Schon wieder Stress

von Dirk Pilz

Berlin, 24. April 2010. Schön, wie sie da am Bühnenrand an ihren Basteltischen hocken und sich mit Geräuschen eine Atmosphäre schaffen. Ein Holzpfeifchen, ein Stoffrascheln, ein Uhu-Rufen, und im Waldhalbdunkel sehen wir einen Wolf tanzen. Lichtwechsel, nächste Szene.

In der nächsten Szene stehen Jo und Anna vor einem grauschwarzen LKW-Container, in dem sie erst Zigaretten, viele Zigaretten ("Olala"), dann Menschen, sehr viele Menschen ("Chinamenschen") finden. "Haun wir ab", sagt Anna, und so wie Katrin Wichmann das an diesem Abend sagt, klingt es nach: "Scheiße, schon wieder Stress".

Konsequent in der Sackgasse

Den Stress weiß Dirk Laucke in seinem Ende Oktober in Dresden uraufgeführten und inzwischen zu den Mülheimer Theatertagen gebetenen Stück "Für alle reicht es nicht" noch gehörig hochzupumpen. Denn Heiner, dem Jo und Anna mit ihrem Chinamenschen- und Zigaretten-LKW aufs ehemalige Erdbeerfeld fahren, kann auch keine "Fidschis" gebrauchen. "Mir schnurzpiepe, woher die kommen", sagt Heiner. Heiner denkt an seinen Ex-DDR-Panzer, die Panzerfahrschule und das Panzerfeld: "Ist alles, was ich mir erträumt hab." Und so wie Bernd Stempel das an diesem Abend sagt, klingt es nach: "Scheiße, mein Lebenstraum".

Die Lebensträume seiner Figuren aber schickt Laucke konsequent in die Sackgasse. Panzerfahrschule? "Alles was du hast, ist lächerlich", sagt der Ex-Wessi Jo zu dem Noch-immer-Ossi Heiner, und so wie Paul Schröder das an diesem Abend sagt, klingt es nach – genau: "Scheiße, das ist doch kein Leben." Das Motto für das Leben dieser Figuren und wahrscheinlich für eine gesamte (neoliberale) Epoche, die solche Leben produziert, lautet: "Erst gehen die Systeme flöten, dann die Arbeitsplätze". Bernd Stempel isst eine Erdbeerschnitte, während er diesen Satz spricht. Und Isabel Schosnig – Mütze auf, Mund verzogen, schon ist sie die zwölfjährige, in Gesamtdeutschland geborene Heiner-Enkeltochter Chayenne – bekommt Atemnöte. Sie hat Allergie. Gegen Erdbeeren, gegen Systeme, gegen solche Sätze.

Ein Lumpensammler von Benjamin'schem Schlage

Laucke gibt mit "Für alle reicht es nicht" den Lumpensammler im Stile Walter Benjamins: Er sammelt die Übersehenen, Vergessenen, ins Abseits Geschobenen zusammen, holt ins dramatische Licht, was die deutsch-deutschen und globalen Welt- und Geschichtsverhältnisse wissentlich am Rande haben liegen lassen. Er will und sucht einen unverkennbaren Realismus, der sich den beschädigten, letztlich also allen Leben verpflichtet weiß. Der Laucke-Realismus ist ein kräftig sozialdramatisch gefärbter Realismus mit hohen Ansprüchen an seine Passgenauigkeit und Wachrüttelqualitäten: Hallo, schaut doch mal hin auf die Erniedrigten und Beleidigten, nehmt doch wenigstens wahr, dass die Gegenwart nicht an euren Milieugrenzen aufhört!

Laucke ist dabei sympathischerweise kein gesellschaftskritischer Drauflosschimpfer, er ist ein ernsthaft dramatischer Rufer, letztlich ein gut protestantischer Anrufer des gesellschaftlichen Gewissens. Sein "Chinamenschen"-LKW will auch eine Allegorie auf uns und unsere Selbstwahrnehmung sein: Wir sind allesamt Abgeschobene in ein anonymes System, wir sind alle Betroffene von dem, was wir tun und lassen.

Sabine Auf der Heyde hat, um diesem Ruf Bühnengehör zu verschaffen, eine Art Regie-Verstärker gebaut. Sie benutzt dafür einen so einfachen wie effektiven Regie-Trick: Indem sie die Szenen und Schauspieler zwischen Geräusche- und Realismusmacherei aufspannt, indem sie ihr Quartett rechts als Theaterverfertiger und mittig als Figurenanverwandler auftreten lässt, indem sie also das Gemachte der Inszenierung dick unterstreicht, schafft sie ihren durchweg spielfreudigen Darstellern den Rahmen für umso drastischere Wirklichkeitsabbildnerei.

Das Puzzle des Realismus

Die Dresdner Uraufführung von Sandra Strunz war damals ein pastellfarbenes, fast zärtliches Milieugemälde, die Berliner Zweitaufführung malt dagegen in grellen, fast beißenden Farben. An den Rändern der Figuren und Szenen wird dabei die bitter-böse Komödie sichtbar, die auch in Lauckes Text steckt. Gerade die verfremdende, distanzierende Gesamtrahmung adelt aber das Scheiß-Leben der Laucke-Menschen mit einem Realismus, der die Zuschauerherzen in ihren stumpfen, verhärteten Stellen treffen will. Im Lichte dieser Regie erscheinen diese Bühnen-Menschen nicht nur wie Stellvertreterfiguren für einen gesamtgesellschaftlichen Missstand, sondern genauso für ein allgemeines, wahrscheinlich ängstliches Beiseiteschauen.

Allerdings fällt dieses Licht auch auf das Stück selbst zurück. Plötzlich erscheint die Szenerie wie ein halbfertiges Puzzle mit uneinsichtigen Leerstellen, plötzlich fängt man nach psychologischen Motiven und Logiken zu fahnden an und findet lauter lose Enden, plötzlich wirkt der Text bemüht, irgendwie selbst gebastelt und angestrengt gesellschafts- und gewissenskritisch. Einerseits.

Denn andererseits wird durch Sabine Auf der Heydes zupackende Regie auch etwas deutlich, das Lauckes Stück allenfalls in den Fußnoten mitführt: der gebastelte, gemachte Charakter der Erinnerungen und Gegenwartwahrnehmungen, der schwankende Boden, auf dem alle Realismusabsichten, Wirklichkeitsbefragungen und Gesellschaftsbildkonstrukte stehen.

So ist dieser Abend auch eine Frage an ein Theater samt seinem Publikum, für das bereits eine wohlfeile Gesellschaftskritik reicht, um sich die Gesellschaft und das Kritikwürdige an ihr vom Halse zu halten: Was wissen wir vom Leben jenseits unserer Wahrnehmungsgrenzen? Was wollen wir davon wissen? Und was folgt daraus, wenn wir es besser, genauer, ehrlicher wissen?

 

Für alle reicht es nicht
von Dirk Laucke
Regie: Sabine Auf der Heyde, Bühne und Kostüme: Ann Heine, Musik: Jacob Suske, Dramaturgie: Ulrich Beck.
Mit: Katrin Wichmann, Paul Schröder, Bernd Stempel, Isabel Schosnig

www.deutschestheater.de


Mehr zu Dirk Laucke lesen Sie in seinem Lexikoneintrag auf nachtkritik.de. Und in welch illustrer Runde wird Laucke in diesem Mai bei den Mülheimer Theatertagen gastieren? Hier steht es.

 

Kritikenrundschau

Dirk Laucke sei ein "spitzzüngiges, feinironisches Grenz-Stück über den Wandel der Zeiten gelungen", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (27.4.2010). Der Wandel sei "hier" ein "grotesk konsequenter Abstieg 'die ganze Evolutionsleiter runter', direkt ins 'Paradies der Wellblechbuden' auf den Schmugglermärkten". Laucke schiebe "die strategischen Sprachmasken" seiner Grenzgänger hin und her: den "angeberischen B-Movie-Westernton", das "sozialdramatische Rührstück", das "kafkaeske Märchen". Leider ginge "genau dieses Spiel der Zwischentöne" in Auf der Heydes Inszenierung "weitgehend verloren". Sobald die vier Schauspieler sich die Rollen anziehen und "in allzu dramatischen Ernst einschnüren", verschluckten sie die Assoziationsvielfalt wieder. Außer der "herrlich durchsichtigen Wandlungskraft Isabel Schosnigs" müssten die Schauspieler "zu verbissen an einem dramatischen Tonfall festhalten".


"Die Regisseurin", schreibt Christoph Funke im Tagesspiegel (28.4.2010), "besteht auf einem ruhigen, mitunter fast statuarischen Spiel, sie betont das Unbestimmte, Verhangene der Charaktere." Dafür schaffe Jacob Suskes Musik Erregung und "mehr als nur einen Rahmen". Gut gefallen hat Fubnke Bernd Stempel, der als Panzerfahrer "zwischen Selbstmitleid, Begriffsstutzigkeit und Kraftmeierei" das "hinreißende Porträt eines Gescheiterten" liefere. Die anderen Schauspieler gäben dem Abend " nachdenkliche Hochspannung".

Lauckes Sound eines "zeitgenössischen Realismus" und die offensichtliche gesellschaftliche Relevanz seiner Themen machten ihn attraktiv für die Theater, schreibt Anne Peter in der tageszeitung (28.4.2010). Und dazu lädt der Autor sein Drama symbolisch auch noch auf. Regisseurin Sabine Auf der Heyde entwerfe eine "kleine, kluge Verfertigungs-Studie: Wie geht noch mal Illusion?" Die Schauspieler schüfen "Hörspiel-Atmosphäre", die Sielszene, durch Blacks getrennt, seien "gleichsam vom Bastel-Charakter umgestellt". Was die, allesamt "exemplarischen", Figuren jedoch "ungleich plastischer, direkter, realitätsnäher ins Licht" halte. Dabei wirke jede der unverbunden nebeneinander stehenden Szenen für sich. Bei den glänzenden Schauspielern gewinne die hervorragend funktionierende Laucke-Sprache "beinahe etwas spontan Improvisiertes". Alle erspielten ihren Figuren "mit größtmöglicher Intensität die Zuschauergemüter".

 

Kommentare  
Laucke am DT: vom deutschen zum globalen Konflikt
Aus den Lautsprechern der Bar vor der Box im DT tönt Bob Dylan. Ich muss unweigerlich an die herausragende Dylan-Thomas-Inszenierung „Unter dem Milchwald“ von Sabine Auf der Heyde hier in der Box denken. Einige ihrer skurrilen Zeltplatzbewohner hat sie in das neue Stück von Dirk Laucke hinüber gerettet. Nun stehen sie im Wald mitten im Niemandsland zwischen dem wiedervereinigten Deutschland und der Tschechischen Republik. Ein junges Ost-West-Pärchen das Zigaretten und rechte Musikkassetten schmuggelt und ein ehemaliger NVA-Offizier der einen Panzer aus dem Schrott gerettet hat und damit Nostalgiefahrten durchs Gelände plant. Heiner hat sein Leben in der DDR gelebt und sucht nach einem neuen im vereinigten Deutschland, Jo und Anna haben noch nicht einmal richtig zu leben angefangen.
Es fehlt an Geld und Zukunft. Ideen haben sie jedenfalls und da stolpern sie über einen Laster mit Schmuggelzigaretten und vergessenen asiatischen Flüchtlingen. Nachdem erst mal ausdiskutiert wird, ob Fidschis für Vietnamesen ein rassistischen Schimpfwort ist oder nicht, werden von Jo sofort Pläne geschmiedet den Fund in Geld umzusetzen. Er erklärt als echter „Besser“-Wessi Heiner erst mal, das ihm für sein Panzergeschäft nicht nur das richtige Merchandising fehlt, sondern vor allem das Geld. Und nachdem die Zweifel bei Heiner halbwegs ausgeräumt sind, läuft die Chose, natürlich letztendlich voll gegen den Baum.
Dirk Laucke, Jahrgang 1982, interessiert in seinem Stück weniger der Ost-West Konflikt als viel mehr der globale, in dem die Grenzen in Europa zwar durchlässiger geworden sind, sich aber die „Evolution“ der Wirtschaftsflüchtlinge nur weiter nach Osten oder Süden verschoben hat. Trotzdem lässt er Heiner seine Ost-Biografie mit NVA und Alkohol die ihm erst Frau und Kind gekostet hat und dann nach der Wende gehen auch noch System und Job flöten. Erst als seine Tochter Ela wieder auftaucht, findet er endlich in seiner Enkelin Chayenne, klingt ja wie Pfeffer sagt Anna nein wie die Indianer meint Jo, eine Zuhörerin für seine alten Geschichten. Jede Figur im Stück hat ihre spezielle mehr oder weniger traumatische Biografie. Jeder sucht ein neues Leben, will etwas vom Kuchen abhaben. Das Gewissen schlägt mit Ela in ihre Mitte, sie ist die einzige die nicht tatenlos zusehen will, wie die Flüchtlinge im Laster zu Grunde gehen.
Nachdem Jo mit seine Plänen gescheitert ist, niemand will die Vietnamesen haben, sogar die Erdbeerfelder zur Arbeit gibt es nicht mehr, will auch Heiner die Flüchtlinge so schnell wie möglich loswerden, sie stören nur sein neues Geschäft. Das er dabei auch seine Tochter, die im Streit mit Anna, die nicht nur die Vietnamesen als unmittelbare Konkurrenz sieht, im Laster gelandet ist, mit über die Grenze nach Tschechien fährt, merkt er nicht mal. Sie kann nur noch konsternieren „Ich gehöre doch nicht dazu“. Letztendlich sitzen wir aber alle im selben Boot, nur für alle reicht es eben nicht.
Die Inszenierung von Sabine Auf der Heyde ist dicht und glaubwürdig, sie hat mit Katrin Wichmann, Paul Schröder, Bernd Stempel und Isabel Schosnig auch ein grandiosen Schauspielensemble, das nebenbei noch genial die Musik, die Geräusche der Tiere im Wald oder das Fahren des Panzers besorgt.
So eine Story kann schnell bildgewaltig im Sozialkitsch enden, hier gelingt Sabine von der Heyde aber wieder mal ein kleines Meisterwerk.
Laucke am DT: dringliche Frage
stefan, wer bist du? warum schreibst du das alles?
Laucke am DT: Gegenfrage
@ maja
Gegenfrage: gefällt es dir nicht, oder warum willst du das wissen? Vielleicht gefällt mir ja nicht, was ich sonst so lese.
Laucke am DT, Berlin: zu laut
furchtbar langweilig..nicht zu ende gedacht und vor allem eines.. LAUT.. können schauspieler heute nur noch eine tonlage.. ?
Kommentar schreiben