In der Konkurrenz von 4000 Jahren  

von Christian Rakow

Osnabrück, 16. September 2007. Sonntag 11.30 Uhr, bei blauem Himmel sind wir zurück in der "Friedensstadt" Osnabrück. Vor dem Theater am Domhof springt eine gelbschwarze Festivalinstallation ins Auge: eine Menschpuppe in einem Gestänge, umschwirrt von Auto, Kaffeemaschine, Faxgerät und anderem zeitgenössischen Hausrat. So sieht er wohl aus, der rasende Malstrom der Jetztzeit. Wohl dem, der Muße hat! 

Im Theater selbst hat gerade der Festival-Brunch begonnen. Städtisches Publikum ist kaum gekommen, eher die Mitarbeiter des Hauses. Trotzdem werden die Autoren noch einmal auf einem Podium vorgestellt und die Leitfrage des Festivals wieder aufgenommen, weshalb denn nun so wenige Anschlussinszenierungen auf die Uraufführung eines neuen Stückes folgen. Die Preise und Stipendienmöglichkeiten seien für Anfänger gut, tastet sich die Autorin Ulrike Syha vor. Gleiches gelte für durchgesetzte Autoren. Dazwischen aber, wenn man zwischen 30 und 45 Jahre alt ist, fehlen die Förderinstrumente. Der Ruf nach genau solchen öffentlichen Mitteln folgt auf dem Fuße.

Der Ort des Neuen
Dann pointiert Werner Fritsch: Beim nächsten Mal möge man doch ein Festival veranstalten unter dem Titel "AutoRennfahrer". Rennfahrer kriegen schließlich Millionen, obwohl sie nur im Kreis fahren und da mit wenigen Gleichen konkurrieren. "Wir Autoren hingegen stehen in der Konkurrenz der Besten von 4000 Jahren." Das erntet Lacher und Szenenapplaus, ist aber natürlich falsch. Spätestens seit der Weimarer Klassik kennt die deutsche Literatur das Epigonenproblem (die Meister waren immer schon vor uns da!) und fügt dem Kanon trotzdem kontinuierlich neue Autoren hinzu. Das ist heute nicht anders. Pollesch, Heckmanns, Schimmelpfennig oder, etwas näher am Geschmack des Stadttheaters, Yasmina Reza – mit diesen und anderen Repertoiregrößen stehen die Autoren tatsächlich in Konkurrenz.

Was hieran anschließt, und was in Osnabrück bemerkenswerter Weise nicht zur Sprache kam, ist die Qualitätsfrage. Die schien geklärt, insofern die Autoren durch die Bank mit Preisen im Rücken anreisten. Dabei zeichnen Ehrungen wie Stückemarktgewinner beim Theatertreffen oder Nachwuchsautor des Jahres bei Theater heute doch eher ein Talent aus, denn ein fertiges Werk. Sie stellen einen Pool an Künstlern her, deren weitere Tätigkeit zu verfolgen ist.

Der Schritt ins Repertoire (vom Kanon gar nicht zu sprechen!) aber verlangt mehr. Hierfür braucht es jenes Zusammenspiel aus Traditionsbewusstsein und Sensibilität für das Profane und Zeitgenössische, das Boris Groys als den eigentlichen Ort des Neuen beschrieben hat. Das Neue im strengen Sinne ist ja eben nicht das je gerade Erschienene, sondern das Distinkte gegenüber dem Bekannten und Hochbewerteten. Nach dieser spezifischen Qualität sucht der Diskurs stufenweise und über verschiedene Instrumente (Dramaturgien, feuilletonistische oder theaterwissenschaftliche Essays, Dissertationen etc.). Jungautorenpreise sind da nur das erste Zucken des Diskurses.

Erfolgreich enthaltsam
Die Diskussion ästhetischer Verfahren durch Autoren und Macher hätte vor diesem Hintergrund durchaus eine stärkere Selbstbehauptung, ja eine Diskursstrategie bedeuten können. In Osnabrück fehlte sie jedoch nicht von ungefähr. "Ich lehne jede Art von Konzeptionsgequatsche ab", sagt Holger Schultze mit verschmitztem Lächeln. Tatsächlich garantiert ihm wohl dieses Maß an Enthaltsamkeit das Gelingen des stadttheatertypischen Spagats zwischen lokalem Publikumsanspruch (Verständlichkeit, Lebensnähe) und Feuilletoninteressen (Debattentauglichkeit). Der Erfolg von "Spieltriebe 2" lässt sich schon jetzt absehen. Die Aufführungen waren gut besucht, und rund ums Haus lagen zig Kopien des soeben erschienenen, mit Lorbeer nicht geizenden Hausporträts in der Süddeutschen Zeitung (siehe hier) aus.

ben erschienenen mit Lorbeer nicht geizenden taufführungen von neuen Stücken folgen. 

Nehmen wir das Tableau in den Blick, so ließ sich auf allen Routen, so auch heute, eine Präferenz für privatime, leicht ins Psychopathologische reichende Motive feststellen. Wobei sowohl "Gewerbe" von Ulrike Syha als auch die deutschsprachige Erstaufführung "Das erste Mal" des polnischen Autoren Michał Walczak mit Metatheater-Raffinement auftreten.

Midlife-Crisis in der Kleingartenkolonie
"Gewerbe", inszeniert von Nina Gühlstorff in der Kleingartenkolonie Scholle e.V., wirkt wie eine Selbstdiagnose der Theaterkantinengemeinschaft. Die Ehe des Regisseurs Arthur mit der Schauspielerin Olga liegt darnieder. Gefrustet hocken sie in "Ex-Jugoslawien", in einer "Katalogwelt", in der jeder Urlauber aussieht wie ein Doppelgänger von Leuten daheim. Eine Rückblende reicht uns den Grund des Zerwürfnisses nach. Arthur steckt in einer Art Midlife-Crisis, kündigt seinen Job und flüchtet sich in die Schrebergarteneinsamkeit nach Sachsen-Anhalt.

Dass er dort die Nachbarin vernascht, ist weniger von Belang, schließlich wird auch Olga vom Schauspielerkollegen Kurt verführt. Die Gefahr rührt eher von innen, treibt es die beiden doch zunehmend in die Paranoia, so dass sie glauben, in jedem neuen Fremden einen Bekannten, einen Schauspieler zu entdecken. Das Problem lautet dann: "Dich stört doch nur, dass du nicht derjenige bist, der das Ganze inszeniert."

Zwischen Doppelbesetzungen und Doppelgängern, zwischen Theaterroutine und Fantastik siedelt sich der Plot also geheimnisumwittert an. Der Verlust des Ich, gespiegelt im Verlust des identischen und authentischen Mitmenschen, bildet die Klammer. Eigentlich viel Raum für eine Inszenierung, die dem Echten im Theatralen nachgehen will. Doch im Clubhaus bei den Kleingärtnern und unterstützt von der geballten, grellen Kraft der Requisite stellt jeder der Akteure nur seinen Popanz eines Schauspielers vor.

Ein Leben lang das erste Mal 
Das Zweipersonenstück "Das erste Mal" ist ein Gastspiel aus Heidelberg und wird in einem alten Busdepot gezeigt. Man stelle sich vor, das zarte Spiel von Abwehr und Verlockung, das jede Szene in Schnitzlers "Reigen" prägt, werde auf ein Kleinstmaß komprimiert. Statt langsamer Pendelbewegungen ein Pingpong zwischen den Liebesbereiten. Dann landet man haargenau in den ersten gut 20 Minuten dieses Stückes. Ja, nein, komm, geh, bleib, nicht, doch – so geht es hier im Sekundentakt. Von weitem klingt Ionesco an. Doch klärt sich alles.

Magda möchte ihr "erstes Mal" ganz perfekt erleben und hat sich und ihrem etwas unsicheren Lover Karol deshalb einen Idealablauf zurecht gelegt, mit Regennacht und Rosen und aus dem CD-Player Neneh Cherry ("Woman"). Deshalb das permanente Hin und Her zwischen erlebter Liebesrolle und Liebesregie. Den armen Karol reibt dieses Spiel allerdings zusehends auf. Anscheinend sogar ein bisschen zu sehr. Denn später vergewaltigt er im Wahn eine neue Mieterin im selben Appartement. Es könnte auch Magda gewesen sein. Oder nur ein Traum. Die Deutungsunsicherheiten sind gewollt.

Barbara Wurster und Frank Wiegard bringen sich, unter der Regie von Orazio Zambelletti, souverän und gut gelaunt durch gefühlte 150 Mal "Entschuldigung" und Überqueren der Türschwelle: Wiegands Karol als echt prekärer Macker mit stets mindestens 38 Stunden Schlafentzug. Wursters Magda, vollweiblich, mit blonder Perücke und Negligé. Ein Hauch von Reifeprüfung umweht sie.

Nach gut einer Stunde und über 20 Jahren erzählter Zeit sind die Perücken runter. Man blickt geschlagen auf das nie geglückte erste Mal und auf den latenten Irrsinn (Karols und überhaupt). Und zum Abschied gibt es noch ein schönes Motto, für das Theater und das Leben: "Auf das erste Mal muss man gar nicht so achten. Viel wichtiger sind doch die nächsten Male."

Gewerbe
von Ulrike Syha
Regie: Nina Gühlstorff, Ausstattung: Marouscha Levy.
Mit: Christina Dom, Oliver Meskendahl, Paul Weismann, Sophie Lutz, Clemens Dönicke, Friedrich Witte.

Das erste Mal
von Michał Walczak (aus dem Polnischen von Doreen Daume)
Gastspiel des Theaters Heidelberg
Regie: Orazio Zambelletti, Ausstattung und Video: Rahel Seitz.
Mit: Barbara Wurster, Frank Wiegard.

www.spieltriebe-osnabrueck.de

Kritikenrundschau

In der Neuen Osnabrücker Zeitung (17.9.2007) resümiert Christine Adam auf knappem Raum das Theaterfestival. Ohne sonderlich ins Detail zu gehen, schreibt sie von "energiegeladenen, selbstbewussten und stimmigen Schauspielerleistungen" in "intelligenten wie pfiffigen Inszenierungen". Auch wenn sich der "tiefere Sinnzusammenhang" des öfteren nur "erahnen ließ". Aber – die Stimmung war prächtig, die Meinungsmacher (s.u.) angereist, und dass man auf den fünf Routen geführt und gefahren wurde, gab ein "wohliges Gefühl".

Zwei Tage später werden das Theater Osnabrück und sein Intendant Holger Schultze in der taz (19.9.2007) begeistert gefeiert. Der Bemühung um zeitgenössische Dramatik und ein junges Publikum zollt Thorsten Stegemann  detailreichen Beifall. Nach einer punktuellen Auseinandersetzung mit dem Gezeigten und vor einigen rhetorischen Einschränkungen, resümiert er: "Der Versuch, mit ungewöhnlichen Programmen neue Publikumsschichten anzusprechen, scheint zu funktionieren, gelingt allerdings auch nicht im luftleeren Raum: Die Osnabrücker Bühne hält seit einiger Zeit engen Kontakt zu den örtlichen Schulen, um allen Kindern und Jugendlichen mindestens einmal im Jahr einen Theaterbesuch zu ermöglichen."

Für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung (15.9.2007) hat Vasco Boenisch Holger Schultze vorab einen Hausbesuch abgestattet. "In den zwei Jahren seiner Intendanz hat er das Theater kräftig durcheinander gewirbelt und ihm so zu beachtlichem Aufstieg verholfen. Der gipfelte zuletzt im Mai in einer Einladung zu den Mülheimer Theatertagen." Das Geheimnis des Erfolgs? "Neugierde, Spielfreude, Zuschauerliebe", schreibt Boenisch und resümiert beim Intendanten eine Mischung aus "Enthusiasmus und Pragmatismus": "Weil Geld für Plakatkampagnen fehlte, stellten viele Läden ihre Schaufenster zur Verfügung; ein Bauunternehmer spendierte für eine Inszenierung sogar den Sand für ein komplettes Spargelfeld." 

Kommentare  
zu Spieltriebe
Von Osnabrück könnten sich andere Stadttheater mal was abschneiden: Theater als Event statt piefiger BildungsGang in die Langeweile. Ich finde allerdings, dass die Qualitätsfrage in dem Artikel zurecht gestellt wird. Ich denke nämlich schon, dass uns die Stücke (Nadelbaumkíller und Gewerbe) was zu sagen haben. Als Vertreterin der verzweifelten Generation "Ich verwirkliche mich in meinem Beruf Geld ist mir nicht so wichtig aber hola! irgendwie doch" erzählen mir die Stücke durchaus etwas über mein Dilemma, niemanden für meine Situation anbrüllen zu können, weil man sich die brotlose Kunst ja selbst ausgesucht hat, von der man lebt (wie Rudolf in Nadelbaumkiller). Und gleichzeitig nicht vom Weg ablassen zu können, um zum Beispiel Kassenfräulein zu werden (zum Beispiel in Sachsen-Anhalt, wie in Gewerbe). Also genau genommen ist man gar nicht verzweifelt (wie der Regisseur in Gewerbe auch keine Wut spürt), sondern einfach nur selbst schuld. Aber möchte man die Stücke ein zweites Mal sehen? Ich weiß es nicht...sie müssten wahrscheinlich ein kleines bisschen besser gemacht sein, sie kommen gar so witzig-hip und pointiert daher, dass man es schon nicht mehr hören kann. Und: Sie müssten weniger überdreht, weniger klamaukartig gespielt sein – der stärkste Moment des Abends war für mich zum Beispiel der, als die Nebenfigur der Assistentin in Gewerbe alleine auf der Bühne steht und ihren Werdegang (Kongresshostess, Bäckerin, Kellnerin) herunterbetet und für sich den Gedanken retten will, von ihrer Selbstverwirklichung zu sprechen. Da schnürte sich was in mir zusammen. Leider kippte das sofort wieder ab in den Klamauk – schade.
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