr darum, über das Paradox der Nächstenliebe nachzudenken – folgerichtig ist Brechts Epilog mit dem ganz ernsthaft ans Publikum appellierenden Satz "Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach: / Sie selber dächten auf der Stelle nach" gestrichen. Es geht vielmehr darum, mit Brecht zu spielen. Aus dem Verfremdungseffekt wird der Veralberungseffekt, aus dem epischen das postepische Theater.

Auf der Bühne sitzt die Postrock-Band Kante und spielt Post-Dessau: Die Musik, die Paul Dessau für den "Guten Menschen" geschrieben hat, wird auf Korg-Synthesizern und E-Gitarren mit Klängen vom Free Jazz über Rock bis zum Softpop paraphrasiert. Das Bandambiente bietet zugleich das Setting des Abends: Auf ein paar Stühlen lungern zu Beginn die Darsteller herum, als gelte es eine Probe abzuwarten. Später senkt sich ein Bühnenportal herab, welches das Ganze als eine Art Showfenster rahmt und zudem noch den guten alten Brechtvorhang zitiert.

Und dann kommen die Albereien. Die Protagonistin Jule Böwe als Shen Te/Shui Ta findet sich mit fünf männlichen Darstellern konfrontiert, die das umfangreiche Rollenverzeichnis rauf- und runterspielen. Ausgiebig wird der Witz ausgekostet, den die schnellen Rollenwechsel mit sich bringen: ein Faschingshütchen aufs Haupt gesetzt, eine Polizistenmütze, Ohrenschützer oder eine dämliche Perücke – fertig ist die neue Figur ("So, ich bin jetzt noch mal der Schreiner", kommentiert Urs Jucker einmal). Das Theater feiert sich in seiner Durchschaubarkeit: Es will ja nur spielen.

Mit Mutterwitz und Dienstwaffe

Die Haltung der Schauspieler zu ihren Figuren ist höchst ironisch-distanziert und insofern durchaus brechtisch-episch. Die travestierenden Faxen, die sie machen, die Anleihen an der billigsten Klamotte, distanzieren sich indes noch weiter, als Brecht das wohl lieb sein könnte: Die Darsteller gehen so auch gleich mal auf Abstand zu dem, was da verhandelt wird. Witzig allerdings ist es schon, wenn etwa Niels Bormann sich im Rollstuhl als tuntige Witwe Shin auf eine kleine Rauferei einlässt, um sich im nächsten Augenblick als Polizist mit seiner dauergezückten Dienstwaffe ins eigene Gemächt zu schießen.

Mit den vielen kleinen Nümmerchen aber, die einfach nur Theater und keinesfalls Botschaft oder Problemstellung oder große Metapher sein wollen, kann (und will?) Friederike Heller der Fabel nicht recht auf die Sprünge helfen. Für die schnodderige Poesie Brechts freilich, für seine Pointen haben sie und ihre Schauspieler ein feines Gespür entwickelt. Indem das Possenreißerische das Regiment übernimmt, fällt aller hölzerne Zeigegestus von Brechts Text ab, und zum Vorschein kommen seine Plastizität, sein geradliniger Mutterwitz, seine unsentimentale Lyrik.

Zum Niederknien schön führt das Ernst Stötzner vor, der seinen Wasserverkäufer Wang sprechen und manchmal auch nuscheln lässt, als hielte er sich an kein Skript, als falle ihm alles gerade erst ein, mit öh, ähm und naja. Plötzlich wirkt Brechts Sprache frischer, biegsamer und lebendiger denn je – und das ist wohl der größte Gewinn dieser drei letztlich doch recht kurzweiligen Stunden.

 

Der gute Mensch von Sezuan
von Bertolt Brecht
Musik von Paul Dessau
Regie: Friederike Heller, Bühne und Kostüme: Sabine Kohlstedt, Musikalische Einrichtung: Kante, Dramaturgie: Bernd Stegemann, Licht: Erich Schneider.
Mit: Jule Böwe, Niels Bormann, Ulrich Hoppe, Urs Jucker, Sebastian Schwarz, Ernst Stötzner. Musiker: Thomas Leboeg, Peter Thiessen, Sebastian Vogel.

www.schaubuehne.de


Mehr zu Brecht? Nö, der wird als bekannt vorausgesetzt. Aber zu Friederike Heller: Die Spezialistin für "Bedeutendes", das sie gerne leicht serviert, zeigte im Mai 2007 am Burgtheater Peter Handkes Spuren der Verirrten, im März 2008 ebenda ihre Thomas-Mann-Adaption Dr. Faustus – My Love is a Fever und in Dresden im Herbst 2009 Wilhelm Meisters Lehrjahre.

 

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Kritikenrundschau

In der Welt (23.4.2010) berichtet Ulrich Weinzierl , dass die Regisseurin Friederike Heller "nach eigenem Bekenntnis aus der Parabel" von Brechts "Gutem Menschen von Sezuan" an der Berliner Schaubühne "einen leicht feministischen Comic, eine Art Musical machen" wollte. Die Regie missverstehe dann aber den Brechtschen Verfremdungseffekt "grundsätzlich als Freibrief zum ödesten Veräppeln". Quälend folge Mätzchen auf Mätzchen: "Ein Schauspielersextett, darunter der hier beklagenswert verschleuderte Ernst Stötzner, hat sämtliche Figuren darzustellen. Mehrfachbesetzungen steigern das Rollenvernichtungspotenzial eines jeden Ensembles enorm." Paul Dessaus Bühnenmusik wiederum wecke "in der Regel den Wunsch, Kurt Weill hätte sie geschrieben. Die Version des Postpop-Trios "Kante" erzeugt indes bloß die unbändige und ebenso vergebliche Sehnsucht nach Stille."

Friederike Heller versuche bei ihrem Regiedebüt an der Berliner Schaubühne, "Überdeutlichkeit mit Überdeutlichkeit zu kontern: Sie verpasst dem Personal eine gründliche Ironie-Dusche", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (23.4.2010). Beim ersten Mal sei es "sicher nicht ohne Witz, wenn Ulrich Hoppe dank eines pinkfarbenen Pappfaschingshütchens von der armen Teppichhändlerin zur verzickten Hauseigentümerin Frau Mi Tzü aufsteigt (...) Nur geht das dann dreieinhalb Stunden so durch; praktisch in einem einzigen Tonfall. (...) Für Hellers offensichtliches Vorhaben, das Lehrstück in enthemmter Spiellust aufzulösen, bleibt die Veranstaltung letztlich zu brav. Und Kostümwitz hin, Kalauer her: Das Stilmittel der Ironisierung ist, zumal bei Brecht, eben leider derart konsensfähig, dass man sich tatsächlich zusehends nach dem Mehrwert des Abends fragt. Die Inszenierung wirkt wie mit äußerst heißer Nadel gestrickt. Heller scheint damit in mehrerlei Hinsicht nicht so recht fertig geworden zu sein."

"Was in Finanzkrisen-Zeiten die durchaus aktuelle Frage aufwerfen könnte, ob die Misere nicht doch eher auf einen Systemfehler statt auf das Versagen einzelner zurückzuführen ist, wird bei der Regisseurin Friederike Heller an der Schaubühne jeglicher Dringlichkeit beraubt", meint Anne Peter in der Berliner Morgenpost (23.4.2010). Die Band Kante bringe "die Songs von Paul Dessau auf eingängigen Pop-Rock-Sound von heute" – Brecht werde "hier zum Halb-Musical mit Pling-Plang-Effekt weichgespült, bei dem alle Beteiligten mal ans Mikro treten". Sie alle blieben dabei "verlässlich im Ironie-Modus und halten sich sowohl die Figuren als auch die paradox zulaufende Problemstellung des Stücks deutlich vom Leibe. Nur Jule Böwe wechselt als Shen Ten respektive Shui Ta temporär ins Empathie-Spielfach, lässt aber das spannende Zugleich dieser Figur kaum je durchscheinen, spielt das Entweder-Oder." Selbst "die Lustigkeit des so lustig Gemeinten" halte sich "in Grenzen und vermag nie einen subversiven Touch zu gewinnen".

Ein großes "Tja" liege "wie eine Dunstglocke" über Friederikes Hellers Umsetzung des "Guten Menschen", schreibt Christian Rakow in der Märkischen Allgemeinen (23.4.2010): "Tja, was machen wir mit diesem Schulstoffklassiker?" Die Lösung: "nicht zu dick auftragen! Cool bleiben! Die Schauspieler greifen nach Sätzen wie nach rohen Eiern. Wer zu fest zupackt, könnte sich lächerlich machen." Die Schauspieler improvisierten sich "locker in ein riesiges Figurenrepertoire hinein, wobei die Frauenrollen arg klamaukig zelebriert werden. Stötzner umspielt mit bravouröser Nüchternheit die pausbäckig halboptimistische Shen Te von Jule Böwe. Diese gut dreistündige Kasperleshow wäre alles andere als abendfüllend, hätte Heller nicht die Indie-Rockband 'Kante' hinzugerufen. So bietet die funkelnde Showbühne mit E-Pianos, Gitarren und Schlagzeug immerhin jazzige und poppig angeschrägte Adaptionen der Originalmusik von Paul Dessau".

"Charmanter, verspielter" lasse sich Brechts "lehrhaftestes Lehrstück" kaum inszenieren, findet hingegen Gustav Seibt von der Süddeutschen Zeitung (24.4.2010). Der Stil, den Heller mit den "durchweg vorzüglichen Schauspielern" erarbeitet habe, "schrammt begreiflicherweise hart ans Alberne: Große Darsteller tun fürs epische, hochdidaktische Theater so, als wären sie Schülertheater". Das sei "Berliner Commedia dell'Arte" mit den Mitteln von Harald Schmidt. Die Mehrfachbesetzungen spiegelten Brechts "dramaturgischen Grundeinfall: die Doppelrolle der Shen Te als Gutmensch und als Kapitalistenschwein". Jule Böwe mache das "sogar richtig ernsthaft, wie eine Berliner Göre, die das Problem echt rüberbringen will". Die alte Sezuan-Frage: "Geht es um zwei Seelen in des Menschen Brust? Geht es um zwei Prinzipien der Welt?" werde "fast Luhmann-haft" beantwortet: "Es geht um Rollen. Die soziale Funktion macht den Charakter, der tatsächlich nur eine Maske ist, die der epische Schauspieler vorführt." Dass das Stück "uralt" ist, werde dabei "beinahe erfolgreich überspielt". Kante zerlege Dessaus "schwerblütige Bühnenmusik" "liebevoll und hochkultiviert (...) in fast heutigen Diskursrock". Und am Ende "weisen dringliche Schauspielerhände mit der Frage nach Weltveränderung ins Publikum. Dass sie vollkommen unbeantwortbar wirkt, ist nicht die Schuld dieser leichtfüßigen, gelungenen Aufführung."

"Die Brecht-Gardine, der graue Lappen", sei bei Heller "rauschengelgolden", schreibt Elena Philipp in der Berliner Zeitung (24.4.2010). Passend, wo doch hier "Der gute Mensch von Sezuan", der "Engel der Vorstädte" gekürt werde. "Sie als einzige war bereit, die durchreisenden Götter zu beherbergen. Das ist den Erleuchteten tausend Silberdollar wert - und der Regisseurin einen Goldvorhang. Ein guter Mensch? Eine gute Show! Das ist es, was zählt" in dieser Brecht-Inszenierung. Deren Unernst sei "eine gute Weile lang frisch und unterhaltsam" und drehe gelegentlich "ins gelungen Aberwitzige". Jedoch: "Brecht wird mit Zeigefinger aufgesagt. Nicht mahnend moralisierend, sondern mit dem Dauerhinweis darauf, dass hier The-a-ter gespielt wird". Im "Modus des Uneigentlichen" kreise die Aufführung drei Stunden um sich selbst. "Ironisches, über-episches Theater, pathosfrei und beliebig. Die ersten Setzungen sind offenbar schon die Interpretation, die inhaltlichen Angebote auf der Bühne bleiben mehr als vage." Am Ende werde Shen Te "zum Superstar der Selbstlosen erkoren, ihre Alias-Sünden hin oder her. Die Show ist, was zählt." Ein "vergnügliches, virtuoses Nichts".

Von "Anfang an als künstlerische Konkursmasse" komme Brechts Stück bei Friederike Heller auf die Bühne, urteil Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.4.2010). Alles wirke, "als fände hier nur eine Probe statt"; begleitend "zerhauen drei Musiker der Band Kante im Stil einer unbeherrschten Tanzcombo die Originalkompositionen von Paul Dessau zu dröhnend schepperndem Kleinholz." Die "tapfere Jule Böwe" tausche "auf der Suche nach ihrer Doppelrolle einfach die Turnschuhe gegen violett glitzernde High Heels"; die übrigen Rollen würden von den Schauspielern "durch alberne fliegende Kleider- und Perückenwechsel dargestellt, wobei kein Kalauer zu dumm, kein Mätzchen zu peinlich ist."

"Wie heute umgehen mit Brechts epischen Totalitäten?", wie der von Martin Walser behaupteten "normalen Klassikerlangeweile" entgehen, fragt Jürgen Otten in der Frankfurter Rundschau (27.4.) Leicht ist es nicht, dies bewiesen die beiden Brecht-Abende ("Der gute Mensch von Sezuan" in der Schaubühne und "Der Kaukasische Kreidekreis" im BE) in Berlin. Hellers Version von Sezuan gerate insbesondere durch die Integration der Pop-Band Kante und ihrer "Paraphrase" der Musik von Paul Dessau "verheerend". Der Stoff verwandele sich: " von der Fabel zur Farce, von der Parabel zum Popkonzert." Die Übernahme aller Rollen durch eine Handvoll Schauspieler wäre "Verfremdung in Reinkultur", geriete diese Verwischung der Differenzen "nicht derart heillos übertrieben komödiantisch-revuehaft".
Ernst Stötzner treffe als einziger "den hohen, schlichten Fabel-Ton", schaffe "die subkutane Energie", die "unerlässlich scheint für eine Auseinandersetzung mit dem Sujet". Jule Böwe spiele ihre Doppelrolle "grandios", aber offenbar habe sie sich, genauso wie der "bärenstarke" Sebastian Schwarz in "ein modernes bürgerliches Existenzdrama" verirrt, "in dessen Verlauf die Figuren zusehends in wütende Ekstase geraten", und entsprechend lärmen, was Jürgen Otten nervt: "Anscheinend ist es nicht mehr möglich, auf dem Theater ohne Lärm auszukommen, ohne hochgeputschte Emotion, ohne zornentzündeten Vulgärausbruch."

Gustav Seibt äußert sich in der Süddeutschen Zeitung (27.04.2010) nach Ansehen auch des Kargeschen "Kaukasischen Kreidekreises" im BE noch mal zum "Sezuan": Heller und ihre Darsteller reagierten auf ein Grundproblem bei Brecht: "Seine mit allen heutigen Sehgewohnheiten in schreiendem Widerspruch stehende Langsamkeit." Heller entreiße den "Guten Menschen" durch "fliegenden Rollen-Wechsel der Darsteller, Anleihen am Fernsehgeplapper und eine modernisierte Commedia dell"Arte der lehrhaften Drögheit". Karge wähle indes einen entgegengesetzten Ansatz: den "Binnenraum einer zur Gegenwart hin möglichst verschlossenen strengen Musealisierung". Es ist, als sähe man auf alte Theaterfotografien als "kolorierte lebende Bilder". Der "frühe DDR-Staatstheaterstil", mit "bunten Kostümen, farbiger Schminke, präzisem Gesang und genau gespuckten Silben", wirke überaus "befremdlich" - "in einem archäologischen Sinne theaterhaft". Angesichts der "historisch unvermeidlich wirkenden Unspielbarkeit" vor allem "der lehrhaften Brecht-Stücke" wirkten nur "extreme Lösungen" glaubwürdig, andernfalls drohe gähnende Langeweile. Es sei "schwer zu sehen", was "das Dritte zwischen radikaler Lässigkeit und entschlossener Musealisierung" sein sollte.

 

 

Kommentare  
Schaubühnen Sezuan: böwelose Rezension?
wie man diesen sehr gelungenen abend rezensieren kann, ohne in irgendeiner form auf die wunderbare spiel-haltung und leistung von jule böwe einzugehen, ist mir ein rätsel...
Schaubühnen Sezuan: Brecht brechtisch machen
stimmt. Böwe ist klasse. Aber der Abend doch dünn, das liegt einfach darin, dass die guten Leute keine Lust hatten, "das große Thema, das Exemplarische, das Lehrhafte" auf die Bühne zu bringen. Warum macht man dann aber Brecht? Brecht heute zu veralbern, ist langweilig und niveaulos. Bei brecht sollte man sich schon die Mühe machen, das Theaterstück zu verstehen und es verständlich und - soweit wie möglich - im Sinne des Autors auf die Bühne zu bringen. Jüngere Regisseure, die das wollen und können, sind rar. Es bringt auch meistens nicht viel Ruhm - man wird nicht bemerkt, da die Kritik viel lieber das Auffällige als das Genuine beschreibt, positiv oder negativ. Der Reiz dieser Art von Regie-Exhibitionismus ist für junge Regisseure fast unwiederstehlich. Verständlicherweise. Aber es ist nicht klug.
Schaubühnen Sezuan: mir auch rätselhaft
mir auch.
Schaubühnen Sezuan: Weglassen find ich in Ordnung
Ich finde es völlig in Ordnung große Namen auch mal wegzulassen. Mal ehrlich: Jule Böwe ist Jule Böwe ist Jule Böwe usw.
Da waren andere Schauspieler in dieser "Brecht-Revue" schon erwähnenswerter.
Schaubühnen Sezuan: böweloses Lob
Um es vorweg zu nehmen, Juchhu es hat funktioniert, allerdings mit einem Aber, und das will Behrens auch mit seiner Einschätzung andeuten. Wer den guten Menschen aufführt wird immer auch an die Grenzen stoßen, an die auch schon Brecht selbst gelangt ist. Es hat viel Text, es passiert eine Unmenge, wie gestalte ich das, das es seine Schwere verliert? Friederike Heller setzt kongenial das um, was Patrick Wengenroth zum Epischen Theater ein paar Wochen vorher eingefallen ist. Verfremdungseffekt bis zur Travestie, sie bleibt dabei aber nah am Text. Brecht bleibt erkennbar auch wenn es mitunter ins Alberne schwappt. Klasse die Einlagen von Stötzner als Wang, es hatte ja Sinn, das von Brecht diese Zwischenstücke eingefügt wurden. Da hätte man sogar noch mehr drauf aufbauen können. Die Musik von Dessau wird durch Kante frisch und rockig präsentiert, das hilft auf jeden Fall Schwächen in der Dramaturgie des Stückes zu überspielen. Kante haben Erfahrung mit Theatermusik, ich sah sie bereits in 2007 in Wien bei einer gelungenen Heller-Inszenierung von Handkes Spuren der Verirrten im Akademietheater. Da standen Sie noch mehr am Rand, jetzt stehen sie im Zentrum des Geschehens und gestalten es offensiv mit.
Nun zum lustigen Hut auf Hut ab Spielchen, das geht natürlich nur wenn der Zuschauer und ab und an auch der Schauspieler selbst nicht den Durchblick verliert. Die Anzahl der Mitwirkenden zu reduzieren entsteht ja nicht aus dem Sparzwang heraus sondern der besseren Verständlichkeit bei zu vielen Nebenfiguren. Es klappt nahezu reibungslos und hat am Anfang auch Tempo und Pep. Nur und jetzt kommt das große Aber, es läuft sich mit der Zeit tot. Man kann solch ein Tempo nicht grenzenlos aufrecht erhalten und da käme nun der Einsatz des epischen Theaters für Unterbrechungen zu sorgen, um dem Zuschauer zu signalisieren, Achtung jetzt umschwenken und um einen Bruch auch in der Dramaturgie aufzuzeigen. Die Wang-Zwischenspiele sowie die ins Publikum gesprochenen Erklärungen könnten das bringen, hier geht aber Heller zu leicht drüber weg. Der Schluss wird im Schnelllauf absolviert und verpufft gänzlich. Nun ich verlange nicht, dass die Götter auf einer Wolke entschweben, aber ich könnte mir vorstellen, dass man doch noch mal zum Schluss auch meinetwegen nach dem Verbeugen zum Publikum spricht. So jetzt habe wir für euch 3 Stunden den Kasper gegeben und jetzt schert euch raus und denkt selber weiter. Der Schluss muss muss muss ja nicht unbedingt gut sein.
So und jetzt sehen Sie, dass auch ich ganz ohne Erwähnung Jule Böwes ausgekommen bin, woran mag das liegen, nicht das Sie nicht gut wäre oder nicht ausreichend präsent, nein Sie fügt sich einfach wunderbar in eine klasse Ensembleleistung ein.
Schaubühnen Sezuan: Erläuterung des Kritikers
@ ungläubig staunender
Ich will versuchen, eine ehrliche Antwort zu geben. Ich habe nichts über Jule Böwe geschrieben, weil ich kein Verhältnis zu ihrem Spiel entwickelt habe: Es prallte - mit Ausnahme einer Szene (der Regenszene) - an mir ab, ich habe nichts Aufschließendes darin gefunden; vielleicht hatte ich schlicht keine Antenne dafür. Weder aber wollte ich mich in kaschierende Worthülsen flüchten ("die wunderbare Jule Böwe", "die traumwandlerisch leichte Jule Böwe" oder so etwas) noch hatte ich explizit etwas zu bemäkeln. Worüber ich also nichts zu sagen hatte, darüber habe ich geschwiegen. Trotzdem glaube ich, dass sich auch unter würdigender Einbeziehung der darstellerischen Leistung Jule Böwes meine grundsätzliche Einschätzung der Produktion nicht ändern würde.
Schaubühnen Sezuan: gebt mir glaubwürdige Figuren!
Immer wieder schaue ich hier herein. Ich lese die Kritiken. Ich lese die Kommentare. Zum Teil lese ich es auch nur noch quer. Zugegebenermaßen. Ich suche nach einem Halt in alle dem. Ich finde ihn nicht. Frau Böwe wird nicht erwähnt. Und ?! Stört sie das wirklich ? Brecht wird auf seinen U-Wert überprüft. Ja und ?! Irgendwo meldet sich Herr Beil. Einsilbig. Nicht gerade intelligent. Im fehlt für die Ablehnung gegenüber dem BE einfach die Phantasie. - Etwas Grundlegendes hat sich geändert. Ein Politiker steht während der Proteste in Wuppertal auf der Bühne und wünscht sich was: Mehr politisches Theater ! Wie grotesk, und die Kulturschaffenden feinden ihn an. Zu Recht. Sie sind nicht die Instrumente seiner Sehnsucht. Trotzdem hat der Mann nicht Unrecht. Das BE findet wahrscheinlich gerade an der Schaubühne statt. Peymann redet Quatsch über Afghanistan im Spiegel. Die Kinder malen Menschen ohne Köpfe wegen der vielen Spiele am Computer. Bilder von kopflosen deutschen Soldaten gibt es nicht. Wir sehen nur die Särge, und Herrn zu Gutenberg, oder wie der Kerl heißt, mit seiner gegeelten Frisur. - Stötzner finde ich so toll. Aber finde ich deswegen den Weg hin in die Schaubühne? Wahrscheinlich nicht. - Lieg ich jetzt völlig falsch. Oder was stimmt da Grundsätzlich nicht mehr.

Hier werden soviel Zweifel über das Theater laut. Wo soll ich mich noch hinwenden. Der Sumpf der Dekonstruktion kotzt mich an. Ich weiß, es gibt einen besseren Ansatz. Kniefällig flehe ich die Theatermacher an: Gebt mir endlich glaubwürdige Figuren, deren Schicksal ich trauen kann. Deren Freude ich teile, und deren Schmerz ich miterleide. Und doch habe ich keine Hoffnung auf die nächste Spielzeit.

Was soll ich nur stattdessen machen ?!

Herzlich

123

P.s.: Der Fehler liegt wahrscheinlich ganz bei mir und ich entschuldige mich hiermit förmlich für meine Subjektivität, vor allem bei Herrn Flohbär. Ich hoffe, ihr Sofa gefällt ihnen noch. Ich sitze weiterhin auf Stühlen. Soviel zum Privaten.
Schaubühnen Sezuan: Stötzner und Böwe berühren
@ 123: mein tipp: lesen sie den messingkauf von brecht... wieder und wieder und wieder... und nebenbei bemerkt: glaubwürdige figuren gibt es weder im "echten leben" (alltag) noch im "falschen" (bühne)... und gucken sie sich ruhig den "guten menschen vom kudamm" mal an, gibt sehr viel schlechteres auf berliner bühnen derzeit... stötzner und böwe singen - und das sehr berührend...
Schaubühnen Sezuan: Köhler, Weber, Bösch, Breth, Bondy
Sehr geehrter 123,
es gibt doch noch diese nicht auseinandergenommenen - den Begriff "glaubwürdig" möchte ich wegen seiner Vagheit nicht benutzen - Figuren, haben Sie etwa schon einmal bei Tilmann Köhler in Dresden geschaut? Dekonstruktion liegt ihm fern. Oder Hasko Weber in Stuttgart. Selbst David Bösch, der allerdings wiederum zu Comic-Figuren neigt, natürlich Frau Breth und Herr Bondy dekonstruieren nicht.
Was denken Sie?
Schaubühnen Sezuan: Peymann-Zitat
@7/123
"Mit jedem toten deutschen Soldaten wächst die berechtigte Empörung über diesen Wahnsinn in Afghanistan, den wir bisher nicht einmal Krieg nennen durften", sagte Claus Peymann, Theaterintendant am Berliner Ensemble, dem SPIEGEL.
Ist das der Quatsch auf dem sich in Ihrer Peymann-Kritik beziehen?? Oder habe ich da das falsche Statement?
Schaubühnen Sezuan: die, die immer dabei war
@123: Für Ihre Subjektivität brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen. Die ist Ihr gutes Recht. Ich weiß nicht, was für eine Bewandtnis es mit dem Sofa hat... Vor einiger Zeit entspann sich hier mal eine Diskussion über Pappelbaums Bühnenbild und seine Couchen. Bis 88 arbeitete ich in einem Möbelgeschäft, da standen so viel Sofas herum – Pappelbaum wäre schwach geworden. Aber diesmal stammt das Bühnendekor von Sabine Kohlstedt.
Wie ich hörte, singt Jule Böwe. Das hat sie schon einmal getan, in Ansätzen bei „Shoppen und Ficken.“ Früher war in der Schaubühne die Böwe die, die immer dabei ist...Mal sehen, vielleicht sehe ich mir das aktuelle Stück irgendwann mal an. Morgen gehe ich in „Maria Stuart“ ins DT – das kam doch auch mal in der Schaubühne. Wer war da wohl in der Hauptrolle?
Schaubühnen Sezuan: Widersinnigkeit des Krieges
über die "Widersinnigkeit des Krieges" hat schon Brecht im "Kaukasischem Kreidekreis" geschrieben. Dazu ist alles gesagt.
Schaubühnen Sezuan: Glaubwürdige Figuren bei Brecht?
Im Guten Menschen von Sezuan wird der Widerspruch eines guten Lebens in einer schlechten Gesellschaft dargestellt. Es wird erzählt, nicht erklärt, zwei Lebensentwürfe werden nebeneinander gestellt und lediglich noch zusätzlich kommentiert um den Widerspruch zu verstärken. Die Parabelhaftigkeit aufzulösen, also die Erklärung zu bringen, würde bedeuten den Text daraufhin zu untersuchen, also zu dekonstruieren um seine Perspektiven zu finden. Genau das wollen 1,2,3 und Arthur Krütelmann aber nicht. Friederike Heller tut dies übrigens auch gar nicht, im Gegensatz zu Sebastian Baumgarten mit seinem Danton am Gorki. Wo ist also das Problem? Die Frage nach glaubwürdigen Figuren steht angeblich im Vordergrund. Wie will man die bei Brecht finden? Taugen heute Figuren wie Shin Te, Grusche, die Mutter, Johanna etc. noch zur Identifikation? Die Grundaussage des Widerspruchs den Brecht in seinen Stücken zeigt bleibt aber doch immer sichtbar, er ist allgegenwärtig und wird trotzdem auf dem Theater sicher nicht gelöst werden, ob ich nun dekonstruiere, das Stück so lasse wie es ist oder es lediglich etwas zeitgemäßer aufführe. Ich glaube man hat eher Angst, ästhetisch nicht dort abgeholt zu werden, wo man vor Jahren mal stehen geblieben ist? Das kann es doch wohl nicht sein.
Einen anderen Regiestil wird man sich heute Abend am BE anschauen können, wenn Manfred Karge den Kreidekreis inszeniert. Ein Vergleich lohnt in jedem Fall.
Schaubühnen Sezuan: lasst den Brecht Brecht sein!
zu "Stefan": ich glaube schon, dass die Figuren, wie Shin Te, Grusche, die Mutter, Johanna etc., heute noch taugen zur Identifikation. Gerade wegen der großen Distanz mzu ihnen. Man denke nur an die sehr sensitive und einfältige Grusche aus dem "grusinischem" Mittelalter. wenn die da drin bleibt - im Mittelalter - dann taugt Grusche allemal. Wenn heute abend die Karge-Inszenierung vom KREIDEKREIS am BE läuft, werden wir es vielleicht sogar sehen. Lasst den Brecht Brecht sein und er ist aktuell.
Ansonsten gebe ich "Stefan" sehr gerne recht.
Schaubühnen Sezuan: politisch, aber nicht politisch gewollt
Ich möchte mich dem "ungläubig staunenden" anschließen. Denn wenn Politiker laut 123 mehr politisches Theater wünschen, dann sollte man einem solchen Phänomen tatsächlich nicht bejahend, sondern skeptisch entgegentreten. Besteht hierin nicht gerade die schlechte ideologische Vereinnahmung und Instrumentalisierung des Theaters? Es kommt drauf an, Theater politisch zu machen, aber eben nicht politisches oder politisch gewolltes Theater zu machen.
Nach Brecht kann der Zuschauer durch die Verfremdung bzw. durch die Demonstration des Spielvorgangs selbst nicht nur die Realität auf der Bühne, sondern auch seine eigene Lebenswirklichkeit als eine gestalt- und veränderbare wahrnehmen. Demnach geht es nach Brecht auch nicht um die Einfühlung in unveränderbare menschliche Charaktere, sondern vielmehr um Beziehungen zwischen Menschen, um die Widersprüchlichkeit menschlicher Handlungen im Kontext bestimmter Situationen bzw. gesellschaftlich-politischer Strukturen. Das epische Theater nach Brecht hinterfragt also die idealistische Position des "ewig Menschlichen" bzw. das vermeintlich Naturgegebene "des Menschen".
Zitat aus dem "Kleinen Organon für das Theater"(1948/49):
"Wir brauchen Theater, das nicht nur Empfindungen, Einblicke und Impulse ermöglicht, die das jeweilige historische Feld der menschlichen Beziehungen erlaubt, auf dem die Handlungen jeweils stattfinden, sondern das Gedanken und Gefühle verwendet und erzeugt, die bei der Veränderung des Feldes selbst eine Rolle spielen."
Ich habe die Inszenierung noch nicht gesehen, es war mir aber zunächst wichtig darauf hinzuweisen, dass Brecht und der Schicksalsbegriff nicht miteinander vereinbar sind. Zitat Brecht:
"Was für eine Befreiung ist das, da wir doch am Ende all dieser Stücke, das glücklich ist nur für den Zeitgeist (die gehörige Vorsehung, die Ordnung der Ruhe), die traumhafte Exekution erleben, welche die Aufschwünge als Ausschweifungen ahndet!"
Schaubühnen Sezuan: Galileis Kronleuchter
„Damit all dies viele Gegebene ihm als ebensoviel Zweifelhaftes erscheinen könnte, müsste er jenen fremden Blick entwickeln, mit dem der große Galilei einen ins Pendeln gekommenen Kronleuchter betrachtete. Den verwunderten diese Schwingungen, als hätte er sie so nicht erwartet und verstünde es nicht von ihnen, wodurch er dann auf die Gesetzmäßigkeiten kam. Diesen Blick, so schwierig wie produktiv, muss das Theater mit seinen Abbildungen des menschlichen Zusammenlebens provozieren. Es muss sein Publikum wundern, und dies geschieht vermittels einer Technik der Verfremdungen des Vertrauten.“ (Bertolt Brecht zur Erklärung des V-Effekts)

Warum wollen sich alle Zuschauer immer mit irgendwas identifizieren? Man versuche sich doch mal in den Kronleuchter einzufühlen. Und wenn man dann da so schön an der Decke pendelt, kommt einem vielleicht auch irgendwann die Idee warum. Aber man bleibt eben Objekt und nicht selbst handelndes Individuum.
Schaubühnen Sezuan: mit der Lage identifizieren
zu "Stefan" - ich meinte nicht mit der "Figur" identifizieren, sondern mit der Lage / Situation ...
Ansonsten: Stefan hat recht!
Schaubühnen Sezuan: Einschränkung der Lage
@werner hecht
Das funktioniert aber nur, wenn Sie die Lage nicht als unabänderliches Schicksal empfinden. Siehe I S.
Schaubühnen Sezuan: Gymnasiastentheater
Stötzner schafft es immer, auch hier! Jule Böwe schaffte es bloß einigermaßen, denn offenbar hat ihr niemand gesagt, was in der Rolle alles steckt. Kein Wunder bei der Dramaturgie dieser Schaubühne. Der Abend entspricht dem gedankenlosen, vollkommen unsubversiven Gymnasiastentheater, das man dort pflegt. Und alle tun so, als fände dort etwas statt.
Schaubühnen Sezuan: Zustimmung
kurz zu "Stefan" - Einschränkung der Lage:
stimmt!
Schaubühnen Sezuan: Aufschrei
uhuhuu! unsubversiv!
was für eine schöne aufgeblasene worthülse!
Schaubühnen-Sezuan: Metapher des Rollentauschs
Wer - wie Behrens - den vielfachen Rollenwechsel der Figuren nur als "Witz" versteht, hat von dem Abend (und von Brecht) allerdings nichts verstanden. Dazu wären aber elementare Grundkenntnisse des marxistischen Welt- und Menschenbilds und damit von Brechts Kapitalismuskritik, hilfreich. "Das Sein schafft das Bewusstsein" - kann man das auf dem Theater schöner zeigen als in dieser (Theater-) Metapher des Rollentauschs, wie der gesellschaftliche Habitus einer Figur (ihr "Sein") sofort deren Wesen und Handeln (ihr Bewusstsein) verändert, also einen anderen Menschen aus ihr macht. Dass die Regisseurin dies nicht nur an der Hauptfigur zeigt, ist meines Erachtens die Kernidee dieser Inszenierung. Wenn man das nicht erkennt, bleibt einem als Kritiker wohl nichts anderes übrig als "Brecht? Öh, ahm, naja".
Schaubühnen Sezuan: Musicalversion von Charleys Tante
Den Weg in die Schaubühne kann man sich wirklich sparen. Spaßtheater für die Spaßgesellschaft. Kann etwas im Jahre 2010 noch öder sein ? Theater von vorvorgestern. Eine Musicalversion von Charleys Tante. Das hat nichts mit Dekonstruktion, Identitätskonstruktion oder Anarchie zu tun. Das ist eine Klamotte, eitel und nicht gedacht. Eine Band wird eingekauft, die ihren Namen verkauft, alles wird auf Show aufgepeppt, eine Musicalrevue wird abgerissen. Gab es da keine Dramaturgie ? Susanne Böwe kann froh sein, nicht erwähnt zu werden. So etwas nannte bis vor kurzem Schmiere. Bloßes Mikrophon Posen reicht bei einer multiplen, dialektischen Figur wie Shen Te einfach nicht. Man hätte die Ambivalenzen der Figur radikal ausspielen und aufeinanderprallen lassen müssen. Wie Brecht heute ausschauen kann, wie Dialektik und episches Theater funktionieren kann, indem man die Widersprüche stehen lässt und betont, zeigt übrigens Stemanns "Johanna" am DT. Die zynische Spaßtendenz wird hier von der famosen Margit Bendokat aufgehalten, da prallen eine naive Johanna, eine proletarische Bendokat und moderne, lässige Wirtschaftsmanager aufeinander, dass man nur staunen kann und sich jegliche objektive Wahrheit als Chimäre erweist. @123: Es gibt gute Dekonstruktion (Petras, Baumgarten, Castorf), an der SB aber wird der Gute Mensch von Sezuan als Hausmeister Krause in der Schillerstraße verkauft, ein erniedrigendes Bemühen guter Schauspieler Lacher zu lukrieren, das hat nichts mit Dekonstruktion oder epischem Theater zu tun, das ist einfach nur billig.
Schaubühnen Sezuan: Susanne? Öh, ähm, aha!
@ Brecht für Doofies: Jule Böwe heisst seit Neuestem Susanne? Aha. Nur für Doofies also.
Schaubühnen Sezuan: eine nicht ausführliche Erwähnung
@23. Und anderer Leute Kritiken muss man auch nicht lesen, oder? Natürlich ist Jule Böwe in der Nachtkritik erwähnt. Nur nicht so ausführlich, wie es der erste User gern gehabt hätte.
Schaubühnen Sezuan: das kleinere Übel
@23
Ich glaube nicht, dass es so einfach ist, wie Sie es darstellen. Mit Musical und Charleys Tante hat das wenig zu tun. Sie haben sicher recht das Stemann die bisher schlüssigste Brecht-Inszenierung der Spielzeit, wenn nicht sogar seit langem abgeliefert hat. Nur Sie tun Friederike Heller auch in gewisser Weise Unrecht, wenn Sie ihren Sezuan als eitel und unbedacht disqualifizieren. Sie dekonstruiert Brecht nicht, na schön, das muss man ja auch nicht. Was hat Baumgarten von seinem dekonstruierten Danton? Nichts, keine Aussage.
Eine Idee steckt bei Friederike Heller dennoch dahinter, auch wenn sie im ersten Moment unter all dem Firlefanz zu verschwinden scheint. Nämlich das hinter all dem schönen Schein, nicht unbedingt auch ein entsprechendes Bewusstsein steckt. Das muss man sich erst erarbeiten. Das Sein bestimmt das Bewusstsein hat Karl Marx festgestellt. Vielleicht hat das Friederike Heller etwas naiv zu wörtlich genommen. Die Masken der Darsteller werden aber bisweilen zu hässlichen Fratzen, das fehlende Bewusstsein ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie sind Karikaturen ihrer selbst. Ich finde, das hat Friederike Heller sehr schön herausgearbeitet, nur man muss sich darauf einlassen.
Das Problem von Jule Böwe habe ich schon weiter oben angemerkt. Der Widerspruch in den beiden Figuren prallt nicht aufeinander, schrieben Sie. Nach Marx ist der Mensch ein Opfer seiner Bedürfnisse, in dieser Falle steckt Shen Te vom Kopf bis zu den Glitzerschuhen. Mehr Widerspruch zwischen Wollen und Können kann es schon in einer einzigen Person gar nicht mehr geben. Dagegen ist Shui Ta ein kühler Rechner, dem nur der reine Gewinn zählt. Wie wäre das noch radikaler darstellbar. Nicht den Widerspruch und die Ambivalenz verstärken, sondern die zwei Seelen in einer Brust zu zeigen, darum geht es meiner Ansicht nach, das ist doch das heutige Problem, nach wie vor.
Glauben Sie mir, die wirkliche Enttäuschung der letzten Woche ist Karges fertig erzählter Brecht ohne Vision und das von jemandem der es besser wissen müsste. Da sind ein wenig Rockmusik und bunter Flitter das wahrlich kleinere Übel.
Schaubühnen Sezuan: "Karikaturen ihrer selbst"
@26: Zufällig habe ich heute schon die "Berliner Zeitung" gelesen. Bitte, Stefan, kopieren Sie nicht die Wendungen von Herrn Pilz.
Was sagen Sie über die Darsteller in Brechts Sezuan?
"Sie sind Karikaturen ihrer selbst."
Und was sagt Pilz in seiner Besprechung über den "Kaukasischen Kreidekreis"?
"Die Figuren sind mit ihren angeklebten Bärten, umgeschnallten Säbeln und herausgedrückten Bäuchen Karikaturen ihrer selbst."
Schaubühnen Sezuan: zur Zweiseelenkonstruktion
@ Stefan: Sie schreiben "Nicht den Widerspruch und die Ambivalenz verstärken, sondern die zwei Seelen in einer Brust zu zeigen, darum geht es meiner Ansicht nach, das ist doch das heutige Problem, nach wie vor."
Aber: Entspringt diese Zweiseelenkonstruktion nicht auch wieder nur einem totalisierendes Denkmodell? Kann es nicht vielmehr sein, dass es hier um situative bzw. kontextuelle Differenzen in der Selbst- und Fremd-wahr-nehmung geht? Dazu Foucault:
"[...] die Deutschen glauben sich am Gipfel der Komplexität, wenn sie sagen, daß sie zwei Seelen in ihrer Brust tragen. [...] Es gilt zu entdecken, daß an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit und das Sein steht, sondern die Äußerlichkeit des Zufälligen." (Foucault, 1971)
Schaubühnen Sezuan: Zerrissenheiten
@Flohbär
Vielleicht hat mir Dirk Pilz mit seiner Kritik des Kreidekreis so aus dem Herzen gesprochen, das ich unbewusst diese Textzeile benutzt habe, er möge mir verzeihen. Aber was spricht dagegen, es passt auch in den Sezuan, nur in einem völlig anderen Kontext nämlich zur Unterstreichung, das Friederike Heller nicht versagt hat, Karge aber schon.
@ I S
Es ist doch die Frage, was mache ich mit den zwei Seelen in meiner Brust. Wenn Sie das wie im ersten Teil Ihres Foucaultzitat sehen haben Sie recht. Ich gehe aber nicht davon aus, dass das der erstrebenswerte Zustand ist, sondern stelle das nur so fest. Es ist mehr ein Bild für die Zerrissenheit. Brecht hat dafür zwei Figuren geschaffen, meint aber auch letztendlich einen Menschen. Der zweite Teil des Zitats stellt Brecht und Marx wieder auf den Kopf. Da müssen Sie dann schon genau unterscheiden, was sie wirklich wollen. Wir sind zwar zufällig auf dieser Welt aber nicht unfähig des Wirkens auf unser Sein und Bewusstsein.
Schaubühnen Sezuan: Im Netz von Beziehungen und Übertragungen
@ Stefan: Es ging mir nicht um die These, dass wir zufällig auf der Welt sind. Es ging mir auch nicht um die marxistische Ideologie. Sondern es ging mir um die immer schon prozessual verfasste Identität des menschlichen Subjekts, welches sich allererst über die konkrete Erfahrung in konkreten Situationen selbsttätig hervorbringt.
Demnach gibt es auch keinen von vornherein fixierten und vereindeutigenden Sinnzusammenhang in Bezug auf die Lesart, Spiel- und Wirkungsweise dieses Brecht-Stücks. Auch dieses muss immer wieder neu gelesen und im jeweils aktuellen gesellschaftlich-politischen Kontext neu verortet werden.
In Bezug auf die Figurenkonstruktion bzw. auf die Spielweise heisst das, dass es nicht um den Ausdruck eines unveränderlichen Inneren gehen kann, sondern um die äußere Haltung/Gestik/Pose, um die Verkleidung, welche sich auf das Sprechen und Handeln der Schauspieler sowie auf die Wahrnehmung der Zuschauer unterschiedlich auswirkt.
Hervorgehoben wird hier also weniger die ideologische Setzung als vielmehr die Demonstration eines formalen Experiments auf der Basis des Zweifels gegenüber jeglicher Re-Präsentation. Denn:
"Wer spricht? Wer handelt? Es ist immer eine Vielfalt - selbst in EINER sprechenden und/oder handelnden Person. Wir alle sind 'Gruppen'. Es gibt keine Repräsentationen mehr, es gibt nur Aktion: die Aktion der Theorie und die Aktion der Praxis in einem Netz von Beziehungen und Übertragungen." (Deleuze im Gespräch mit Foucault, "Von der Subversion des Wissens", 1971)
Schaubühnen Sezuan: Theater soll anspornen gut zu handeln
Wir müssen doch heute nicht mehr durch einen V-Effekt auf der Bühne darauf aufmerksam gemacht werden, dass eine Gesellschaft veränderbar ist. Auf diese Weise brauchen wir Herrn Brecht ganz sicher nicht mehr. Wir kennen unsere Möglichkeiten. Jemand, der, so wie wir hier, das Internet für sich nutzt, sollte noch belehrt werden müssen darüber, wie er Zugriff auf eine Gesellschaft bekommt ? - Nein. Wir, oder beschränke ich es eben nur auf mich, ich brauche Identifikation, ich möchte betroffen sein, um meine schon vor langer Zeit gewonnenen Erkenntnisse auch einmal praktisch umzusetzen. Ich rede nicht von Theorielastigkeit und Überfrachtung, ich rede von der Lähmung durch Theatertheorien. Menschen wollen handeln. Das Theater könnte sie dazu anstiften. Keine Lösungen, aber Richtungen. Als ob Gallileo seiner Zeit auf dem BE keine Identifikationsfigur für viele Männer gewesen wäre, trotz aller V-Effekten ? Ich habe noch die alte BE Aufführung als Jugendlicher gesehen. Als ob die damalige Generation der Zuschauer ihre Verhaltensweisen nicht auch nach dieser "Verfremdung" ausgerichtet hätten, eben durch Identifikation ? Ich brauche niemanden der mir Theatertheorien erklärt, und schon gar nicht gestrige. Ich brauche ein Theater das mich bewegt, mich anspornt gut zu handeln, gute Entscheidungen zu fällen im Großen wie im Kleinen. Und dazu brauche ich heutige komplexe Figuren. Als ob da nur zwei Seelen in meiner Brust wären. Da ist ein ganzes Rudel Seelen und noch viele unentdeckte Stellen an meinen Seelen. Sie alle wollen gefüttert werden und angeregt. Ich will Sehnsüchte von intelligenten Figuren versinnlicht sehen, die mit mir den Wunsch teilen endlich aus diesen Demokratieen dies zu machen, was sie längst sein sollten. Räume für freie Menschen.
Schaubühnen Sezuan: Verhalten als Dialektik von innen und außen
@ I S
Na was wäre denn dieser neue Sinnzusammenhang heute in Bezug zum Guten Menschen? Ich denke, der hat sich nicht grundlegend geändert seit Brecht das Stück geschrieben hat. Übrigens ist Marx kein Ideologe sondern immer noch Philosoph. Er hat sich an einer wissenschaftlichen Analyse und Kritik des Kapitalismus versucht, eine Ideologie haben da andere draus gezimmert. Ein unveränderliches Inneres ist doch genau das was Marx anzweifelt. Nicht ein feststehendes Bewusstsein ändert das Sein, sondern das durch äußere Einflüsse erzeugte Verhalten, also auch das Spiel meinetwegen, erzeugt eine Bewusstseinänderung oder eröffnet zumindest die Möglichkeit einer Änderung. Die dialektische Wechselbeziehung zwischen Sein und Bewusstsein ist das entscheidende. Nach Foucault könnte des auch eine Art Diskurs sein. Nur darf der dann nicht ins Nichts führen. So eine Versuchsanordnung stellt ja die Inszenierung von Friederike Heller durchaus dar. Wie nehme ich mich oder andere wahr oder wie werde ich wiederum gesehen. Wir können durchaus das gleiche sehen aber vom etwas anderem sprechen und umgekehrt. Ein sogenannter Wahrnehmungsdissens. Schön beschrieben im Programmheft von Jacques Rancière. Er vertritt die Meinung, das nicht die Politik die sozialen Probleme löst, sondern dadurch, das „der gesellschaftliche Anteil der Anteillosen“ sich ihrer Position bewusst werden und für ihre Rechte eintreten, sich etwas ändert. Das heißt aber ich muss Widersprüche erkennen können, um gesellschaftliche Verhältnisse ändern und mit gestalten zu können.
Wahrnehmung ist also auch ein guter Hinweis von Ihnen. Es sind die heutigen medialen Sehgewohnheiten, schreibt Gustav Seibt sehr schön in seinem Vergleich der beiden Brechtinszenierungen in der SZ, die im Widerspruch zur Langsamkeit der Brechtschen Lehrstücke stehen. Brecht wirkt eben doch eher museal und jeder Versuch ihn so zu nehmen wie er ist, verursacht dann beim Zuschauer nur Langeweile. Es maßlos mit der Lässigkeit zu übertreiben meiner Meinung nach aber auch. Das alles hindert einen auch im Theater noch nachdenken zu wollen oder sich auf Neues einzulassen. Alles schon mal da gewesen, alles schon lange verstanden. Das Vermögen die Widersprüche zu erkennen erlahmt. Es herrscht der „Konsens einer medialisierten Politik“ (Rancière).
Brechtstücken fehlt es angeblich an Psychologie schreibt Seibt noch. Leider vertieft er das nicht weiter. Aber ich denke, auch das hat Friederike Heller in ihrer Inszenierung mit berücksichtigt. Das man unter verschiedenen Masken und Kleidungen immer wieder etwas anderes darstellen und vortäuschen kann, sich also dadurch z.B. auch höher stellt, ist ja durchaus psychologisch bedingt.
@123
Das alles was Sie da sagen, stelle ich gar nicht in Abrede. Bitte fühlen Sie ruhig weiter. Jeder nach seiner Fasson. Hauptsache es führt auch zu was.
Schaubühnen Sezuan: Das Subversive im Imaginären
So. Aufführung gesehen. Vorhang vor der aussertheatralen Realität zu. Und alle Fragen offen. Was zum Glück nicht formuliert wurde, denn dieses Zitat würde im heutigen Kontext wohl eher an Reich-Ranickis "Literarisches Quartett" als an dieses Brecht-Stück denken lassen.
Die mal bildhaft illustrierende (zum Beispiel das Recken und Strecken beim Aufwachen, das Kirschenessen von Jule Böwe) und mal eigenständig kommentierende Musik von Kante verweist dann allerdings doch wieder auf diesen Fernsehformatrahmen - ebenso wie das Bühnenbild sowie das demonstrierende Spiel der Darsteller. Diese ziehen hier eine Show ab, welche im Grunde vor allem den Zuschauer in seiner eigenen konsumistischen Erwartungshaltung vorführt. Und so liegt das Subversive hier auch nicht im Schauwert eines von vornherein in der Botschaft fertigen Produkts, sondern im Imaginären, das heisst im Bereich der Vorstellungen von dem, was nicht ist oder noch nicht ist. Hier wird mit den Vorstellungen vom Menschen gespielt, um sich über den Prozess des Spiels darüber verständigen zu können, was "der Mensch" denn nun eigentlich sei. Suspendiert werden alle vereindeutigenden Menschenbilder: die Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Jule Böwe als der "Engel der Vorstädte") sowie der in bestimmten Eigenschaften fixierte Charakter des Menschen (zum Beispiel die hündisch-unterwürfige Haltung von Niels Bormann gegenüber Jule Böwe in ausbeuterischer Brecht-Regie-Kapitalistenpose). Demgegenüber wird der Spielraum der Menschwerdung betont. Was ein guter Mensch sei bzw. ob es diesen reinen guten Menschen - auch in einem anderen Gesellschaftssystem - überhaupt geben könne, das wird hier über das Spiel der Schauspieler erprobt und hinterfragt. Und so wehrt sich Jule Böwe am Ende auch gegen ihre einseitige Vereinnahmung und Instrumentalisierung für die Rolle des "Guten Menschen von Sezuan". Gegen die fröhlich singende Gemeinde ihrer Kollegen versucht sie immer wieder ihre eigene Stimme zu erheben. Und sie ruft dazwischen: "Aber ich bin beides!" Ja. Genau. Blankoschecks sind auch nicht schlecht. Diese Welt ist falsch rum. Oder nicht?
Schaubühnen Sezuan: Das haben Sie reingelesen
Kann man ja vielleicht alles reinlesen, I.S., aber was geht davon wirklich aus der Aufführung hervor und was ist nur Wunschvorstellung in ihrem Kopf? Die Aufführung hat nichts ästhetisch Zwingendes, sie ist einfach flau.
Schaubühnen Sezuan: Die Eröffnung von Möglichkeits-Räumen
@ Marion Wiese: Vielleicht gehts ja genau darum, was in meinem Kopf bzw. im Kopf jedes einzelnen Zuschauers abgeht. Schauen Sie sich doch mal Stefans Kommentare an. Der träumt hier doch auch ständig von der Revolution, obwohl die Inszenierung das so klar doch gar nicht aufruft.
@ Stefan: Wo wir schonmal beim Programmheft sind, ich lese diesen Rancière-Auszug allerdings ein wenig anders als Sie. Zumal ich mich als eigenständig denkende Zuschauerin auch ungern auf eine Dramaturgie der Schuld einlasse, die da besagt, dass ich als Zuschauerin bloß passiv sei und zur kollektiven Aktivität bewegt werden müsse. Hierzu Rancière:
"Aber es besteht kein Grund, dass der Zusammenprall von zwei Welten der Sensorialität das Verstehen der Ursachen bewirkt, noch dass dieses Verstehen die Entscheidung zur Weltveränderung hervorruft. Dieser Widerspruch, der die Anordnung des kritischen Werkes beherrscht, entledigt es deswegen nicht all seiner Wirkungen. Es kann dazu beitragen, die Karte des Wahrnehmbaren und Denkbaren neu zu zeichnen, neue Erfahrungsformen des Sinnlichen, neue Abstände zu den existierenden Gestaltungen des Gegebenen zu erschaffen. Aber diese Wirkung kann nicht eine berechenbare Übertragung von künstlerischem sinnlichen Zusammenprall auf intellektuelle Bewusstwerdung und politische Mobilisierung sein."
Fazit: Dringlichkeit besteht immer, und zwar in dem Sinne dass alles kann und nichts muss. Es geht um die Eröffnung von Möglichkeitsräumen des Politischen. Nicht mehr und nicht weniger.
Schaubühnen Sezuan: Kunst ist Waffe, also Holzhammer?
@ I S
An den Möglichkeitsräumen sollt ihr sie erkennen. Liebe Rosa, I S, Ulrike oder wie Sie sich demnächst nennen werden. Es ist schön das Sie mir meine Revolution lassen wollen. Ich träume zwar auch noch von anderen Sachen, meistens bin ich aber ganz wach und vor allem im Theater. Den Rancière-Text hatte ich eigentlich ganz schnell wieder weg gelegt. Nun habe ich ihn doch noch mal zu Ende gelesen. Er ist eine interessante Anleitung zum kritischen Denken, aber eben auch ein unglückliches Abenteuer. Rancière bezeichnet es ja selber als verrückte Hypothesen. Das „Paradox der Beziehungen zwischen Kunst und Politik“, ein Zusammenhängen beider als „Formen des Dissens“. Kunst und Politik in einem unlösbaren Konflikt? Man kann also Politisches nicht mit künstlerischen Mitteln darstellen? Wenn Sie aber Kunst und Politik so generell trennen wollen, also ästhetische Logik von ethischer Logik, dann könnte man ja Bertolt Brecht, Peter Hacks, Peter Weiss, Hans Magnus Enzensberger, Heiner Müller etc. etc. und wahrscheinlich auch noch Büchner und Schiller getrost in die Tonne treten.
„Eingestandenermaßen ist die Kunst eine Waffe. Eingestandenermaßen ist ein Holzhammer eine Waffe. Nach Aristoteles folgt hieraus nicht, daß die Kunst ein Holzhammer sein müsse. Es folgt eher, daß die Kunst eine um so bessere Waffe sei, je bessere Kunst sie ist.“ (Peter Hacks, Kunst und Revolution)
Kunst kann also schon auch politisch sein. Es geht ja gar nicht nur um eine Nachahmung mittels Abbildung der Politik in der Kunst, sondern wie Sie selber sagen, um „Eröffnung von Möglichkeitsräumen des Politischen“ durch kritische Beschäftigung mit Kunst. „Der emanzipierte Zuschauer“ bei Rancière aber, was imaginiert denn der im Theater? Also mir ist nicht ganz klar, wo sich da Möglichkeiten auftun sollen, wenn es doch egal ist ob der Widerspruch erkannt und verstanden wird und es immer nur um eine Umwandlung der Wahrnehmung geht. Dann kann ich ja jetzt völlig befreit Theater genießen und muss mir keinen Kopf mehr dabei machen. Toll, uneingeschränkter Genuss. Und warum verkleiden die sich jetzt eigentlich noch im Stück, wenn es der Verfremdung gar nicht mehr bedarf? Rancière schreibt weiter: „Man geht nicht vom Betrachten eines Schauspiels zum Verständnis der Welt und vom intellektuellen Verständnis zu einer Entscheidung zur Tat über. Man geht von einer sinnlichen Welt zu einer anderen sinnlichen Welt über, die andere Toleranzen und Intoleranzen, andere Fähigkeiten und Unfähigkeiten bestimmt.“ Das ist sicher richtig, das ich nicht mit der roten Fahne aus dem Theater stürme und Revolution machen werde, darüber nachdenken kann ich doch aber schon. Was wäre denn jetzt diese andere sinnliche Welt? „Le destin des images.“ Die Zukunft der Bilder? Verstecken Sie sich nicht länger in Ihren Möglichkeitsräumen, kommen Sie raus.
Schaubühnen Sezuan: Repräsentation und Spektakel
@ Stefan: Das Paradox liegt aber doch gerade im Widerspruch zwischen einerseits dem geschichtlichen Prozess und andererseits der individuellen Biografie. Daher müssen wir uns meines Erachtens immer wieder auch selbstkritisch befragen, ob diese Sehnsucht nach der Alternativlosigkeit der Revolution nicht zugleich ein permanenter Aufschub des Lebens im Hier und Jetzt ist. Blenden wir da nicht auch die Realität aus, genauso wie im illusionistischen Theater? Anders gefragt: Was machen wir denn jetzt konkret damit, wenn "die Anteilosen", von denen Rancière und Sie sprechen, heute vielleicht doch lieber nur DSDS-Model-Superstar werden wollen und gar nicht mehr Che Guevara? Wollen diese Menschen nicht mehr an der Gestaltung einer politischen Gemeinschaft teilnehmen? Sind sie nur noch an der spektakelhaften (Selbst-)Bespiegelung interessiert? Oder ist auch das wieder nur ein stereotypes Klischee?
Für mich ist diese Form der Inszenierung daher auch eine Kritik an unseren Wahrnehmungsgewohnheiten. Wollen wir vielleicht doch nur gut unterhalten werden, bestenfalls natürlich in Form heldenhafter Revolutionsromantik, ohne das selbsttätig weiterzudenken, geschweige denn unser Alltagshandeln danach auszurichten?
In meiner Perspektive geht es hier, neben dem Inhaltlichen, das sowieso ziemlich schnell klar ist, vor allem um die Form der Dekonstruktion, u.a. der in diesem Brecht-Stück entworfenen Geschlechterverhältnisse. Vor dem Hintergrund all dieser alten Klassenkampftheorien um die Aufhebung des Privateigentums wird nämlich meines Erachtens allzu gern vergessen, die Frage danach zu stellen, ob Menschen eigentlich als (Kollektiv-)Eigentum betrachten werden können. "Der gute Menschen von Sezuan" ist eine Hure, mit anderen Worten, hier handelt es sich um die Geliebte der (kommunistischen) Partei, welche allein der Bedürfnisbefriedigung Anderer diene. Kann man das schon Entfremdung nennen? Oder dient es ebenso den eigenen Bedürfnissen? Ist die Prostitution ein selbstloses oder ein profitables Geschäft? Ist die Hure jetzt Kommunistin oder Kapitalistin?
Das heisst, die Klassenkampfrhetorik (class) verbannt alle weiteren Ungleichheiten bzw. dualistisch konstruierten Machtbeziehungen ausserhalb des eigenen Blickfeldes. In der Regie von Friederike Heller wird dagegen, neben der Kritik an der Profitgier "des Kapitals" meines Erachtens AUCH danach gefragt, warum wir das Weibliche eigentlich immer als das gefühlsbestimmte und sich selbstlos für andere aufopfernde und das Männliche als das rational wirtschaftende und ausbeuterische Prinzip wahrnehmen.

Schließlich lese ich Rancière immer noch anders als Sie. Es geht ihm in meiner Lesart darum, dass das Ästhetische unabhängig vom Repräsentativen und Ethischen gedacht werden muss. Demnach ist der Begriff des Möglichkeitsraums auch so zu verstehen, dass in der Kunst alles offen bleiben muss. Dagegen birgt die ganzheitlich abgeschlossene Repräsentation immer die Gefahr des Erstarrens einstmals beweglicher Denkmodelle in Ideologie - zubetonierte Köpfe oder: Denkmal statt denk-mal! Was ist denn zum Beispiel aus der Utopie des Arbeiter- und Bauernstaats der ehemaligen DDR letztendlich geworden? Vielleicht ist die beste Form der Kritik am aktuellen Virus der Ironisierung des Politischen also die Farce. Vielleicht muss man dieses Fernsehformat der Harald Schmidt-Show zitierend parodieren, um es hinterfragen zu können. Und vielleicht liegt genau darin das Politische.
Schaubühnen Sezuan: Wunschvorstellung
Mein Mantra lautet: Kann man ja vielleicht alles reinlesen, I.S., aber was geht davon wirklich aus der Aufführung hervor und was ist nur Wunschvorstellung in ihrem Kopf?
Schaubühnen Sezuan: gender race und class zusammendenken
@Marion Wiese: Sie wissen es also besser? Und warum schreiben Sie hier dann nicht mehr hin als bloß Ihr persönliches Mantra? Mir gehts um das Zusammendenken von gender race und class. Ansonsten werd ich richtig und wahrhaftig sauer. Und das können Sie mir jetzt ruhig glauben.
Schaubühnen Sezuan: Wer ist
"Stefan" ist prima. Wunderschöne Texte. Wer steckt da eigentlich dahinter? Fragt HT
Schaubühnen-Sezuan: Stefans Reim
Ich bin Stefan, mein Lebenselixier: Den ganzen Tag bei Nachtkritik und das ohne Hartz vier.
Schaubühnen-Sezuan: Abstecher zum echten Gutmenschen
@ HT
Echt, der Holger Teschke der BE-Drucksachen aus den 90er Jahren? Verraten Sie doch mal dem Manfred Karge wie man Brecht macht.
Was ich noch nicht wusste, das Sie auch mal in Südostasien waren. Das würde mich ja interessieren, gibt es da was drüber zu lesen von Ihnen? Ich habe es ja nur durch Vietnam geschafft. Aber Laos und Kambodscha stehen auch noch mal irgendwann auf meinem Plan.
Und vielleicht mache ich dann auch noch einen Abstecher nach China und besuche den echten Guten Menschen von Sezuan.
Schaubühnen-Sezuan: Her mit den Alternativen!
@ I S
Also ich habe kein Problem mit dem Leben im Hier und Jetzt und einer Sehnsucht nach Veränderung andererseits. Aber Sehnsucht nach Alternativlosigkeit, Nee, eher her mit den Alternativen. An solchen Alternativen kann doch z.B. das Theater mit basteln oder ist das ein Paradox, dass das nicht geht? Die DSDS-Generation hat ja aus dem Fehlen echter Alternativen heraus auf das falsche Pferd gesetzt. Das ist kein Klischee, sondern die blanke Realität. Im Würgegriff eines selbsternannten Schlager-Gurus aus Tötensen und angestachelt durch die Möglichkeit eines schnellen Ruhms, setzen sie lieber auf RTL als auf Brecht. Der Möglichkeitsraum in unserem Theater der Träume bleibt ihnen verschlossen.
Fernsehformate wie die Harald-Schmidt-Show sind für Zyniker und solche die es noch werden wollen, das versteht ein Jugendlicher sowieso nicht. Deswegen ist Pocher ja auch wieder ausgestiegen und albert jetzt auf SAT 1 rum. Zu den Wahrnehmungsgewohnheiten habe ich hier schon Gustav Seibt aus der SZ zitiert. Nun sollte Theater aber nicht den Fehler machen und auf den Zug schneller Medienbilder aufzuspringen. Inszenierungen wie Der Gute Mensch von Sezuan und Die Kontrakte des Kaufmanns sind aber schon ein guter Anfang. Und wenn man dann noch halbwegs verständliches Zeug in die Programmhefte schreiben würde, hätten die junge Leute auch zu Hause noch was zum Nachdenken.
Ob beim Sezuan der Friederike Heller irgend etwas dekonstruiert oder nicht ist meiner Meinung nach nebensächlich. Sie macht das auch nicht, der Text und die Figuren bleiben erkennbar. Sie spielt vielmehr mit den Facetten der menschlichen Verhaltensweisen. Übrigens ist Yang Sun genauso eine Hure wie Shen Te. Für 200 Silberdollar verkauft er sich und nachdem die in Aussicht stehenden 300 nicht folgen, geht es auch mit Ranschleimen ganz gut weiter. Die Hure als Geliebte der kommunistischen Partei, das müssen Sie mir mal näher erklären, was das bedeuten soll. Heißt das sich zu verkaufen, wenn man einer falschen totalitären Idee anhängt? Es geht darum in irgendeine Richtung eine Entscheidung zu treffen, welche lässt Brecht ja offen und da ist er wieder Ihr Möglichkeitsraum, ganz klar und deutlich, Sie müssen nur noch reinspringen.
Schaubühnen-Sezuan: Notwendigkeit, für andere zu leben
Ach, übrigens muss ich da doch noch was nachschieben, wegen der zwei Seelen des Guten Menschen und so, auch wenn das wieder etwas pathetisch rüberkommt. HT hat mich auf den Gedanken gebracht, die alten BE-Drucksachen wieder raus zu kramen.
Drucksache 5, 1993 aus „Der Sozialismus und die Seele des Menschen“ von Oscar Wilde (1891):
„Der größte Nutzen, den die Einführung des Sozialismus brächte, liegt ohne Zweifel darin, dass der Sozialismus uns von der schmutzigen Notwendigkeit, für andere zu leben, befreite, die beim jetzigen Stand der Dinge so schwer auf fast allen Menschen lastet. Es entgeht ihr in der Tat fast niemand.“
Na, wäre das auch einen Möglichkeitsraum wehrt?

Der Reim unter 41 ist Scheiße. Da macht ja sogar Stefan Reim bessere.
Schaubühnen-Sezuan: Harald Schmidt + Eduard Limonow
@ Stefan: Mit dem Fernsehformat der Harald Schmidt-Show meinte ich die Unterhaltungsfunktion des voll in den gesellschaftlichen Ablauf integrierten (politischen) TV-Kabarettisten. Indem das hier parodiert wird, kann diese quasi sozialhygienische und kompensatorische Funktion des Hofnarren einer kritisch-politischen Befragung unterzogen werden.
Ich möchte mich jetzt nicht mit Ihnen über Begriffe streiten, aber ich würde schon sagen, dass die Figuren hier dekonstruiert werden. Denn das Verfahren der Dekonstruktion hat ja nichts damit zu tun, dass Text und Figuren erkennbar bleiben oder nicht. Sondern der für die Dekonstruktion charakteristische Gestus ist ein doppelter, er bewegt sich zwischen Kritik und Affirmation, zwischen der radikalen Demontage überlieferter Begriffsgerüste und dem gleichzeitigen Bewußtsein, grundsätzlich nicht ohne diese auszukommen.
Zum Thema "Geliebte der Partei": Mir ging es darum, das (körperliche) Ausbeutungsverhältnis zu problematisieren, welches von männlichen kommunistischen Parteifunktionären gegenüber weiblichen Genossinnen gern mal generös übersehen wird. Zum Weiterlesen können Sie sich Eduard Limonows Roman "Geliebte der Partei" vornehmen. Zitat:
"Ich wusste, dass du nicht nur mit mir offen und unkompliziert bist. Du ziehst halt ruhig die Jeans runter und gibst dich hin. Ich wusste, dass du es mit anderen Genossen machst und war nie eifersüchtig. Ich hab nie verlangt, dass du es nur mit mir machst. Ich wusste, wenn ich dir befehle 'Du lebst jetzt mit mir', hättest du brav mit mir gelebt und mich niemals betrogen, ich war ja dein Kommandeur, dein Führer und du warst immer ein zuverlässiger und disziplinierter Parteigenosse. [...] Eine Frau muss immer bereit sein."
Schaubühnen-Sezuan: Ich brech(t) zusammen
"Bitte fühlen Sie ruhig weiter. Jeder nach seiner Fasson. Hauptsache es führt auch zu was."...ich brech(t) zusammen. In welchen Funktionsvorgang wollen sie mich denn einsortieren ? Dies ist kein Ort für Theorien. Streiten sie endlich anständig. Wie richtige "Kerle". Identifikation oder Verfremdung ?! Ich will eine Antwort. Eine aufregende, sinnliche. Kein Theorem.
Schaubühnen-Sezuan: Wie meinte Brecht den V-Effekt?
@ 123: Darf ich mich hier mal einmischen? Denn ich verstehe Ihre Frage nicht ganz. Warum ENTWEDER Identifikation ODER Verfremdung? Auch Brecht ging es doch meines Erachtens lediglich darum, dass sich der Schauspieler nicht in einen von vornherein feststehenden bzw. psychologisch fixierten Charakter einfühlen solle, sondern dass er sich vor dem Hintergrund wechselnder Situationen notwendig different verhalten muss.
Dieser Vorgang der Herstellung und Hervorbringung alternierender Selbst- und Fremdbilder über den Vorgang des Sprechens ist Nicolas Stemann mit seiner "Heiligen Johanna" in meiner Wahrnehmung noch etwas besser gelungen, doch auch in Friederike Hellers "Gutem Menschen" werden die Figuren erst über den Vorgang des Sprechens bzw. des Singens (Jule Böwe mal sanft und mal aggressiv!) in ihrer Körperlichkeit gegenüber ihrer didaktisch-lehrhaften Pappmodellhaftigkeit sinnlich wahrnehmbar.
Schaubühnen-Sezuan: Namensspiele
zu "stefan"
die ollen BE-Drucksachen sind in der Tat immer wieder toll zu lesen. Bin allerdings nicht der HT, der HT ist. Sondern holger teschke. Als Theaterleiter würde ich allerdings versuchen, "stefan" als Dramaturgen zu engagieren. Das, was "stefan" schreibt, deutet auch erfrischend daraufhin, dass "stefan" nicht Suschke mit Nachnamen heißt. Wenn doch, bringe ich mich um.
Schaubühnen-Sezuan: Brechts Freundlichkeit der Welt
zu "stefan" und Co. Philosophisches Volkstheater, wie Brecht es verstanden hat, heißt auch: sich immer auf dem Weg zu wissen, die Betrachtung der Kunst zu einer kenntnisreichen wie genußvollen Kunst der Betrachtung zu entwickeln, um so "den 'kleinen Kreis der Kenner' zu einem großen Kreis der Kenner zu machen". Brecht vermag auch heute, Grundorientierungen für die Spielplanung eines jeden Theaters zu erklären:
- Krieg oder Frieden
- gesellschaftlicher Fortschritt und humane Emanzipation oder Rückfall in Barbarei und Geschichtslosigkeit
- "Freundlichkeit der Welt" als Bemühen um eine immer tiefer greifende Humanisierung und Sensibilisierung im Zusammenleben der Menschen, als Vorschlag für Haltungen einer immer kühneren Humanität.

Der Rest ist Schweigen, und HT muss nachsitzen!
Schaubühnen-Sezuan: apropos Authentizität
@123
Mit wem soll ich mich wie ein „richtiger“ Kerl streiten, mit Ihnen? Und was ist dann wenn Sie wieder beleidigt spielen? Sehr theoretisch wie es sagen, hat das mit dem V-Effekt ja I S schon erklärt. Aber dazu komme ich vielleicht später noch.
Zum Thema Authentizität, die sie ja eingefordert haben, ist auch der Expertenrunde im Streitraum der Schaubühne „Was ist echt?“ letztens nichts Essentielles eingefallen. Alles auch wieder Theorie und streitfreudig waren die da auch nicht gerade. Caroline Emcke musste ihnen alles mühsam aus der Nase ziehen. Sie ist als einzige aus ihrer Rolle gefallen und vermittelte halbwegs in ihrer Darstellung ihres eigen Zwiespalts als Krisengebietsreporterin den Anschein der Authentizität. Alle anderen behielten ihre Masken auf.
Wo sollen wir nun als kleine User ansetzen, wenn große Experten schon versagen? Ich habe hier mal verlangt, das sich die Theater wieder mehr mit aktuellen Themen der Gegenwartsdramatik auseinandersetzen müssen. Nur ist die eben doch sehr einseitig auf zwischenmenschliche Schwächen festgelegt und zeigt außer vielleicht mit Laucke jetzt im DT nicht in die richtige Richtung.
Schaubühnen-Sezuan: Derridas Dekonstruktions-Begriff
@ I S
Wie kommen Sie denn jetzt auf diesen ultra nationalbolschewistischen Mist eines Eduard Limonow? Ich gebe zu, mich nie mit seinen Schriften beschäftigt zu haben, auch wenn ihn vielleicht in den 70er und 80er Jahren der Flor eines Dissidenten umweht hat. Was daraus geworden ist, sieht man ja jetzt in Russland. Wollen Sie jetzt in Richtung Volksbühne ausweichen? Castorf hat sich ja mit seinem "Fuck Off, Amerika" auseinandergesetzt, obwohl ich bis heute nicht verstehe, was er uns eigentlich damit sagen wollte. Die Inszenierung war zumindest die letzte große chaotische Tat Frank Castorfs, danach herrschte eher Langeweile (den Kean vielleicht mal ausgenommen). Kritik an Amerika und Putin ja, aber nicht um jeden Preis. Ich denke Limonows Ansichten zu willfährigen Genossinnen und dem Heranzüchten einer neuen "freien" Menschheit gemäß Nietzsche, bringen uns in der Diskussion nicht weiter, man kann sie auch sicher nicht einfach so verallgemeinern. Er taugt auch nicht zur Verdeutlichung des unverstandenen Künstlers in einer ihm feindlich gesinnten politischen Welt. Wenn Sie solchen Leuten das Handeln überlassen, brauchen Sie sich über die Ansichten der Jugend in Russland und auch hier in Deutschland nicht mehr zu wundern.
Zurück zum Guten Menschen, obwohl der nun eher klein und mickrig gegenüber so viel Großmannssucht erscheint. Sie schreiben über Kritik und Affirmation bei der Dekonstruktion, da kommen wir schon wieder gewaltig ins philosophieren. Das ist mir einfach zu verkopft. Dekonstruktion ist keine generelle Methode zur Auseinandersetzung mit einem Werk. Das hat Derrida auch nicht so vorgegeben. Dekonstruktion hieße den Werkbegriff selbst zu hinterfragen. Sie können sich nicht einen Teil herausgreifen, den dekonstruieren und dann wieder in den Rahmen (Werk, Stück) zurücksetzen. Erfolgreich zu dekonstruieren hieße, daraus ein neues Werk zu schaffen. Darin kann dann Kritik wie auch Zustimmung enthalten sein, Konflikte, Thesen, Antithesen je nachdem, was Sie damit erreichen wollen oder worauf Sie beim intensiven Arbeiten mit dem Werk stoßen, es muss eine Richtung (eine Spur nach Derrida) geben. So kann jeder zu einem anderen Ergebnis kommen, es sollte letztendlich aber nichts ergebnisoffen bleiben, obwohl der Prozess ja nie ganz abgeschlossen sein wird.

@ "Joachim Tenschert"
Wie geht es dem alten Brecht da oben? Schaut er düster auf uns herab oder freut ihn was er sieht. Grüßen Sie Ihn schön von mir. Sie haben Recht und ich beende das Ganze jetzt.
Schaubühnen-Sezuan: die ungeprüften Vorannahmen
@ Stefan: Auf Limonow kam ich über einen assoziativen Gedankensprung. Im Programmheft zu Castorfs "Vebrechen und Strafe" ist ein Auszug aus Limonows Roman "Geliebte der Partei" abgedruckt. Mir ging es darum aufzuzeigen, dass vereindeutigende Glaubenssysteme und/oder politische Ideologien die eigene Voreingenommenheit oftmals nicht mitreflektieren bzw. ausserhalb des eigenen ideologischen Rahmens belassen. Bezogen auf die Inszenierung des "Guten Menschen von Sezuan" heisst das: Die Götter bzw. die sich zum christlichen Erlöser stilisierenden Gutmenschen wollen einen neuen "guten Menschen" produzieren und vollziehen dies am Beispiel der Prostituierten Shen Te. Nach der marxistischen Lesart von Brecht scheitert dieses göttliche Konjunkturprogramm allein daran, dass die materiellen Verhältnisse der allumfassenden Menschwerdung zum Guten entgegenstehen. Doch was sind hier die ungeprüften Vorannahmen?:
1) Es gibt die reine Güte. 2) Andernfalls sind die ökonomischen Verhältnisse dran schuld. 3) Die Güte ist weiblich. 3) Der gute weibliche Mensch verkauft die selbstlose Liebe und nicht den eigenen Körper. 4) Selbstausbeutung ist gut. 5) Fremdausbeutung (der erfundene Vetter bzw. männliche Geschäftsmann Shui Ta) ist schlecht usw.
Dieses Denken in binären Oppositionen löst die Inszenierung meines Erachtens dekonstruktivistisch auf und demonstriert dagegen die inhärenten Widersprüche solch ganzheitlich abgeschlosener Weltbilder. Man könnte sich zum Beispiel fragen, ob das traditionell vorgegebene Erkenntnisinteresse an Bewusstwerdung bzw. Schulung für den Klassenkampf hier nicht ein anderes Interesse verbirgt, nämlich die Kontrolle über die Geschlechterverhältnisse.
In meiner Perspektive löst diese Inszenierung das Denken aus den herkömmlichen Dichotomien von weiblich und männlich mitsamt den geschlechtsstereotyp codierten Eigenschaften der Demut, Güte und Selbstaufgabe gegenüber dem Machtwillen, der Rationalität und der kapitalistischen Ausbeutermentalität. Dieses Bild der gutherzigen Prostituierten ist also von vornherein zu hinterfragen. Und warum steht hier eigentlich gerade die Prostituierte für das Geistige, das Ideal der Liebe, wo sie doch realistisch betrachtet auf die Straße geht und ihren Körper für Geld verkauft? Was ist daran so christlich? Nüchtern betrachtet ist das doch ebenso Arbeit und reines Geschäft. Mit dem Unterschied, dass Shen Te sich selbst und nicht andere ausbeutet.
An dieser Stelle könnte man danach fragen, ob dieses selbstausbeuterische Prinzip heute nicht das vorherrschende Prinzip ist. Vielleicht wird in den Model-, DSDS- bzw. diversen Castingshows ja bloß besser verschleiert, dass das eigentlich ebenso die reine Vermarktung von vermeintlich selbstbestimmten Individuen ist. Ist die Arbeit des lohnabhängigen Angestellten dagegen vielleicht sogar befreiender, weil der sich nicht permanent als er selbst verkaufen muss, sondern eine Rolle spielt? Wie auch ein Schauspieler nur eine Rolle spielt, was wir ja immer so gern übersehen wollen. Wir wollen das denen da vorn ja glauben. Dass die auch sind, was sie spielen. Die sollen uns doch das bessere Leben vorspielen, was wir in unserem Alltag irgendwie nie so perfekt hinbekommen.
Und was machen wir jetzt damit, dass die uns da vorn jetzt gar nicht den guten alten Übervater Brecht, sondern DSDS-Alltag vorspielen bzw. das parodieren? Dann lieber doch zurück in die Zukunft des Politischen? Auf jeden Fall bleibt das Fazit: So einfach ist das Ganze heute eben nicht mehr. Das klassische Basis-Überbau-Modell hat ausgedient. Heterogene Überbauphänomene können nicht auf einen bloßen Reflex der ökonomischen Basis reduziert werden. Und nochmal Jule Böwe: "Ich bin beides!" Brüll. Schrei. Ja. Genau.
Schaubühnen Sezuan: Sie interpretieren hinein
@IS: jeanne ? neues pseudonym und pünktlich nach sezuan pemiere wieder aufgetaucht ? sind sie gar die regisseurin ? alles was sie beschreiben, hinterfragt doch schon brecht.(gibt es güte ? gibt es ein geschlecht ? gibt es eine figur ? selbstausbeutung vs.fremdausbeutung eines schauspielers in 2 figuren usw.) der abend bleibt eine plumpe comedyveranstaltung mit lauter knallchargen, trotz ihrer dramaturgischen brandreden. was sie hier hineininterpretieren, dekonstruktion von h.schmidt zb, ist ja in aller betriebsblindheit schon witziger als die inszenierung. zu guter letzt behaupten sie noch DSDSS dekonstruiere das gewöhnliche fernsehen. klar.machen sie mal urlaub.
Schaubühnen Sezuan: Brauchen wir wieder talentierte Helden?
@ IM IS: Nein. Ich halte keine Brandreden. Lassen Sie mir doch erstmal meine Wahrnehmung, bevor Sie mich hier verurteilen. Mich hat das Spiel von Kante eben tatsächlich an Rollenspiel erinnert. Das heisst, für mich spielen die hier nicht sich selbst, sondern vielleicht eben doch diese Harald Schmidt-Begleitband unter Leitung von Helmut Zerlett. Denken Sie an die zahlreichen Unterbrechungen der Harald Schmidt-Pointen durch das Zwischenspiel bzw. den Tusch der Band. In meiner Perspektive wird das hier nochmal parodiert und damit zur absoluten Farce. Weit entfernt von der politischen Dringlichkeit Brechts und der Originalmusik von Paul Dessau. Ja. Genau. Das ist der Angriff der Gegenwart auf meine übrige Zeit. DSDS ist auch so ein Angriff auf meine übrige Zeit. DSDS dekonstruiert nix.
Fazit: Brauchen wir vielleicht doch wieder talentierte "Helden" gegenüber dieser einsamen Masse an untalentierten Möchtegern-Superstars? Dieses banale anything goes ist doch total langweilig. Wir brauchen wieder eine neue Entschiedenheit der politischen Stellungnahme. Darin liegt die Schönheit. Und das kam bei mir quasi durch die Hintertür wieder rein. Ich will auf dem Theater nicht noch die Verdopplung von DSDS-Klonen sehen. Ob das von Regie und/oder Dramaturgie so beabsichtigt war oder nicht, ist mir egal. Bei mir kams jedenfalls so rüber. Das ist die Emanzipation des Zuschauers von allem Vorgegebenem, wie "man" Brecht lesen/inszenieren/wahrnehmen müsse.
Schaubühnen Sezuan: Konflikt Ware Mensch
@ I S
Brecht hat sehr lange an der Geschichte des Guten Menschen geschrieben. Aber von Anfang an stand der Konflikt Ware Liebe, Ware Mensch im Vordergrund und wie ließe der sich besser darstellen als an einer Prostituierten. Also Shen Te ist nicht per se gut, weil sie eine Frau ist. Sie sieht ein, dass sie nicht gleichzeitig Ware und Verkäufer sein kann, weil sie sich so selbst ausbeutet. Deshalb will sie aussteigen und mit den Geld, das sie von den Göttern erhält eröffnet sie einen Laden. Hier stellen die Götter übrigens eine so genannte Deus ex machina dar und nicht den Produzent eines guten Menschen, sie befördern den Konflikt gut und böse dadurch auch noch. Brecht braucht nun für den Konflikt den Rollentausch, um den Unterschied von gut zu böse darstellen zu können. Da die Hure nun mal eine Frau ist, muss der Gegenpart zwangsläufig ein Mann sein, sonst gibt es keine Parabel. Die Parabel wird dann auch durch die Schwangerschaft aufgelöst, also ein Mann kann schlecht schwanger werden. Wenn Ihnen das zu männlich gedacht ist, beschweren Sie sich bei Brecht. Leider ist mit dieser Story schlecht eine reine Gender-Debatte zu führen, aber Sie können das natürlich trotzdem ruhig in Ihre Überlegungen mit einbeziehen. Der Rest Ihrer Ausführungen ist tatsächlich etwas an den Haaren herbei gezogen. DSDS und Harald Schmidt gehören ins Fernsehen nicht auf die Bühne und dabei sollten wir es belassen.
Schaubühnen-Sezuan: gender, class und Kante
@ Stefan: Gut. Soweit das Brecht-Reclamheft. Aber wo zeigt sich bei Friederike Heller denn jetzt dieser deus ex machina? Der kommt doch gar nicht, das heisst, vielleicht ist das bereits eine Setzung, dass sich neben dem Politischen auch das Göttliche bzw. Religiöse dem heutigen Leben bereits völlig entzogen hat. Vielleicht stilisieren menschliche Subjekte sich heute eher wechselseitig zum Gott/Gutmenschen/Erlöser?
Ausserdem gehts hier meines Erachtens weniger darum, ob Shen Te per se gut ist, sondern darum, warum die Güte eigentlich an das biologisch weibliche und die Ausbeutung an das biologisch männliche Geschlecht gebunden sein soll. Könnte Shen Te nicht auch ein Stricher und Shui Ta eine Geschäftsfrau sein? Die Parabel würde doch ebenso gut funktionieren, oder nicht? Natürlich, ein Mann kann nicht schwanger werden, aber das ist nur eine körperliche Differenz, welche nicht auf ein weibliches oder männliches "Wesen" schließen lässt.
Schließlich, ich wollte hier keine reine gender-Debatte führen, bloß muss diese - wie oben bereits erwähnt- mit der class-Debatte zusammengedacht werden.
Zum Thema DSDS und Harald Schmidt bzw. allgemeiner formuliert zum Thema TV-Castingshow: Was passiert denn Ihrer Ansicht nach innerhalb dieser Rahmensetzung auf der Bühne? Geht es nicht vielleicht doch um das Paradox zwischen Selbst- und Fremdausbeutung im heutigen Kontext der sogenannten "Dienstleistungsgesellschaft"? Eigentlich gehts hier zwar um Kante, aber zur Verdeutlichung dessen, was ich meine, kann ich hier nur nochmal auf Blumfelds "Der Angriff der Gegenwart (auf meine übrige Zeit)" verweisen:
"Wenn er als Täter auf Popmessen davon singt / Daß so ein Leben isoliert / Jede und jeden dazu zwingt / Die eig'ne Erdung, Ich-Geschichte / Für Kapitalinteressen aufzugeben".
Gibts heute noch sowas wie ein (politisches) Geschichtsbewusstsein oder ist alles nur noch Show?
Schaubühnen-Sezuan: erfrischend + abgedroschen
Schade, um das Ende. Zu abgedroschen. Die Aussage ist bitterernst, da muss auch bitte der letzte Satz bleiben!!!
Doch dies war das Einzige. Die Inszenierung ist so erfrischend, wie ein ... Regen im afrikanischen Rundu.


www.artiberlin.de
Schaubühnen-Sezuan: Was könnt die Lösung sein?
@ 57.: Was meinen Sie mit "bitterernst"? Und meinen Sie mit dem letzten Satz den hier?: "Was könnt die Lösung sein? Wir konnten keine finden, die gefällt. Soll es ein andrer Mensch sein oder eine andre Welt? Vielleicht nur andre Götter? Oder keine?" Da frag ich mich dann auch, warum der hier eigentlich weggelassen wird. Das sind doch die entscheidenden Aporien unserer Gegenwart. Oder?
Schaubühnen-Sezuan: Jule Böwes Geste ersetzt Worte
@ 57.: Zusatz: Andererseits kann man diese letzten Fragen doch auch weglassen, denn die Geste der in Richtung der Zuschauer fragend ausgestreckten Arme von Jule Böwe verweist ja bereits darauf, dass das Theater keine einfachen Lösungen parat hält, sondern das (Nach-)Denken und Tun in die (denkenden) Hände der Zuschauer verlegt. Raus aus dem Showtopf, rein in die politische Öffentlichkeit. Selber bauen/gestalten. Sich Respekt verschaffen. Aber nicht um Anerkennung buhlen und sich dafür verkaufen.
Schaubühnen Sezuan: abgedroschen, albern & laut
Mmh, ich kann fachlich nicht so kommentieren, wie es sie die meisten anderen hier tun und auch über vieles von dem, was sie hier bewerten, keinen Eindruck machen. Ich war als unbeleckter und seltener Theatergänger gestern in der Schaubühne und muss zugeben - ich weiß, das macht man nicht -, dass ich in der Pause gegangen bin. Ich fand es einfach nur abgedroschen, albern und laut. Dass es andere nicht mal bis zur Pause durchgehalten haben, zeigt mir, dass ich nicht ganz alleine war.

Schade ist es trotzdem und ich werde demnächst mal vorher einen Blick auf diese Seite werfen.
Sezuan, Berlin: in realistischem Leben nicht möglich
Dieses Werk - der gute Mensch von Sezuan ist in einer besonderen Weise und Art geschrieben. Das gibt auch den Zuschauer die Möglichkeit die Situation der Parabel zu analysiere und selbst über eine Lösung nachzudenken.
Die Hauptfiguren sind in diesem Werk so egoistisch aufgetaucht, aber doch in dieser Gesellschaft lebt aber ein sehr guter und hilfsbereiter Mensch. Meiner persönlichen Meinung nach ist diese Lage in einem realistischen Leben nicht möglich! Die ganze Gesellschaft kann sich nicht endgültig einen Mensch zu einen so egoistischän und selbstsüchtigen verändern.
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