Das Leben im Dschungel

von Esther Boldt

Frankfurt, 25. April 2010. Russland ist ein kleiner Bär in der Hand der Dame Europa. Mit seinen Krallen kratzt er ihre Haut auf, dass Blut kommt, und scheißt in die Wunde. So vermischt sich der Kot des russischen Bären mit dem Blut Europas – eine eigenwillige Allegorie, die die junge dänische Regisseurin Cecilie Ullerup Schmidt für ihre Annäherung an das größte Land der Erde wählt. Ihre Inszenierung "Rusland" eröffnete das Nachwuchsfestival Plateaux am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm – ein jährlicher Showcase junger Theatermacher aus der ganzen Welt, der in diesem Jahr zum zehnten Mal stattfindet und über zwei Wochen acht Uraufführungen und einige Gastspiele zeigt. Seit 2008 wird Plateaux von Martin Baasch kuratiert.

Je weiter der Bär aus Moskau herauskommt, desto mehr wächst er, bis die Größenordnung wechselt und Russland Europa in seinem haarigen Pelz trägt. Auf der Bühne ragt ein meterhoher Rock auf, aus ihm schaut der Kopf der Erzählerin. Mit kühler Strenge und Schalk im Nacken thront Sofie Volquartz Lebech über dem Publikum und steckt zugleich fest – in der Geschichte vielleicht, in dem Kontinent, der ihren Blick prägte: "Hallo Russia. This is Europe. I'm standing in the West, in my acropolis." Sie wolle, erklärt die Erzählerin, ein Portrait Russlands zeichnen, und spricht dabei von der Riesennation wie von einem fremden Menschen: "Don't move!"

GULAG goes Gulasch

Doch aus dem bunten Kissenrock schlüpfen Zwillingsmädchen in glitzernden Turnkostümen (Olivia und Clara Struve). Gemeinsam mit der Tänzerin Georgia Vardarou bespielen sie die Bühne zu Füßen des Rockungetüms, den Raum gewissermaßen in Sprache und Körper teilend. Sie rollen die Turnmatten aus und schlagen Rad, sie schalten sich per Blick mit der Erzählerin kurz und kartieren Russland mit ihren Bewegungen. Sprachlich dicht und disparat, mal poetisch, mal persönlich, mal abstrakt, erzählt Lebech von einer Reise durch Russland, notiert Beobachtungen und gleicht sie permanent mit Klischees ab: "Samowars, War and Peace, Babushka dolls, Vodka: exist." In der Leere Sibiriens dagegen lauert eine Überraschung, da hat die Geschichte scheinbar kein Gewicht, berichtet die Erzählerin: Da passierte es, dass sie in einer Bar "Stalin" sagte und alle ihr Glas zum Toast erhoben, und als sie "GULAG" sagte, wurde ihr Gulasch serviert.

Ullerup Schmidts sehr persönlich wirkender Abend handelt von der Sehnsucht danach, Russland kennenzulernen, von seltsamen Begegnungen auf der Reise, von Überwältigungsmomenten und letztlich von der Unmöglichkeit, die Fremde zu erschließen. Die Differenz zwischen Ost und West bleibt uneinholbar, so die desillusionierte Diagnose am Schluss: "Alles hier ist in Wahrheit etwas, das wir selbst erfunden haben." "Rusland" entwirft Skizzen, Vorstellungswelten des fremden Territoriums, und lässt zugleich die Annäherung an ebendiese bekannten, teils mythischen Bilder scheitern.

In seiner Diagnose hält der Abend an der poststrukturalistischen Prämisse fest, dass wir über unsere gesellschaftliche und historische Vorstrukturiertheit nicht hinauslangen können – szenisch ist diese bisweilen etwas unbefriedigend, weil er Vorstellungen im selben Moment negiert, indem sie entworfen werden. So wird das Theatrale, Performative aufgeschoben und zu einem nicht eingelösten Versprechen gemacht. Klischees der Turnernation und der kollektiven Formierung werden angerissen, wenn etwa die Zwillinge eine Brigade kläffender Aufziehhündchen an der Rampe entlang marschieren lassen. Neben solchen aufblitzenden Eindeutigkeiten bleiben die Beziehungen im Darstellerinnentableau häufig offen und die Erzählung über den Köpfen Aller wirkt uneinholbar fern.

Panik im Tierpark

In seiner Disparatheit und performativen Selbstreflexion ist "Rusland" die spannendste Inszenierung des Eröffnungswochenendes, an dem sich allerorten heitere, absichtslose Bezugnahmen ergeben. Doch viele der Arbeiten wirken schlicht unausgereift. So soll auch in "Panik in the ZOO" der Fremde erobert und eine Feindschaft überwunden werden, und auch hier ist der Fremde ein Bär. Er trägt einen großen roten Puschelkopf und Hosen mit Schottenkaro, und der Teddy (Umut Sürel) scheint mehr Angst vorm Menschen zu haben als umgekehrt. Dabei hatte Asli Bostanci zuvor mit kieksender und gurrender Mädchenstimme erzählt, wie es überhaupt zur Feindschaft kam auf dieser Welt, denn ursprünglich waren ja alle Tiere Freunde und Vegetarier.

Auf einem Rasenflecken treffen sich Spielzeugtierchen in Frieden, bis der Löwe erstmals Blut leckt und mehr will von dem warmen, roten Saft. Zusammen mit dem Tiger lockt er ein Zebra in den Wald und frisst es. Seither ist die Welt eine Wildnis und das Dasein ein Überlebenskampf, von dem das großäugige Schreckgesicht und die abgespreizten Glieder der türkischen Performerin zeugen, die ebenso Horrorfilm-Ikonografie zitieren wie Comic-Ästhetik. Körperlich ist die Begegnung zwischen Frau und Bär präzise gearbeitet, Atem und Stimme werden rhythmisiert und stilisiert, und man sieht der launigen kleinen Performance an, dass Bostanci Tänzerin ist. Doch nach einem starken, vielversprechenden Beginn versackt "Panik in the ZOO" in plüschiger, milchmilder Beliebigkeit.

Mutwillige Mutationen

Dagegen ist das Video "Vertical Distraction" des Performers und Videokünstlers Dennis Feser bestechend konsequent. Auf dem Dach des Mousonturms, vor der bekannten Frankfurter Skyline steht Feser und macht sich zum Alien: Mittels Klebeband, Selleriestangen und Rotkohlblättern schafft er sich Prothesen, wickelt groteske Hörner vom Kopf zu den Schultern oder kristallartige Gebilde um die Beine, mutwillige Mutationen zwischen Fleisch und Pflanze produzierend, die einen grotesken Kontrast zur stoischen Unveränderlichkeit der Hochhäuser bilden und ihn in ein undeutbares Wesen verwandeln. Eine irritierende, tolle Intervention.

Bemerkenswert auch, wie einige der jungen Künstler die Höhe als Mittel der Distanznahme nutzen: Die Amsterdamer DasArts-Absolventen Sarah van Lamsweerde, Kaisu Koski und Norberto Llopis Segarra etwa erproben in "Gravity" den freien Fall, in "Fine Bone China" von Lucy and Martha geht viel Porzellan zu Bruch und zeugt klirrend von der Unzulänglichkeit des Lebens. Bei "Gravity" stehen Regale voll Kellergerümpel im Hintergrund, davor eine rampenartige Konstruktion aus Bühnenpodesten. Über eine Stunde verbringen vier Performer damit, die Dinge neu zu arrangieren, herumzutragen und Fallstudien zu machen: Was passiert, wenn ein Stuhl vom höchsten Punkt fällt? Wer fällt schneller, Koffer oder Aktentasche? Wie klingt eine Serenade fallender Plastikbecher? Das ist für einige Minuten nett, letztlich aber eine langweilige Frechheit, die eine arrogante Verweigerungshaltung zum Prinzip erklärt.

Eine beinah perfekte Tea-Party

Dagegen bemühen sich die Britinnen Lucy and Martha um Perfektion. Auf zwei hohen Stühlen mit Leiterbeinen thronend versuchen die akkurat frisierten und gekleideten Damen, einen sehr britischen perfekten Moment zu produzieren: "The perfect tea time moment!" In einer ausgefeilten Choreografie schenken sie sich gegenseitig Tee und Milch ein, bieten sich Sandwiches an und schildern die Schönheit des Augenblicks: Das leise Geklirr der Tassen, das Lachen, das den Raum füllt, ein hereinblitzender Sonnenstrahl, der auf der weißen Tischdecke einen Regenbogen wirft. "It is already truly wunderful!", beteuern sie, die Teetassen auf ihren Köpfen balancierend wie weiße Hütchen.

Damit sind in der Zeremonie der Reinheit und Perfektion die Fehlerquellen einprogrammiert, und bei jeder stürzenden Tasse beginnen die beiden wieder von vorn. Auch die Technik gerät außer Kontrolle, ins Streichquartett mischt sich Wolfsgeheul, vielleicht ein Hinweis darauf, dass der Mensch doch nur ein Tier ist, so zivilisiert er sich auch gibt. Das Leben ist ein Dschungel, in dem die jungen Künstler offenbar aufbegehren wollen – nur in welche Richtung der Widerstand gehen soll, bleibt offen. Begegnet man dem Anderen mit Selbstreflexion, -verfremdung und -erhebung wie in "Rusland" und "Vertical Distraction"? Oder zerschlägt man bloß Porzellan zwischen dem absoluten Willen zur Kontrolle und ihrem vollkommenen Verlust?


RUSLAND
von Cecilie Ullerup Schmidt (Dänemark)
Text und Regie: Cecilie Ullerup Schmidt, Performance: Sofie Volquartz Lebech & Georgia Vardarou, Turnerinnen: Olivia Struve & Clara Struve, Tongestaltung: Jacob Kirkegaard, Kostümgestaltung: Anna Gulmann, Bühnenbild: Annesofie Norn, Lichtgestaltung: Antonio Rodrigues Andersen, Regieassistenz: Cæcilie Østerby Sørensen, Text- und Konzeptdramaturgie: Sofie Volquartz Lebech, Grafik Design: Søren Meisner, Produktion: Maj Riis Poulsen.

PANIC IN THE ZOO
von Asli Bostanci (Türkei)

VERTICAL DISTRACTION
Konzept & Regie: Dennis Feser, Kamera: Karin Then.

GRAVITY
von Sarah van Lamsweerde / Norberto Llopis Segarra / Kaisu Koski (Niederlande / Spanien / Finnland)
Regie und Performance: Kaisu Koski, Sarah van Lamsweerde, Norberto Llopis Segarra und Fraser Stewart.

FINE BONE CHINA
Von und mit: Lucy Cassidy und Martha King (United Kingdom)

www.mousonturm.de


Mehr zu Festivals des neueren Performance-Theaters und der Off-Szene? Wir waren 2009 bei Freischwimmer in Berlin, Kaltstart in Hamburg und natürlich bei den jüngsten Ausgaben von Impulse und dem Festival der Bundeszentrale für Politische Bildung Echt, den großen Theatertreffen der Freien Szene.

 

Kritikenrundschau

Eva-Maria Magel schreibt in der Rhein-Main-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.4.2010): Die "neue Kunst" der ersten Plateaux-Tage sei oft "mehr artistisch und handwerklich" und mache inhaltlich weniger "Effekt". Da nützten auch hochgestochene Ankündigungen wenig. Auf fielen allerlei formale Parallelen. Röcke spielten eine Rolle bei Cecilie Ullerup Schmidt, die in "Rusland" in "einem riesigen Rock-Turm aus Stoffknoten" throne und "Russlandklischees" hinterfragen wolle, Rock und eine Erzählung werde auch Mamoru Iriguchi in "Into the Skirt" verwenden. Einiges sei heruntergefallen: verschiedenes, darunter ein Stuhl bei Sarah van Lamsweerde, Norberto Llopis Segarra und Kaisu Koski, deren "Gravity" an Fischli und Weiss erinnere. Tassen fielen bei der "charmanten, aber etwas langen und braven Performance" der Britinnen Lucy & Martha von einem Hochsitz. Einen "energetischen Schub", einen "Hauch Anarchie" und den "Willen, etwas weiter vorzudringen als bis dahin, wo es noch bequem ist" hat, laut Magel, offenbar nur die türkische Performerin Asli Bostanci mit „Panic in the Zoo" bewiesen.

 

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