"Wenn ich einmal reich wär'. . ."

von Harald Raab

Heidelberg, 4. Mai 2010. Tatsächlich steigt da einer gleich zu Beginn auf das Dach eines Spielzeughauses und mimt in grotesk-verzerrten Verrenkungen den Fiddler on the Roof aus dem Musical Anatevka. Ist etwa jiddische Folklore angesagt? Die Story vom armen aber glücklichen Milchmann Tewje, dem Juden im Shtetl, das kitschig-verlogene Abziehbild, das nur die Kehrseite der Plakette Antisemitismus ist.

Die Gefahr ist beim ersten Bild nicht von der Hand zu weisen. Führt das Herzliya Ensemble aus der gleichnamigen israelischen Stadt unweit von Tel Aviv doch eine Collage aus Kurzgeschichten des jiddisch schreibenden Autors Scholem Alejchem (1859-1916) in Heidelberg auf: "Die Stadt der kleinen Menschen". Alejchems Roman "Tewje" lieferte die Folie für das weltberühmte Musical, obendrein hat jeder das entsprechende Bild von Marc Chagall vor Augen. So funktionieren Stereotypen.

Wie Theater mit unseren Gefühlen spielt

Genau gegen diese verniedlichende Nostalgie aus dem Musterbuch unserer romantischen Sehnsüchte und unserer Verdrängungsleistungen agiert jedoch die engagierte Truppe unter der Leiterin und Regisseurin Ofira Henig. Herausgearbeitet wird, wie Theater mit unseren Gefühlen und Vorurteilen spielt.

 

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Die Idylle ist ein Mörderstück. © Herzliya Ensemble
Die benutzten Muster sind oft erprobt: Das Komische, das skurril Überdrehte ist der Zuckerguss, in dem uns eine bittere Pille verabreicht wird. Die nämlich, dass kleine Verhältnisse immer nur menschliche Zwerge gebären. Oder, um es mit einem anderen jüdischen Autor, Karl Marx, zu sagen: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.

Von trostloser Leere ist die Bühne: nur Miniaturhäuschen und ein Zaun (Bühne und Kostüme: Shiri Assa und Oren Sagiv). Es wird linear erzählt, in hebräischer Sprache, deutsche Übertitel. Und genau das (scheinbar) Einfache stellt hohe Regie-Anforderungen an Bildhaftigkeit, Tempo und Aufbau von Spannungsbögen – und natürlich an die Schauspieler und Schauspielerinnen: den Gag nicht zum Overgag verkommen zu lassen, zu karikieren und doch Charaktere sichtbar zu machen, mit Erwartungshaltungen zu spielen und doch Überraschendes mitzuteilen – vom Menschen, dessen Tragik komisch und seine Komik tragisch ist.

Pittoreskes Shtetl, Perspektive Auschwitz

Für den Part des schlagfertigen Schlingels ist der Dorf-Rothschild (Icho Avital) zuständig, der der frommen Gemeinde auch schonungslos offenbart, dass sie nach einem 20 Jahre alten Kalender ihre Feiertage begeht. Ein schlauer Händler hat den Juden diesen Ladenhüter angedreht. Es darf gelacht werden, damit man umso mehr aufnahmebereit ist für die Tragik dieser Existenzen, für den Rabbi (Yoram Yosephsberg), der alles und alle versteht, selbst sein mit ihm permanent haderndes Weib (Odelia Segal-Michael) und sein Töchterchen (Sylwia Trzesniowska Drori), das mit Benjamin (Nimrod Bergman) in die Welt zieht. Der Bengel wird zwar etwas Großes, fällt aber vom rechten Glauben der Väter ab. Dabei hatte sein Erzeuger Israel, der Totengräber, (Yoav Hait) mit dem Aufstieg seines Sohnes die Hoffnung verbunden, dass der Messias kommen werde.

Helfen kann aber niemand der Witwe, die mit ihrem Milchtopf, ihrem einzigen Gefäß, wehklagend herumrennt (Orna Katz). Dabei soll sie ihrem sterbenskranken Sohn David eine Hühnersuppe kochen. Doch das verstößt im Milchtopf gegen die religiösen Vorschriften der koscheren Speisenzubereitung. Und dann sind da noch der einzige wohlhabende Mann im Shtetl (Uri Rawitz) und die Kreatur (Naomi Fromowich-Pinkas), das behinderte Wesen, das bei seinem Tod den einzigen Existenzsinn erfüllt: Es soll bei Gott ein gutes Wort für seine gestraften Eltern einlegen.

So ziehen sie dahin, die kleinen Leute aus dem Shtetl. Und das metallische Rattern der Transportwagen auf den Schienen nach Auschwitz übertönt die Antwort auf die Frage: Was die Zukunft für diese Menschen in petto hat. Die Idylle ist wie stets ein Mörderstück.

Nachgespräch

Intensiver Applaus für eine intensive vermittelte Produktion, die nach Heidelberg in London gezeigt wird. Doch diese Aufführung aus dem Gastland Israel beim Stückemarkt hatte auch ein Nachspiel – ein nicht minder engagiertes Publikumsgespräch mit dem Ensemble. Da erfuhr man auch von kritischen Reaktionen auf das Stück in Israel: Es zeige das antisemitische Zerrbild vom schwachen, geldgierigen Juden. Das hochzuhaltende israelische Ideal sei der selbstbewusste, zur Verteidigung bereite Bürger. Lange habe man deshalb in der Öffentlichkeit nicht Jiddisch sprechen dürfen. Erst jetzt zeichne sich eine Rückbesinnung auf diese Wurzeln ab.

Nicht außen vor blieb im Gespräch auch der verklausuliert vorgebrachte, relativierende Vergleich des deutschen Verhaltens gegenüber den Juden mit dem der Israelis zu den Palästinensern. Merkliche Erleichterung bei einigen im Auditorium: Auch die jungen Israelis sprechen vom ewig gleichen Umgang der Mehrheitsgesellschaften mit ihren Minderheiten. Schwindendes Geschichtsbewusstsein, scheint also doch kein exklusives Privileg der Deutschen zu sein.

 

Die Stadt der kleinen Menschen
von Scholem Alejchem, deutsche Erstaufführung
Adaption: Eyal Doron und Ofira Henig
Regie und musikalische Leitung: Ofira Henig, Bühne und Kostüme: Shiri Assa, Oren Sagiv; Beleuchtung: Jackie Shemesh, Ton: Harel Tabibi.
Mit: Orna Katz, Naomi Fromowich-Pinkas, Odelia Segal-Michael, Sylwia Trzesniowska Drori, Icho Avital, Yoav Hait, Nimrod Bergman, Uri Rawitz, Yoram Yosephsberg.

www.heidelberger.stueckemarkt.de

 

Das Programm des Gastlands Israel während des diesjährigen Heidelberger Stückemarkts wurde vom israelischen Regisseur und Dramturgen Avishai Milstein kuratiert, der die Theaterszene seines Landes für nachtkritik.de in einem Theaterbrief aus Tel Aviv beschrieben hat.

 

Kritikenrundschau

Bemerkenswert findet Elisabeth Maier in der Rhein-Neckar-Zeitung (6. Mai 2010) diesen "ästhetisch starken Totentanz" der Leiterin des innovativen Theaterensembles aus Herzliya. Denn es gelingt Ofira Henig aus ihrer Sicht, das kritische Potenzial Scholem Alejchems sichtbar zu machen, der den meisten nur als Autor von "Anatevka" ein Begriff sei. Hier nun sehe man die Seelenkämpfe der Figuren seiner Kurzgeschichten "markant choreografiert", wobei mutig künstlerische Formen ausgeschöpft würden. Die psychischen Untiefen der Menschen spiegeln sich aus Sicht der Kritikerin so " im starken Körpertheater der Akteure. Ihr Spiel mit Stereotypen und mit der kollektiven Erinnerung rückt dabei nicht platt politische Aspekte in den Vordergrund. Für die Erfahrung von Krieg und Vertreibung findet sie schöne, einfühlsame Bilder."

 

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