Im Lagerhaus der Emotionen

von Rudolf Mast

Hamburg, 23. April 2010. Am Thalia Theater geht die erste Spielzeit der neuen Intendanz zu Ende, und ein Programm auf die Beine zu stellen, dem Haus ein anderes Gesicht zu geben, das ist für alle Beteiligten ein Kraftakt. Am Ende dieses ersten Jahres steht nun eine Premiere, die auch an den Beginn gepasst hätte: "Große Freiheit Nr. 7" nach Helmut Käutners Film, der 1943 gedreht, 1944 nach der Uraufführung zensiert und erst ab 1945 ein Erfolg wurde, ist neben vielem anderem eine Liebeserklärung an Hamburg.

Aber, ach: Hamburg hat sich radikal verändert, und auch das "Hippodrom" ist nicht wiederzuerkennen: Im Bühnenhaus steht eine Art Lagerhaus mit zwei riesigen Regalen, die bis auf eine Wand aus weißen Schukartons leer sind. Nur ein Barhocker und ein Mikrofon links an der Rampe erinnern daran, dass hier der singende Seemann Hannes Kröger (Matthias Leja) auftritt. Das Publikum zu unterhalten scheint er jedoch nicht als seine Aufgabe zu begreifen: Kaum hat er die Bühne betreten, setzt er sich auf den Barhocker, zündet eine Zigarette an und dreht dem Parkett den Rücken zu. Minuten später treten auch die anderen Darsteller auf, doch die tiefen Töne einer Bassklarinette, die aus dem Graben dringen, fordern niemanden zum Tanz auf. Nur die Bühne beginnt unversehens, sich langsam im Uhrzeigersinn zu drehen.

Wandel macht wehmütig

So wird auch die weibliche Hauptfigur an die Rampe gespült, statt, wie im Film, von Hannes auf dem Land abgeholt zu werden. An dem "Landei" hat sich die denkbar größte Veränderung vollzogen: Gisa Häuptlein, gespielt von Ilse Werner, existiert nicht mehr, ihren Part hat im Theater Jadranka Dolić, gespielt von Cathérine Seifert, übernommen. Nun steht sie in einer fremden Stadt und begegnet Joochen mit zwei o (Peter Maertens), der aussieht wie ein Seemann, aber doch nur rote Rosen verkauft. "Können Sie mir sagen, wo ich die Große Freiheit finde?", fragt sie ihn durchs Mikroport.

Auch wenn sich die Zensur anders abgespielt haben mag: Weil man nicht hören konnte, ob das Wörtchen "groß" klein oder groß zu schreiben war, musste der Straßenname um die Hausnummer ergänzt werden: Die große Freiheit als unbekannter Sehnsuchtsort, das war 1943/44 in Nazideutschland nicht opportun, weshalb erst der Titel, dann der ganze Film "entschärft" werden musste. Mit der Eingangsfrage vollzieht die Inszenierung diese Grundhaltung des Filmes nach und entspricht ihm dadurch mehr, als jede wort- und werkgetreue Nachschöpfung es je könnte.

Denn in der Tat hat sich seither nahezu alles geändert, die Figuren ebenso wie das Milieu, die Reeperbahn und nicht zuletzt die Seefahrt selbst, der Luk Perceval, Sohn eines Binnenschiffers, als Regisseur der Inszenierung einen wehmütigen Abgesang singt – und dass Hannes Kröger seinen Bericht über die Veränderungen im Hamburger Hafen in Percevals Geburtsjahr 1957 beginnen lässt, verleiht dem Abend einen autobiografischen Zug. In all dem grundlegenden Wandel ist eines aber gleich geblieben: die Emotionen der Menschen, an, mit und über deren Köpfe hinweg sich der Wandel vollzieht, die Sehnsucht und Zerrissenheit, die sie begleitet, und die Vergeblichkeit, die jeder von ihnen kennt.

Sehnsuchtsvoll, zerreißend, unversöhnt

Diese überzeitlichen menschlichen Abgründe thematisiert der Abend, und das (wieder einmal) Faszinierende an der Arbeit Percevals ist, dass er statt auf die Zurichtung eines Inhalts auf eine Form setzt, die das Erzählen übernimmt. Das reicht von der Musik, die dem Jazz nahe, der Folklore fern steht, über den expressiven Schattenwurf des Lichts bis zu den Microports, die nicht nur akustisch das Verhältnis von Nähe und Entfernung umdefinieren. Schließlich und endlich bleiben die Darsteller, die, durchweg bravourös, den widersprüchlichen Gefühlen der Figuren körperlich und stimmlich Ausdruck verleihen, ohne je in die Trickkiste der Psychologie zu greifen.

Das gilt bis zum frühen Schluss, als sich nach kaum 90 Minuten die Bühne wieder leert und Jadranka mit Scholz (Rafael Stachowiak) von dannen zieht. Statt wieder anzuheuern, setzt sich Hannes auf den Barhocker, zündet eine Zigarette an und dreht dem Parkett stumm den Rücken zu. Doch anders als zu Beginn steht nun Anita (Gabriela Maria Schmeide) im Lagerhaus der Emotionen und singt das sehnsuchtsvolle Lied von der "lieben kleinen Nachtigall": Ein zerreißendes Gefühl, auf zwei Schultern verteilt, so endet dieser Abend. Doch abgesehen vom Kitsch sind menschliche Abgründe anders als unversöhnt wohl nicht zu haben. Oder wüssten Sie zu sagen, wo man die große Freiheit findet?

 

Große Freiheit Nr. 7
nach dem Film von Helmut Käutner
Regie: Luk Perceval, Bühne: Luk Perceval nach Entwürfen von Aurel Lenfert, Kostüme: Jasna Bosnjak, Musik: Albin Krasche, Hasja Kabaş.
Mit: Matthias Leja, Thomas Niehaus, Julian Greis, Catherine Seifert, Gabriela Maria Schmeide, Rafael Stachowiak, Franziska Hartmann, Peter Maertens. Musiker: Hans-Georg Spiegel, Sven Kagelmann, Jan Baruschke.

www.thalia-theater.de

 

Zuletzt inszenierte Luk Perceval in Hamburg Kinder der Sonne (März 2010). Als Leitender Regisseur am Thalia stellte er sich zu Beginn der Spielzeit mit dem Publikums-Mitmachabend 2beornot2be und The Truth about THE KENNEDYS (beide September 2009) vor. Seine Münchner Inszenierung nach Hans Falladas Kleiner Mann, was nun? ist zum Theatertreffen 2010 eingeladen.

 


Kritikenrundschau

 

"Nach knapp anderthalb Stunden, als sich an diesem Abend das Gefühl breitmacht, jetzt könne es doch mal losgehen mit der 'Großen Freiheit Nr. 7', da ist sie bereits am Ende", stellt Volker Corsten in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (25.04.2010) ernüchtert fest. Die Musiker dürften erst nach dem Schlussapplaus so richtig loslegen; zuvor spiele Matthias Leja die (im Film von Hans Albers verkörperte) Hauptrolle als "müdes Nichts, das die Gassenhauer – wenn überhaupt – betont lustlos vor sich hin singsangt". Das ist dem Kritiker zuwenig, denn "wenn schon das große Menü auf der Karte steht, dann sollte schon etwas auf dem Teller sein". Luk Perceval habe "keine Antwort" darauf, wie man den Film mit seinem "Mut zu leicht daherkommenden großen Gefühlen" heute umsetzen könne. Seine Akteure "erzählen Krögers Geschichte und distanzieren sich zugleich von ihr." Doch mit welchem Ertrag? Es sei erstens "klar, dass es diese Welt nicht mehr gibt – und zweitens war die 'Große Freiheit Nr. 7' schon damals ein Märchen."

"Den selbstverliebten Hamburgern" den "Spiegel der Zugereisten vorzuhalten" und also mit ihrer "Nostalgie-Erwartung zu spielen" habe "mindestens Chuzpe", schreibt Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (26.4.2010) und erkennt Percevals Filmadaption grundsätzlich als "legitim provokantes Experiment" an. Denn Perceval "verweigert sich bewusst jeder hanseatischen Seefahrerseligkeit, liefert alles andere als eine Schunkelvorlage im Hans-Albers-Gedächtnislook." Dennoch scheint das Experiment trotz guter Schauspielerleistungen nicht vollends geglückt. "Den meisten Figuren aber fehlt hier die Entwicklung." Matthias Leja sei als Hannes Kröger kein "Stimmungssänger, sondern ein singendes Stimmungstief." Seine Kumpel sind "in der kollektiven Mutlosigkeit gestrandet - verstehen es aber, eben daraus die ironischen, immer wieder schräg-komischen Momente zu destillieren." Im Ganzen fällt das Urteil ambivalent aus: Es sei "richtig, den Staub entschieden vom Lokalheiligtum zu pusten, auch wenn das Ergebnis nicht ganz überzeugt."

In ähnlicher Weise hat Werner Theurich auf Spiegel online (24.4.2010) den Abend erlebt: als "Schubumkehr für das käutnersche St. Pauli-Märchen". Perceval vermeide "bei seinem Zugriff auf den Klassiker jede besänftigende Nostalgie und versucht, die Figuren als Zeitgenossen zu beleben ohne dabei ihre Geschichte zu verfälschen. Viele Dialoge sind aus dem Film übernommen, und gerade dadurch wirkt manches, was früher tragikomisch war, heute umso bitterer." Der Kritiker lässt abwägende Passagen folgen: Mit "routinierter Personenregie" jage Perceval sein Ensemble "durch das Gestänge seiner industriellen Aufbauten, doch das ewige Rattenrennen der Unterprivilegierten hat man in dieser oder anderer plakativen Form schon allzu oft gesehen." Manches auf der Bühne wirke "leider arg konventionell". Dennoch stemmt sich der Kritiker abschließend gegen die Buh-Rufer im Publikum: "Hier aber gelang der Klassiker-Transport ins Heute. Und für konservierte Helden gibt's ja das Panoptikum."

Vollends dem Abend zugetan zeigt sich Ulrich Weinzierl in der Welt (26.4.2010). Nach einem eingehenden Überblick über die Entstehungsgeschichte des Films "Große Freiheit Nr. 7" feiert der Kritiker Percevals Umsetzung: "Achtzig alsbald mitreißende Minuten - keine zu lang, das Ganze in der empfundenen Dauer beinah etwas kurz geraten. Wann widerfährt uns das sonst?" Die Arbeit habe nach dem Ausfall der ursprünglich eingeplanten Regisseurin und des Hauptdarstellers Sven-Eric Bechtolf zwar unter schlechten Vorzeichen gestanden. Doch fiel das Ergebnis wider Erwarten aus: "Dank Luk Perceval und dem locker präzisen Ensemble eine theatralische Lebensmelodie von Marthalerscher Grazie und der sanften Brutalität Ödön von Horváths."

Till Briegleb schreibt in der Süddeutschen Zeitung (27.4.2010): Luk Perceval gebe "der falschen Sehnsucht nach Matrosenfreiheit und St.-Pauli-Mythen" keine Chance. Völlig zurecht angesichts der "schwimmenden Arbeitsknäste für Billiglohnkräfte" sei seine Adaption von Helmut Käutners Film so "trostlos gestimmt wie der Feierabend auf einem Frachter mit Tischtennisplatte unter kaltem Neonlicht". Statt der Pferde im Hippodrom: Industrieregale in Containergröße. Matthias Leja spiele den "alternden Knurrhaken" als von Beginn an chancenlos. Cathrine Seifert als "mittellose Osteuropäerin" versende "ihre Reize" offensichtlich nach den "besten Chancen für eine Scheinehe mit Aufenthaltserlaubnis". Ein enorm depressiver Kommentar zum zeitgenössischen Arbeitsleben.


Kommentare  
Percevals Große Freiheit: konzeptionell überformt
Die Überschrift der Nachtkritik bringt meinen Eindruck von der B-Premiere am Samstag auf den Punkt: Die Emotionen in der Geschichte wurden vom dominanten Regiekonzept behandelt wie einzulagernde Konserven, die einem Gefriertrockenverfahren unterzogen wurden. So übergroß schien die Angst, in die Kitschfalle zu tappen, dass im Ergebnis auch der dramatische Konflikt zwischen den Figuren verfehlt wurde - dann wenn keiner liebt, leidet oder kämpft, worum geht es denn dann bitte?

Das Konzept in der Eingangsszene, die Geschichte wie eine Erinnerung zu erzählen, ist zunächst einleuchtend. Allerdings wird bald klar, dass der Abend konzeptionell überformt ist und die Darsteller an die ganz kurze Leine genommen werden - keine große Freiheit hier. Die Schauspielerführung beschränkt sich auf statische Arrangements, nur die Drehbühne kreiselt vor sich hin. Wenn das Drame sich zuspitzt, wird mal kurz mächtig im Kreis gelaufen.

Durch den überflüssigen Einsatz der Mikroports waren die Schaupieler gezwungen, extrem zurückgenommen, wie für sich zu sprechen, was die letzte Energie aus der Aufführung nahm. Erstaunlich, dass es den Darstellern dennoch gelang, zumindest momentweise interessante Typen herzustellen.

Die - sehr gut und präzise spielenden - Musiker durften erst zum Schlussbeifall einmal richtig aufdrehen, um dem ermüdeten Publikum vier Vorhänge abzuringen. Das bewahrte den Regisseur nicht vor zahlreichen Buhs, die er mit V-Zeichen quittierte. Aber wer hat hier gewonnen, hat überhaupt jemand gekämpt, und worum wäre es gegangen?
Percevals Große Freiheit: Spielplankritik
Wer macht eigentlich die Stückauswahl?
Erst dieser Amerika-Quatsch, dann Lessing,
jetzt Käutner. Man kann das mal machen.
Es lief neulich ein alter Käutner-Film im Fernsehen mit
Gustaf Knuth, war super, nur warum muß das auf die große Bühne. Dazu die grauenhafte gotische Graphik, das man meint eine Katedrale zu betreten.
Nathan der Weise hatte ich als Abi-Thema, und fands damals schon ätzend, dieses Zeigefinger-Theater mit der Ringparabel. Es gibt derzeit leider kein einziges Stück was mich interessiert und ich finde das schade, weil ich liebe eigentlich das Thalia. Und ich halte Perceval eigentlich eigentlich einen von den guten.
"nach der Probe" war gut, wurde aber nicht hier entwickelt.
Große Freiheit in Hamburg: Lütter Schuss vorn Bug der Tüddelbandhamburger
Luc Perceval sagt in dem buch "Theater und Ritual", dass er es liebt, wenn menschen sich für was total sinnloses wie theater oder sport völlig hingeben. und hat ja selbst von einer Karriere als profifußballer geträumt. sollte er also gestern nachmittag das spiel geguckt haben, statt seine aufführung, so sei ihm hiermit berichtet, dass, wenn auch längst das theater nicht voll war (kein wunder an dem tag...), so doch die bravorufe und sympathiebekundungen dieser, unserer kleinen gemeinde ob dieser gelungenen inszenierung auch nicht ohne emphase waren!
weder mußten die schauspieler sich wegen der microports extrem zurücknehmen, noch war das publikum am ende ermüdet (im gegenteil!). wer die besondere arbeitsweise von Perceval nicht verstehen will (oder kann), dem empfehle ich besagtes buch "Theater und Ritual" von Thomas Irmer.vielleicht kapiert er dann nach der lektüre, mit was für einem besonderen regisseur er es hier zu tun hat. Chapeau für alle darsteller und (wieder mal)meine verehrung für Gabriela Maria Schmeide!! echt gut, dass die tüddelbandhamburger hier mal so'n lütten feinen schuss vorn bug gekriegt haben.
Große Freiheit in Hamburg: poetische Räume
Ging mir ähnlich wie Peter Pan, war auch in der Vorstellung. Poetische Räume wie sonst selten.
Aber: mir hat eigentlich das gesamte Thalia Programm der Spielzeit gefallen (anders als dem Wadenbeißer Nr.2) - und hgier insbesondere Stefan Puchers Abend über Hans Christian Andersen - ein großer Wurf. Geheimtipp. Hingehen!
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