Auch was zuletzt stirbt, stirbt

von Andreas Schnell

Bremen, 22. Mai 2010. Ein Mann liegt in der Ecke. Umgeben von Flaschen, unter ihm ein paar Lumpen, zu seinen Füßen ein paar Plastiktüten. So wie sie in zunehmendem Maße die Städte bevölkern. Nicht nur in Afrika oder Lateinamerika. Im Alltag mag man ihnen ein paar Cent geben, was vor individuellem Elend und Verwahrlosung war, will man lieber doch nicht so genau wissen. Im Bremer Brauhauskeller kam man gestern Abend bei der Premiere von Nis-Momme Stockmanns "Das blaue blaue Meer" um Details nicht herum.

Als wir Darko kennen lernen, ist die Sache schon gelaufen. Als die Geschichte erzählt ist, wissen wir gleichwohl längst nicht alles. Wer zum Beispiel schuld woran ist und welchen Grund das alles hat. Wobei nicht einmal so genau bekannt gemacht wird, was "das alles" eigentlich ist. Wir müssen aus dem Fragmentarischen, das die Erinnerungen eines bekennenden Alkoholikers haben, uns die erschütternden, beklemmenden und, ja, auch trivialen Details zusammenreimen, die ansonsten im Fernsehen Stoff für rührende Filmsujets sind – aus denen ein Ausbruch dann zwingend zu erfolgen hat.

Das Gewöhnliche wahrnehmbar machen
Stockmann gönnt uns diese letzte Ausfahrt nicht. Die Hoffnung stirbt auch hier zuletzt. Aber sie stirbt. "Ich glaube, Sterne gibt es nur im Märchen", sagt Motte, die Wohnsiedlungsprostituierte am Ende. Nachdem sie nicht nur nicht mit Darko in den Zoo kam, sondern auch das nicht wesentlich unbescheidenere Sehnsuchtsprojekt Norwegenreise sowie das kleine Glück zu zwein auf die Plätze verwiesen worden sind. Dass dabei die Frage nach dem Grund für das Elend mit der nach der Schuld daran in einen Topf geworfen wird, wir aber weder Erklärung noch Urteil erhalten, kann man durchaus als Schwäche des Stücks bezeichnen.

Stockmann, so zitiert das Programmheft, will das "Gewöhnlichste wahrnehmbar machen, so dass es wieder kritisierbar wird". Das Gewöhnlichste hier: Missbrauch, Mord, Krankheit, Ausweglosigkeit, Saufen bis zum Umfallen. Und Nazis, die Darko und Motte verspotten, gibt es zu allem Überfluss auch noch in der Siedlung. Als habe Stockmann bloß keine der Schrunden einer Elendsexistenz vergessen wollen, um die Misere zu beschreiben. Kritisierbar ist die natürlich schon.

"Das blaue blaue Meer" leistet diese Arbeit allerdings nicht. Die Siedlung sei ein "Lager, eine Maschine", von Politikern geplant, auf dass sie sich weiter nicht mit dem Elend abgeben müssten. "So angelegt, dass wir hier verlorengehen sollen." Doch woher das Elend kommt? Wer das nicht weiß, erfährt es auch hier nicht.

Kunst der Schauspieler
Dem jungen Regisseur Sebastian Martin ist mit seiner ersten Bremer Regiearbeit dennoch eine recht intensive Arbeit gelungen. Wo die Uraufführung mit Tocotronic-Songs, Leuchtschlangen und Videos arbeitete, vertraut Martin auf die Kunst der Schauspieler. Eine gute Entscheidung. Der gelegentlich etwas zu gutmütige wirkende Sven Fricke erfüllt die Figur des jungen Darko einfühlsam mit Leben, Varia Linnéa Sjöström spielt Motte höchst nuanciert und entwickelt deren Fragilität in der Schlusssequenz zu enormer Intensität.

Souverän auch Siegfried W. Maschek, der als alter Darko und gelegentlich auch weiteren Rollen verschiedene Zeitebenen ineinander verschränkt, deren Setting durch nichts von den Figuren ablenkt: Ein Sessel, Schnapsflaschen, und hinten, am Ende des Schlauchs des Brauhauskeller, eine Leinwand, auf der wir Kapitelüberschriften und immer wieder einen Blick auf die Siedlung bekommen, über der keine Sterne leuchten.

Und ja, stimmt schon, ein bisschen kitschig ist das durchaus auch.


Das blaue blaue Meer
von Nis-Momme Stockmann
Regie: Sebastian Martin, Bühne: Katja Fritzsche, Nele Dörschner, Kostüme: Katja Fritzsche, Dramaturgie: Diana Insel.
Mit: Siegfried W. Maschek, Sven Fricke, Varia Linnéa Sjöström.

www.theaterbremen.de


Mehr lesen? Nis-Momme Stockmanns Stück Kein Schiff wird kommen ist für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert. Stockmann hatte im Vorfeld der Mülheimer Theatertage mit seiner Kritik an einer Gesellschaft auf dem Bewertungsmacht-Highway auf nachtkritik-stuecke2010 für Debattenstoff gesorgt. Wie er das Theater verändern will, darüber spricht Stockmann in der Videorubrik der nachtkritik-stücke-Seite, den ruhrpods.

 

Kommentare  
Das blaue Meer in Bremen: aus dem Poesiealbum der Vorurteile
was für ein schlechtes stück. warum soll man in einer siedlung keine sterne sehen ? warum soll man nicht ans meer fahren können ? schon mal die rostocker siedlungen gesehen ? die sache ist doch, man kann überall hinfahren, man hat die ganze welt im tv, man kann billig überallhin, aber man bekommt die siedlung nicht aus dem herzen, aus dem kopf. der autor bräuchte dringend ein ticket in die realität. so stellt sich das biederbürgerliche theater also die armut vor ? was für ein kitsch, was für falsche töne, monologe und dialoge, tv sterotypen, wandelnde kischees. kein einzig wahrer satz, keine realität, aber auch keine poesie. das ist alles zutiefst abgeschmackt,aus dem poesiealbum der vorurteile. grauenhaft.
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