Sauberkeit sündigt nicht

von Dorothea Marcus

Essen, 15. September 2007. Küssen ist wegen septischer Gefahr verboten. Wer geraucht hat, wird angeklagt. Genau wie der, der sein sportliches Pensum vernachlässigt und sich mit dem immunologisch unpassenden Partner verbindet. Eigentlich hat sich die Hauptfigur Mia Holl nichts weiter als einen plötzlichen Abfall der Eigenhygiene an Körper und Wohnung zuschulden kommen lassen, nachdem ihr Bruder Moritz Selbstmord beging. Doch für Ruhe und Trauer ist kein Platz in einer Gesellschaft, in der Gesundheitsvorsorge zur totalitären Pflicht geworden ist.

Mit der Anklageschrift gegen Mia beginnt das erste Theaterstück, das die gefeierte 33-jährige Romanautorin Juli Zeh geschrieben hat. Mal in Rückblenden, mal in chronologischer Abfolge entfaltet sich in "Corpus Delicti" ein Plot, der an einen Science-Fiction-Krimi in Form eines Gerichtsprozesses erinnert – in leicht manieriert-intellektueller, oft aber auch poetisch hochkonzentrierter Sprache.

Ein Gedankenexperiment 

Obwohl Mia zunächst sogar eine Befürworterin des Systems der "Essenz" – soll heißen: des absoluten Sauberkeits- und Antikrankheitsterrors – ist, wird sie durch den Tod ihres Bruders aus der Bahn geworfen. Nur, weil sie sich an ihn erinnern will, wird sie dem "System" verdächtig und aus der Bagatellanklage gegen sie nach und nach ein Terroristenprozess – oder auch die Hexenjagd auf eine Unschuldige, die wie Antigone zur Rächerin an eben diesem System wird. Ohnehin sind in "Corpus Delicti" die literarischen Vorbilder zwischen Orwell und Sophokles, Kafka und Houellebecq weit gestreut. Es ist ein Gedankenexperiment: Im 21. Jahrhundert der Juli Zeh wird niemand zum Tode verurteilt, sondern als Höchststrafe auf unbestimmte Zeit eingefroren.

Eingefroren sollte Moritz werden, weil man ihn eines Sexualmordes anklagte, bei dem man seine DNA-Spuren fand; an der Beweiskraft dieses Funds kann in einer Gesellschaft, die den Körper zum Fetisch macht, nicht mehr gezweifelt werden. Doch die DNA war wohl untergeschoben, denn Moritz war dem System unbequem: rauchte, liebte Schnecken und Frauen, flanierte außerhalb des Hygienegebiets. Und weil Mia ihren Bruder liebt, wird aus der indifferenten, rationalen Intellektuellen, die an kein ideologisches Konzept mehr glaubt, nach und nach doch eine politische Aktivistin. Und zwar – Juli Zeh lässt sich das Wortspiel nicht nehmen – der Widerstandsgruppe R.A.K., was "Recht auf Krankheit" heißt.

Daraus entsteht in der Essener Zeche Carl in einem kleinen Raum aus weißen, sterilen Plastiktreppen (Bühne und Kostüm: Sabrina Glas) eine Zukunft, die wie eine monströs verzerrte Gegenwart wirkt. Auf drei Treppen sitzen die Zuschauer, die vierte ist für die Schauspieler reserviert.

Der kühle Raum des 21. Jahrhunderts 

Die Regisseurin Anja Gronau (für die ursprünglich geplante, aber schwangere Friederike Heller eingesprungen) wurde in der Freien Szene mit ihrer "Trilogie der klassischen Mädchen" bekannt: drei hinreißende Monologe über Käthchen, Gretchen und Johanna, in der drei Märtyrerinnen der Weltliteratur vor schlichten Leinwänden und fast ohne Requisiten eine neue Sprache und Geschichte bekamen. Und auch diesmal entwickelte Gronau die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts aus einem bildlosen, kühlen Raum. Aufgelockert wird er nur durch Lichtwechsel und die abwechselnd mit Leonardo da Vincis Menschenkreis projizierten "Gesundheitskarten" der Angeklagten.

Gronau verlässt sich ganz auf ihre grandiosen Schauspieler, die eine Welt aus dem Nichts entstehen lassen: Anne Ratte-Polle als Mia Holl ist eine schmale, intensive und einsame Rationalistin, die den modernen Selbstzweifel eingesogen hat und daran verzweifelt, dass sie an nichts mehr glaubt. Die Doppelrolle von Bruder Moritz, der sich selbst seiner Schwester als die perfekte Projektionsfläche und heimlichen "idealen Geliebten" hinterlassen hat, wird vom stimmgewaltigen Christoph Luser gespielt, der auf der Bühne eine feinnervige, körperliche Hochspannung entwickelt. Ein liebesunfähiger Bruder, der Mensch bleiben will und seine Sehnsucht nach Schmutz in unverbindlichem Sex auslebt. "Man muss flackern wie eine kaputte Lampe", sagt er und sucht sich seine kleinen unhygienischen Freiheiten.

Zwielichtige Gestalten 

Der Rest sind Repräsentanten des Systems, die sich mit einem fröhlichen "Santé" begrüßen und stets freundlich bleiben. Die oberste Richterin wird von Rosa Enskat als pseudo-fürsorgliche, mütterliche und eiskalte Sozialtussi gespielt. Der leutselige, schmierige Systemjournalist Heinrich Kramer steckt bei Vivien Mahler in einer Hosenrolle: eine Frau, die härter, glatter und selbstzufriedener ist als ein Mann – wie um zu zeigen, dass der verhandelte Staatsterror keine maskuline Domäne ist. Sie lockt mit scheinbarem Entgegenkommen Zitate und Geständnisse aus Mia heraus, um sie damit ins Verderben zu reiten.

Aber auch Verteidiger Rosentreter (Arnd Klawitter) ist eine zwielichtige Gestalt: einer, der vermeintlich gegen den Unrechtsstaat kämpft, aber Mias wachsenden Extremismus benutzt, um seinen Ruhm zu vergrößern. Und dann gibt es noch den recht eindimensional bösen Staatsanwalt Bell (Norman Hacker).

Ein konzentriertes Kleinod 

Anja Gronau hat klug etwa die Hälfte des ausufernden Stücks gestrichen, jene Partien, die den Systemterror illustrieren: Ganze Passagen von denunziantischen Nachbarsfrauen fallen weg. Heraus kommt ein konzentriertes Kleinod, dem man deutlich anmerkt, dass es von einer Romanschriftstellerin geschrieben wurde: sprachgewaltig, viele Erzählpassagen, wenig gespielte Szenen.

Man könnte dem Drama durchaus vorwerfen, ein intellektuell verschwurbeltes, philosophisches Thesenstück zu sein, in dem die Psychologie der Figuren hinter ihrer Illustrationsfunktion zurücktritt. Ein Stück, das vieles zugleich sein will: eine Studie über Staatsgewalt und Märtyrertum, über Ideologie und Indifferenz, über die Suche nach und den Zweifel an der Liebe, über unsere Gegenwart, in der alle Konzepte tot und dennoch erdrückend gegenwärtig sind, über Projektionsflächen, Wahrheit, Ohnmacht, Gewalt und Sehnsucht.

Dennoch ist die innere Entwicklung der kleinen Schwester Mia, die nach Liebe verlangt und zur Terroristin gemacht wird, anrührend und nachvollziehbar, sind die Szenen zwischen den Geschwistern intensiv und zärtlich, die Verhörszenen bedrückend und brutal. Und so ist "Corpus Delicti" genau deshalb ein kleiner großer Theaterabend geworden: ein Spiegel der Gegenwart. Ein Stück, das ebenso intelligent wie poetisch und gefühlvoll ist. Mehr kann man nicht wollen.

 

Corpus Delicti
von Juli Zeh
Regie: Anja Gronau, Bühne und Kostüme: Sabine Kohlstedt.
Mit: Anne Ratte-Polle, Rosa Enskat, Norman Hacker, Arnd Klawitter, Christoph Luser und Vivien Mahler.

www.ruhrtriennale.de

 

Kritikenrundschau

In der FAZ (18.9.07) moniert Andreas Rossmann, "überkonstruiert und diskurslastig" laufe das Stück Gefahr, die Sterilität vor der es warne selbst anzunehmen. Als "weitgehend bilderloses Sprechtheater" lasse Regisseurin Anja Gronau die Uraufführung ablaufen, nur die "burschilos die wilden Seiten der Figur aufdeckende Anne Ratte-Polle" in der Hauptrolle und der "altfreakige" Christoph Luser genügten "den schauspielerischen Ansprüchen eines Festivals".

Juli Zeh, schreibt Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (18.9.07), sei kein Theatertier. Sie sei "verliebt in die eigenen Formulierungskünste", lege ihren Figuren  "manchmal überdeutliche Thesen in den Mund". Sie habe aber in Anja Gronau eine Regisseurin gefunden, die "aus ihrem Stück die besten Seiten heraus holt". Gronau könne "dichte Szenen aus dem Nichts entstehen lassen, Schauspieler in großer Konzentration blühen lassen". Mit "deutlichen Strichen und präziser Schauspielerführung" dringe Gronau "zum Kern der Charaktere" vor und erzähle eine "ebenso mitreißende wie satirische Geschichte".

In der Süddeutschen Zeitung (17.9.07) schreibt Vasco Boenisch, dass Zeh passend zu "Mittelalter", dem Motto der Ruhrtriennale, wohl eine "moderne Hexenjagd" schreiben sollte. "Und sie schrieb viel mehr: eine hoch spannende Dystopie unseres kollabierenden demokratischen Wohlfahrtstaates in einer Science-Fiction-Zeit 2057." Der Zuschauer werde "intelligent und infam immer wieder neu in die politisch unkorrekte Argumentationsfalle" gelockt. Diese "Diskurswucht" habe die Regisseurin Anja Gronau nun "offenbar erschreckt". Ihrer "dramaturgischen Radikalkur fallen reizvolle Exkurse wie vitale Nebenfiguren, etwa ein volkstümlicher Nachbarinnen-Chor, zum Opfer." Lob dagegen auch für Anne Ratte-Polle, die der Figur der Biologin Mia einen "sanften, aufrichtigen Stolz" verleiht.

Karin Fischer erzählt im Deutschlandfunk (16.9.07), dass Juli Zeh Raucherin sei und entsprechend gar nicht lange "nach Alltagsphänomenen suchen (musste), die sich zu einem Zwangssystem umdichten ließen". Mit ihrem "dezidiert politischen Stück" ziele sie aber auch auf die historische Perspektive. Regisseurin Anja Gronau nun hätte in Essen "aus dem thesenlastigen Text viele schauspielerische Funken" geschlagen. Trotzdem gehöre "Corpus Delicti" eigentlich ins Buchregal. "Wegen der schönen Prosa von Juli Zeh und weil man dem Thema massenhafte Verbreitung wünscht." Juli Zeh sei mit diesem Text "der weibliche George Orwell der Gegenwart geworden."

 

 

 

 

Sauberkeit sündigt nicht

von Dorothea Marcus

Essen, 15. September 2007. Küssen ist wegen septischer Gefahr verboten. Wer geraucht hat, wird angeklagt. Genau wie der, der sein sportliches Pensum vernachlässigt und sich mit dem immunologisch unpassenden Partner verbindet. Eigentlich hat sich die Hauptfigur Mia Holl nichts weiter als einen plötzlichen Abfall der Eigenhygiene an Körper und Wohnung zuschulden kommen lassen, nachdem ihr Bruder Moritz Selbstmord beging. Doch für Ruhe und Trauer ist kein Platz in einer Gesellschaft, in der Gesundheitsvorsorge zur totalitären Pflicht geworden ist.

Mit der Anklageschrift gegen Mia beginnt das erste Theaterstück, das die gefeierte 33-jährige Romanautorin Juli Zeh geschrieben hat. Mal in Rückblenden, mal in chronologischer Abfolge entfaltet sich in "Corpus Delicti" ein Plot, der an einen Science-Fiction-Krimi in Form eines Gerichtsprozesses erinnert – in leicht manieriert-intellektueller, oft aber auch poetisch hochkonzentrierter Sprache.

Ein Gedankenexperiment 

Obwohl Mia zunächst sogar eine Befürworterin des Systems der "Essenz" – soll heißen: des absoluten Sauberkeits- und Antikrankheitsterrors – ist, wird sie durch den Tod ihres Bruders aus der Bahn geworfen. Nur, weil sie sich an ihn erinnern will, wird sie dem "System" verdächtig und aus der Bagatellanklage gegen sie nach und nach ein Terroristenprozess – oder auch die Hexenjagd auf eine Unschuldige, die wie Antigone zur Rächerin an eben diesem System wird. Ohnehin sind in "Corpus Delicti" die literarischen Vorbilder zwischen Orwell und Sophokles, Kafka und Houellebecq weit gestreut. Es ist ein Gedankenexperiment: Im 21. Jahrhundert der Juli Zeh wird niemand zum Tode verurteilt, sondern als Höchststrafe auf unbestimmte Zeit eingefroren.

Eingefroren sollte Moritz werden, weil man ihn eines Sexualmordes anklagte, bei dem man seine DNA-Spuren fand; an der Beweiskraft dieses Funds kann in einer Gesellschaft, die den Körper zum Fetisch macht, nicht mehr gezweifelt werden. Doch die DNA war wohl untergeschoben, denn Moritz war dem System unbequem: rauchte, liebte Schnecken und Frauen, flanierte außerhalb des Hygienegebiets. Und weil Mia ihren Bruder liebt, wird aus der indifferenten, rationalen Intellektuellen, die an kein ideologisches Konzept mehr glaubt, nach und nach doch eine politische Aktivistin. Und zwar – Juli Zeh lässt sich das Wortspiel nicht nehmen – der Widerstandsgruppe R.A.K., was "Recht auf Krankheit" heißt.

Daraus entsteht in der Essener Zeche Carl in einem kleinen Raum aus weißen, sterilen Plastiktreppen (Bühne und Kostüm: Sabrina Glas) eine Zukunft, die wie eine monströs verzerrte Gegenwart wirkt. Auf drei Treppen sitzen die Zuschauer, die vierte ist für die Schauspieler reserviert.

Der kühle Raum des 21. Jahrhunderts 

Die Regisseurin Anja Gronau (für die ursprünglich geplante, aber schwangere Friederike Heller eingesprungen) wurde in der Freien Szene mit ihrer "Trilogie der klassischen Mädchen" bekannt: drei hinreißende Monologe über Käthchen, Gretchen und Johanna, in der drei Märtyrerinnen der Weltliteratur vor schlichten Leinwänden und fast ohne Requisiten eine neue Sprache und Geschichte bekamen. Und auch diesmal entwickelte Gronau die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts aus einem bildlosen, kühlen Raum. Aufgelockert wird er nur durch Lichtwechsel und die abwechselnd mit Leonardo da Vincis Menschenkreis projizierten "Gesundheitskarten" der Angeklagten.

Gronau verlässt sich ganz auf ihre grandiosen Schauspieler, die eine Welt aus dem Nichts entstehen lassen: Anne Ratte-Polle als Mia Holl ist eine schmale, intensive und einsame Rationalistin, die den modernen Selbstzweifel eingesogen hat und daran verzweifelt, dass sie an nichts mehr glaubt. Die Doppelrolle von Bruder Moritz, der sich selbst seiner Schwester als die perfekte Projektionsfläche und heimlichen "idealen Geliebten" hinterlassen hat, wird vom stimmgewaltigen Christoph Luser gespielt, der auf der Bühne eine feinnervige, körperliche Hochspannung entwickelt. Ein liebesunfähiger Bruder, der Mensch bleiben will und seine Sehnsucht nach Schmutz in unverbindlichem Sex auslebt. "Man muss flackern wie eine kaputte Lampe", sagt er und sucht sich seine kleinen unhygienischen Freiheiten.

Zwielichtige Gestalten 

Der Rest sind Repräsentanten des Systems, die sich mit einem fröhlichen "Santé" begrüßen und stets freundlich bleiben. Die oberste Richterin wird von Rosa Enskat als pseudo-fürsorgliche, mütterliche und eiskalte Sozialtussi gespielt. Der leutselige, schmierige Systemjournalist Heinrich Kramer steckt bei Vivien Mahler in einer Hosenrolle: eine Frau, die härter, glatter und selbstzufriedener ist als ein Mann – wie um zu zeigen, dass der verhandelte Staatsterror keine maskuline Domäne ist. Sie lockt mit scheinbarem Entgegenkommen Zitate und Geständnisse aus Mia heraus, um sie damit ins Verderben zu reiten.

Aber auch Verteidiger Rosentreter (Arnd Klawitter) ist eine zwielichtige Gestalt: einer, der vermeintlich gegen den Unrechtsstaat kämpft, aber Mias wachsenden Extremismus benutzt, um seinen Ruhm zu vergrößern. Und dann gibt es noch den recht eindimensional bösen Staatsanwalt Bell (Norman Hacker).

Ein konzentriertes Kleinod 

Anja Gronau hat klug etwa die Hälfte des ausufernden Stücks gestrichen, jene Partien, die den Systemterror illustrieren: Ganze Passagen von denunziantischen Nachbarsfrauen fallen weg. Heraus kommt ein konzentriertes Kleinod, dem man deutlich anmerkt, dass es von einer Romanschriftstellerin geschrieben wurde: sprachgewaltig, viele Erzählpassagen, wenig gespielte Szenen.

Man könnte dem Drama durchaus vorwerfen, ein intellektuell verschwurbeltes, philosophisches Thesenstück zu sein, in dem die Psychologie der Figuren hinter ihrer Illustrationsfunktion zurücktritt. Ein Stück, das vieles zugleich sein will: eine Studie über Staatsgewalt und Märtyrertum, über Ideologie und Indifferenz, über die Suche nach und den Zweifel an der Liebe, über unsere Gegenwart, in der alle Konzepte tot und dennoch erdrückend gegenwärtig sind, über Projektionsflächen, Wahrheit, Ohnmacht, Gewalt und Sehnsucht.

Dennoch ist die innere Entwicklung der kleinen Schwester Mia, die nach Liebe verlangt und zur Terroristin gemacht wird, anrührend und nachvollziehbar, sind die Szenen zwischen den Geschwistern intensiv und zärtlich, die Verhörszenen bedrückend und brutal. Und so ist "Corpus Delicti" genau deshalb ein kleiner großer Theaterabend geworden: ein Spiegel der Gegenwart. Ein Stück, das ebenso intelligent wie poetisch und gefühlvoll ist. Mehr kann man nicht wollen.

 

Corpus Delicti
von Juli Zeh
Regie: Anja Gronau, Bühne und Kostüme: Sabine Kohlstedt.
Mit: Anne Ratte-Polle, Rosa Enskat, Norman Hacker, Arnd Klawitter, Christoph Luser und Vivien Mahler.

www.ruhrtriennale.de

 

Kritikenrundschau

In der FAZ (18.9.07) moniert Andreas Rossmann, "überkonstruiert und diskurslastig" laufe das Stück Gefahr, die Sterilität vor der es warne selbst anzunehmen. Als "weitgehend bilderloses Sprechtheater" lasse Regisseurin Anja Gronau die Uraufführung ablaufen, nur die "burschilos die wilden Seiten der Figur aufdeckende Anne Ratte-Polle" in der Hauptrolle und der "altfreakige" Christoph Luser genügten "den schauspielerischen Ansprüchen eines Festivals".

Juli Zeh, schreibt Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (18.9.07), sei kein Theatertier. Sie sei "verliebt in die eigenen Formulierungskünste", lege ihren Figuren  "manchmal überdeutliche Thesen in den Mund". Sie habe aber in Anja Gronau eine Regisseurin gefunden, die "aus ihrem Stück die besten Seiten heraus holt". Gronau könne "dichte Szenen aus dem Nichts entstehen lassen, Schauspieler in großer Konzentration blühen lassen". Mit "deutlichen Strichen und präziser Schauspielerführung" dringe Gronau "zum Kern der Charaktere" vor und erzähle eine "ebenso mitreißende wie satirische Geschichte".

In der Süddeutschen Zeitung (17.9.07) schreibt Vasco Boenisch, dass Zeh passend zu "Mittelalter", dem Motto der Ruhrtriennale, wohl eine "moderne Hexenjagd" schreiben sollte. "Und sie schrieb viel mehr: eine hoch spannende Dystopie unseres kollabierenden demokratischen Wohlfahrtstaates in einer Science-Fiction-Zeit 2057." Der Zuschauer werde "intelligent und infam immer wieder neu in die politisch unkorrekte Argumentationsfalle" gelockt. Diese "Diskurswucht" habe die Regisseurin Anja Gronau nun "offenbar erschreckt". Ihrer "dramaturgischen Radikalkur fallen reizvolle Exkurse wie vitale Nebenfiguren, etwa ein volkstümlicher Nachbarinnen-Chor, zum Opfer." Lob dagegen auch für Anne Ratte-Polle, die der Figur der Biologin Mia einen "sanften, aufrichtigen Stolz" verleiht.

Karin Fischer erzählt im Deutschlandfunk (16.9.07), dass Juli Zeh Raucherin sei und entsprechend gar nicht lange "nach Alltagsphänomenen suchen (musste), die sich zu einem Zwangssystem umdichten ließen". Mit ihrem "dezidiert politischen Stück" ziele sie aber auch auf die historische Perspektive. Regisseurin Anja Gronau nun hätte in Essen "aus dem thesenlastigen Text viele schauspielerische Funken" geschlagen. Trotzdem gehöre "Corpus Delicti" eigentlich ins Buchregal. "Wegen der schönen Prosa von Juli Zeh und weil man dem Thema massenhafte Verbreitung wünscht." Juli Zeh sei mit diesem Text "der weibliche George Orwell der Gegenwart geworden."

 

 

 

 

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