Nur die Seegurke ist unsterblich

von Georg Kasch

Berlin, 17. Mai 2010. Die Hölle, das sind immer wir selbst - und der Fernseher. Schwarz, elegant und ausladend steht er in der Kassenhalle des Hauses der Berliner Festspiele, überträgt irgendwann die Bilder vom Nebenschauplatz Toilette in "Ewig gärt". Und nimmt am Ende die zappelnden Seelen der zersplatterten Kleinfamilie in sich auf. Eine Geschlossene Gesellschaft - mit Big-Brother-Standleitung zu den Prime-Time-Bildschirmen.

Nichts jenseits der Skandalisierung des Skandalons

Es ist ein unendlicher, infernalischer Spaß, den Ekat Cordes in seinem Stück "Ewig gärt" beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens als Garten der unbefriedigten Lüste zeigt. Cordes, Jahrgang 1982, arbeitet als Regieassistent in Oldenburg. Er sollte wissen, was er tut, wenn er gängige Klischees so dick schichtet, dass nur noch der splatternde Befreiungsschlag hilft. Da begrabbelt der fernsehsüchtige Vater Tochter, Sohn und Hund, zieht sich die Mutter, die vor alledem die Augen verschließt, vor jedem männlichen Besucher aus. Da begafft der Lehrer, der einzige, der sich für die Kinder zu interessieren scheint, die Jungs unter der Dusche, magert sich das Mädchen zu Tode, da jaulen Kettensägen, fließen "Scheiße, Schweiß und Blut". Ein Rummelplatz der menschlichen Triebe und Unzulänglichkeiten, moderiert von einem, der seine Schäfchen nach und nach einsammelt: der Tod als TV-Moderator.

Das kann man nur so grell inszenieren, wie es geschrieben steht. Denn hinter der Wahnsinns-Fassade herrscht das blanke Nichts. In Cordes' thematisch zwar eng verzahnter, sonst aber überbordender Revue-Groteske trägt weder die Sprache, die immer auf der Umbruchskante der Doppeldeutigkeiten balanciert, aber lange nicht an den doppelbödigen Furor Jelinek'schen Wortwitzes heranreicht. Noch irgendeine Ebene jenseits von Medien-Schelte und Skandalisierung des Skandalons.

In Jan-Philipp Gloger hat Cordes' ins endlose gedehnter Wahnwitz den falschen Anwalt gefunden. Denn Gloger sucht, für Momente zumindest, Charaktere hinter der Schablone. Einerseits will er dem Publikum nicht wehtun, andererseits seinem Personal Gerechtigkeit widerfahren lassen. Da erscheinen Steffi Kühnerts trutschige Hausfrau mit "Zieh dich aus"-Autorität, Olivia Gräsers großäugige Magertochter und Paul Schröders suizidaler Außenseiter-Sohn plötzlich wie in Großaufnahme. Aber mit Rührung ist hier nichts gewonnen, lässt sich nichts begreifen.

Insider-Herrlichkeit mit 50 Töchtern des Meergottes

Ganz anders Wolfram Lotz' "Der große Marsch". Ein Insider-Scherz, aber einer, der funktioniert. Wie Peca Stefan in "Drahtseilakrobaten" beginnt das Stück (nach einem aberwitzigen Prolog, in dem eine Göre das Prinzip Theater erklärt) selbstreferenziell: Die Hauptfigur, eine dumpfbackige, politisierende Schauspielerin, befragt eine Figur namens Wolfram Lotz. Der will eigentlich was über die RAF schreiben, lässt es aber bleiben, weil die Szenen des vom Theater georderten Stücks kurz sein sollen, "da kann man ein so komplexes Thema nicht so einfach entwickeln".

Schon tritt er ab. Dafür folgt ein Reigen aus Josef Ackermann (der echte, wie die Regieanweisung anmerkt, drunter macht's Lotz natürlich nicht), Hamlet, Arbeitgeberpräsident Hundt (auch der echte, natürlich), Patrick S., der wegen Inzests und gemeinsamen Kindern mit seiner Schwester zu Haftstrafen verurteilt wurde, die Mutter des Autors, der Attentäter Lewis Paine, der Anarchist Bakunin und Prometheus.

Ihnen allen fühlt die ach so engagierte Schauspielerin als Moderatorin politisch auf den Zahn, fordert Position, entlarvt sich dabei zwischen "Ich sage nur, wie's ist!" und "Schreien Sie nicht! Wir sind hier nicht in der Unterschicht, sondern im Theater!" selbst. Jule Böwe röhrt, quietscht und krächzt das so hinreißend und verbeißt sich so wunderbar in ihren Brüll-Monolog, dass Lotz, Jahrgang 1981, sie mit Blumen überschütten sollte.

Nicht minder komisch, wenn die älteren Herren (Hermann Beyer, Michael Schweighäfer, Dieter Montag) "Wir heben es im Chor hervor!" einwerfen und auch sonst an ihren Sätzen Loriot'scher Prägnanz und Lakonie ihren Spaß zu haben scheinen.

Dazu kommen laut Regieanweisungen noch vier unmögliche Rolltreppen im Escher-Modus, eine riesige schwarze Schlange, die fünfzig Töchter des Meeresgottes Nereus und der Doris - nur so zum Beispiel.

Lars-Ole Walburg begreift die maßlosen Hinweise mit all ihren literarischen Verweisen zu recht als Teil des Texts (der wiederum seinerseits an die maßlosen Dramen der Literaturgeschichte anknüpft zwischen Tiecks „Gestiefeltem Kater" und Lasker-Schülers „IchundIch"), setzt seine fünf Schauspieler im Kubus nebeneinander und jagt sie durch die Pointen, dass es nur so funkelt.

Hinter der glänzenden, dennoch brüchigen Oberfläche, hinter so herrlichen Sätzen wie "Die Seegurke ist unsterblich! ...Wir müssen nur die Seegurke fragen!" gähnt ein Abgrund: das verzweifelte Erschrecken über die Endlichkeit des Lebens. Bei seinem zweiten Auftritt sagt Lotz, der sich währenddessen die Taschen mit Buletten vom Buffet füllt: "Vielleicht werden Sie es komisch finden / Aber bei allem Klamauk / Den man macht, gibt es etwas / Das zu tun hat mit Schmerz / Und Traurigkeit. / Und man macht sich lächerlich / wenn man es sagt ... ." Also lässt er sprechen, in Andeutungen zumindest, von Bakunin und anderen: von der herzzerreißenden Sehnsucht, einfach da zu sein. Und das ist hier keine Behauptung, sondern der stetig schlagende Puls von "Der große Marsch".

 

Stückemarkt III
Ewig gärt
von Ekat Cordes
Szenische Einrichtung: Jan Philipp Gloger, Dramaturgie: Andrea Vilter, Musik: Matthias Mohr, Ausstattung: Manuela Pirozzi.
Mit: Steffie Kühnert, Olivia Gräser, Gisa Flake, Manfred Böll, Paul Schröder, Max Simonischek.

Stückemarkt IV
Der große Marsch
von Wolfram Lotz
Szenische Einrichtung: Lars-Ole Walburg, Dramaturgie: Marion Hirte, Ausstattung: Manuela Pirozzi.
Mit: Jule Böwe, Sebastian Weber, Hermann Beyer, Michael Schweighöfer, Dieter Montag.

www.berlinerfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Selten konnte man so viel formale Übereinstimmung feststellen, wie in diesem Jahr", resümiert Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (11.5.2010) und meint das keineswegs als Kritik. "Denn trotz der Gemeinsamkeit führen all diese Jahrmarktsdrehscheiben eine sehr eigene, durchkomponierte Sprache." Wie man überhaupt diesen Jahrgang erfreulich finden und den Texten in ihrer sprachlichen Ausarbeitung und inhaltlichen Vertiefung einen qualitativen Anstieg bescheinigen dürfe. Die selbstreflexive Anstrengung der Texte zeige, "warum es ohne festen Boden unter den Füßen gerade mit den Haltungen so schwierig bleibt. Stattdessen führen die Autoren, die sich gern auch selbst mal als Figuren mit ins Spiel knüpfen, dramaturgische Häutungen und verschachtelte Spiele im Spiel vor."

"Die junge Autorengeneration weiß offenbar genau, welche Wege zu den Fleischtöpfen führen und welche Stoffe, Formen und Gepflogenheiten dabei hilfreich sind", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.5.2010). In der Eröffnungsrede habe Nino Haratschiwili resümiert, dass gerade Literaten aus dem Osten oft das Recht der künstlerischen Freiheit‘ abgesprochen werde, "indem sie auf Themen wie Krieg, Korruption, Gewalt und tragische Familiengeschichten festgelegt werden." Wie zur Bestätigung dieser Erfahrungen erscheint für Irene Bazinger das im Original verkaufsfördernd auf Englisch geschriebene Stück "Drahtseilakrobaten" des 1982 in Rumänien geborenen Peca Stefan. "Es jongliert auf zynische wie treffende Weise mit Klischees über den wilden Osten und reflektiert dadurch die Anforderungen westlicher Interessenten."
Dagegen habe Wolfram Lotz mit dem "Großen Marsch" eine "intellektuell-emotionale Tabula rasa" geschrieben, die so einige Selbstironie verrät, "denn über derlei übliche Theaterbetriebsnudeln amüsiert sich Lotz aufs schönste und gekonnt gemein". Mit sensiblem Ohr für aktuelle Konversationsmoden lässt Julian van Daal (Jahrgang 1985) in "Alles ausschalten" fünf Jugendliche beredt zum Schweigen kommen. In "Ewig gärt" von Ekat Cordes sei ebenfalls die kaputte Familie die Wurzel allen Übels. Zu Sprachspielen à la Jelinek spritze in einem bizarren Kettensägenmassaker Ketchup, Bier und Körperflüssigkeiten. Und in "Ernte" gehe es, formal anspruchsvoll, um die Verschränkungen von Arbeits- und Privatleben einer polnischen Familie, die sich in Deutschland durchschlägt. Fazit: "Insgesamt kein unerfreulicher Jahrgang von der Substanz her, vielleicht wird ein guter Bühnenwein daraus, wenn er unter - bitte liebevollen - Regiehänden reifen darf."

Ganz anders Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (21.5.2010): Es sei bezeichnend für die fehlende Welthaltigkeit, dass gleich zwei der Texte vom Theater handeln. "Andere Wirklichkeitsausschnitte als den Kulturbetrieb scheinen die Jungdramatiker kaum von innen zu kennen." Vielleicht kämen deshalb ihre Schreibversuche, wenn es um polnische Arbeitsmigranten oder frustrierte Jugendliche mit Hartz IV-Biografien geht, "kaum über mühsam zusammenmontierte oder gefühlig aufgeblasene Klischees hinaus". Wolfram Lotz nehme in "Der große Marsch" gleich den gesamten Theaterbetrieb samt seinen Sozialkitsch-Moden und kapitalismuskritischen Posen rasant und komisch auseinander. Weit naiver und gefühliger erzählen Claudia Grehn vom Leben polnischer Gastarbeiter ("Ernte") und Julian van Daal von einer desillusionierten Jugend ("Alles ausschalten"): Befindlichkeitsdramatik. Wer mit den Autoren redet, begegnet wachen, erfreulich uneitlen Künstlern, die es mit dem Theater ernst meinen. "Das Problem ist, dass der routinierte Festivalbetrieb, immer auf der Suche nach Frischfleisch, sie auf ein Podest der Bedeutsamkeit hebt, dem ihre Texte kaum gewachsen sind.