Vergnüglich ist's im Sumpf des Scheiterns

von Michael Laages

Dresden, 23. April 2010. Schon wieder so ein Theatertext, dessen Titel absichtsvoll und einigermaßen spekulativ in die Irre führen will. Wie bei Simon Stephens kein Punk Rock erklingt, obwohl das Stück so heißt, und auch kein handelsüblicher Video-Sex zu sehen ist, wenn Pornographie auf dem Spielplan steht, so handelt auch Jan Neumanns neue Theaterphantasie weder von Sekten noch im irgendwie kirchlich-religiösen Sinne von den vorletzten Fragen des Glaubens an sich. Bestenfalls vom Glauben an sich selbst.

"Gott allein" ist bei Neumann gegen Ende zwar auch Elvis Presley, der "King of Kings" und also eine Art Gott für Leute, die solche Musik mögen, vor allem aber ist der zukunftsfrohe, von keiner Katastrophe zerstörbare Mensch selbst dieses höchste spirituelle Wesen. Und als solches ist er schrecklich allein.

Besuche in der Wortspielhölle

Gott als Ich heißt Harald Zwilling; und mit aller Witzischkeit, die schon in diesem Namen steckt, stellt er sich vor – womit wir schon mittendrin stecken in der Wortspielhölle, deren Besuch Neumann dem Publikum im Laufe der Zeit noch ein paar Mal zumutet. Im Bewusstsein dieses Zwillings spuken obendrein noch ein paar mehr Ichs herum, die alle so aussehen wie er: fünf Stück Ensemble (und die Souffleuse!) haben darum bei der Uraufführung im Kleinen Haus des Dresdner Schauspiels je ein rotes T-Shirt an, eine alberne Kaffeewärmerwollmütze auf dem Kopf, einen falschen Schnurrbart umgeschnallt und eine große schwarze Heiner-Müller-Brille auf der Nase. Sie alle reden gelegentlich auf das Haupt-Ich ein und wechseln einander im übrigen als Ich-Erzähler ab. So scheint eine ziemlich überdrehte Komödie zu beginnen.

Zwilling hat gerade Geburtstag und ist gestern, wie regelmäßig seit drei Jahren, in irgendeinem Kaff an der Grenze als Elvis-Imitator aufgetreten. Das klingt schon ziemlich schlimm; wie schlimm es wirklich war, das erfahren wir zum Schluss. Zwillings bester Freund und Roadie jedenfalls, der Björn, hat ihn nach dem Desaster verlassen – und nun erzählt dieser verlassene Harry, wie es zu all dem kam.

Auf der Never-ending-Elvis-Tour

Gemeinsam mit noch zwei Kollegen wurden Björn und Harry arbeitslos. Weil aber Harry damals, vor fünf Jahren, so ein unkaputtbarer Optimist war und gegen die offenkundig schlechte stets die beste aller Welten herbei beschwor, hat er allen um sich herum eingeredet, nun endlich – in der beruflichen Lebenskrise – alle Ängste über Bord zu werfen und durchzustarten: den eigenen Traum zu leben. Wie ein Motivationskursmodel trieb er an diesem Tag alle in die Euphorie ganz einfacher Lebensträume: Ilse wollte in Magdeburg ein Nagelstudio aufmachen. Heinz, der Ilse glücklos liebte und dabei zum Gottserbarmen Hessisch babbelte, wollte ihr unbedingt dabei helfen. Erhängt hat er sich später, in der Schlinge, die immer schon bei ihm im Werkzeugkasten lauerte. Harrys Freund Björn wollte damals Reiseleiter sein und rappte prompt los auf sein Lebensziel – am Ende leitet er zwar Reisen: aber nicht in Afrika, sondern für Kumpel Harry auf der Never-ending-Elvis-Tour.

Sie alle scheitern also. Harry selbst besonders ulkig in drei von 105 erfolglosen Bewerbungsgesprächen. Dann packen ihn die Alpträume – und ihm erscheinen im Traum alle Familien-Vorfahren in Porträts zum An-die-Wand-hängen, aber mit den Gesichtszügen des Harry-Ensembles. All dieser Ahnen wegen ist er zum ewigen Zwillingsoptimisten geworden – aber die Frau hat ihn verlassen, nicht ohne zum schlechten Ende noch mitzuteilen, dass das gemeinsame Kind gar nicht von ihm war. Das Ende ist der letzte Elvis-Job vom Geburtstagsvorabend – ein Desaster mit besoffenem "Gott" und einem Roadie, der die Nebelmaschine nicht wieder ausgeschaltet bekommt.

Beim allerletzten Augenaufschlag in diesem Sumpf aus lauter Scheitern ist dann noch zu merken, dass Neumanns Regie den im Programmheft abgedruckten Text beim Proben mit Ensemble-Hilfe noch weiter entwickelt hat. Denn nun versammeln sich noch einmal alle Harrys in dessen Kopf und reden ihm ein, dass es doch eine ganz gute Überlebensidee wäre, wenigstens den armen Björn zurück zu holen. Denn irgendwie geht's ja doch meistens weiter.

Untergänge, handgestrickt

Das alles erzählt sich so gut, weil "Gott allein" vor allem eine zwar etwas unordentlich sortierte, aber überschaubare Ansammlung von zunächst mehr oder minder ulkigen, dann immer tristeren, trostloseren Details ist. Mehr aber ist Neumanns Text dann auch nicht. Pointen kann er bauen, vor allem in den ziemlich abstrusen Bewerbungsgesprächen; szenische Wendungen fallen ihm in Massen ein, etwa wenn in Harrys finalen Absturz hinein ein anderer Elvis-Imitator auftaucht, als Zuschauer, und ihn mit stark osteuropäischen Akzent zur Schnecke macht – sogar Elvis können die inzwischen besser!

Dennoch, trotz aller Einfälle, gelangen Stück und Inszenierung nie und nimmer an jenen magischen Theaterpunkt, an dem die Transformation von allerlei Kleinkram hinüber zur Idee, zum Geheimnis gar beginnt. So wie das zum Beispiel fast immer bei Dea Loher gelingt, und zwar weil hier die poetische Kraft der Sprache beim Übergang ins Große hilft. Neumanns Spiel dagegen bleibt klein, wie Neumanns Sprache – und gerade weil die Untergänge, von denen er erzählen will, zwar fundamental und existenziell vernichtend sind, aber wie handgestrickt aussehen, ist diese latente Unterhaltsamkeit schlussendlich auch ein bisschen ärgerlich.

Und es ist nicht mal ausgemacht, ob "Gott allein" als Stück gewinnen könnte, wenn nicht der Autor selber auch noch als Regisseur seiner selbst zu Werke ginge, also nicht nur fünf, sondern eigentlich sechs Ichs herum spuken in Harrys Kopf. Wer bin ich? Und wenn ja: Wie viele? Das wäre eine schöne Idee für ein gutes Stück.

 

Gott allein, UA
von Jan Neumann
Regie: Jan Neumann, Bühne: Daniel Angermayr, Kostüm: Nini von Selzam, Dramaturgie: Jens Groß.
Mit: Stefko Hanushevsky, Benjamin Höppner, Benjamin Pauquet, Annika Schilling, Sebastian Wendelin

www.staatsschauspiel-dresden.de


Der Autor Jan Neumann hat sich bereits des Öfteren als Regisseur seiner eigenen Stücke betätigt, zuletzt bei Fundament in Stuttgart (November 2009). Auch Herzschritt (Frankfurt, November 2008), Vom Ende der Glut (Aalen, Mai 2008) und Kredit (Frankfurt, Januar 2008) hat er selbst inszeniert. Esther Boldt porträtierte ihn 2008 als Wiederbeleber des Erzähltheaters.

 

Angestrengt witzelnd

In Jan Neumanns von ihm selbst in Dresden uraufgeführtem Stück "Gott allein" gehe es "um Geschichten unaufregender Menschen – die aber mit Lebenswendungen konfrontiert sind", sagt Hartmut Krug auf Deutschlandfunk (24.4.2010). Gesprochen und gespielt werde "nie mit trapsiger Ernsthaftigkeit, sondern es wird, ohne die Figuren zu verraten, vor allem auf Komik gesetzt. Was Neumann bietet, ist kein fein gezeichnetes psychologisches Theater, sondern ein spielerisch ausgestelltes Wirkungstheater." Der Regisseur entwickle "weder größere szenische Bilder noch liefert er Videos, sondern er inszeniert monologisch-dialogisches Schauspielertheater. Dessen Texte sind zwar verdichtet und zuweilen arg witzelnd, aber kaum von literarischer Qualität". "Poetische Kraft und tiefer gehende Fragen, wer bin ich, wer seid ihr, wie viele ist ein jeder, besitzt Stück und Inszenierung nicht. Es ist eine angestrengt witzelnde und an der Oberfläche heutiger gesellschaftlicher Erfahrungen herumkratzende Arbeit, der leider auch ein inszenatorischer Rhythmus fehlt."

Bistra Klunker schreibt in den Dresdner Neuesten Nachrichten (26.4.2010): "Gott allein" sei eine "überschaubare Geschichte mit ein paar Lachgelegenheiten und ohne Tiefgang". Das liege an Neumanns Arbeitsweise, Stücke für die jeweiligen Häuser erst auf den Proben maßzuschneidern. Weshalb auch die angekündigten "fünf ukrainischen Zehnkämpfer", der "Cowboy" und "die Katze namens Amadeus" leider in der realisierten Stückversion fehlten. Sie seien den letzten Strichen zum Opfer gefallen (schade eigentlich). Das "Gewitzel zwischen den fünf entlassenen Arbeitern gipfelt in Nagelstudio-Träumen", der Wortwitz begrenze sich auf "flachbrüstige Missverständnisse". Was "wahre Tragik" entfalten könnte, geht in Dresden "voll auf Unterhaltungskurs".

In der Sächsischen Zeitung (26.4.2010) schreibt Rainer Kasselt: "Gott allein" sei ein "kritisches Zeitstück", das "viel über die Gegenwart" zu sagen habe. Es erzähle "von Menschen, die nach der Pleite ihrer Firma auf der Straße liegen. Und immer wieder aufstehen, den Neuanfang suchen, ihre Träume leben möchten." Der Humor komme "nicht zu kurz", das Stück mische "munter Comedy, Groteske, Parodie und Tragödie." - "Mitunter zu munter". Neumann habe ein gutes Gespür für "soziale Verwerfungen in der Gesellschaft". Nach Ursachen frage er aber nicht. Che Guevaras Spruch: "Verwandelt euren Hass in Energie" variiere der Autor zu "Verwandelt eure Wut in Kraft".

 

mehr nachtkritiken