Presseschau vom 26. Mai 2010 – Thomas Ostermeier antwortet auf Botho Straußens Kritik am gegenwärtigen Theater

Sie wollen Gift verspritzen

Sie wollen Gift verspritzen

In der Süddeutschen Zeitung (26.5.2010) antwortet der Intendant der Berliner Schaubühne Thomas Ostermeier, Jahrgang 1968, auf Botho Strauß', Jahrgang 1944, Laudatio auf Jutta Lampe zum Joana-Maria-Govin-Preis, in der der frühere Dramaturg eben dieser Schaubühne das gegenwärtige Theater als "Reservat für unantastbare Dummheit und Bildungsferne"  geschmäht hatte. Ostermeier fragt woher denn diese Feindschaft käme?

Ostermeier fragt weiter, ob Strauß überhaupt oft genug Theater besucht habe in den letzten zehn Jahren, um pauschal über "das Theater" urteilen zu können. Und wenn die Schaubühne unter Peter Stein "selbstverständlich Hochperiode" war, wieso habe sie dann keine "maßgeblichen Regisseure hervorgebracht"? "Wo sind die ehemaligen Assistenten von Peter Stein, Luc Bondy, Peter Zadek, die die Theaterlandschaft geprägt haben?" Die Generation von Botho Strauß habe ihre Söhne "weggebissen" und jetzt versuche sie, auch noch in der Generation der Enkel "Gift zu verspritzen".

Ostermeier wehrt sich vehement gegen den Vorwurf der Geschichtslosigkeit. Er nimmt für sich in Anspruch, dass ihm "immer an einem Dialog mit der Generation von Strauß gelegen war", und dass er in seinen Jahren an der Baracke des Deutschen Theaters mit dem ehemaligen Schaubühnen-Dramaturgen Dieter Sturm genauso zusammengearbeitet habe wie später mit Jutta Lampe und Angela Winkler. Nur sein Ansuchen, mit Peter Stein ein Gespräch zu führen, sei von diesem mehrfach und ohne Angabe von Gründen abgelehnt worden.

Besonders trifft Ostermeier der Vorwurf, es gäbe "keine 'vernarrten Regisseure mehr', die ihre Schauspieler entwickeln und betreuen". Seine Arbeitsbeziehung zu Lars Eidinger, sei so eine Vernarrtheit. Genau wie die von Nicols Stemann in Philipp Hochmair, die von Jan Bosse in Joachim Meyerhoff und Edgar Selge.

Alles in allem sei die heutige Theaterlandschaft "wesentlich pluralistischer als die des alten West-Berlins vor dem Mauerfall", in der es für die Schaubühne "keine ernstzunehmende Konkurrenz in der Stadt gab". Naturgemäß konnte es einem im Kalten Krieg, in dem die CDU gegen eine Aufführung von Brechts "Mutter" im Abgeordnetenhaus agitierte, vorkommen, als sei man mit dem Theater "gesellschaftlich wirksam".

Heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, seien die "ästhetischen und gesellschaftskritischen Positionen in unserer Theaterlandschaft" höchst "unterschiedlich und ausdifferenziert". Diese "reiche und kraftvolle Theaterlandschaft" müsse sich nicht vorwerfen lassen, dass sie nur 'überzeichne', 'der Ton sich zur Eindeutigkeit verhärte' und 'kalt und exzentrisch' sei.


Kommentare  
Ostermeier in der SZ: Mangel an Selbstreflexion
vielleicht ist ja das eigentliche problem der `reichen und kraftvollen`theaterlandschaft,dss sie meint sich überhaupt gar nichts mehr vorwerfen lassen zu müssen,kurz dass sie meint einfach alles richtig zu machen.klar das ein derartiger mangel an selbstreflexion irgendwann in totaler langeweile endet.ich habe bis jetzt von keinem einzigen namhaften theatermann gehört das es irgendeine kleinigkeit an strauss kritik gibt die er als zutreffend empfände.stattdessn bei ostermeier wie schon bei khuon eine fast schon kindlich gekränkte eitelkeit.ich würde von leuten die ja eigentlich an den hebeln der macht sitzen etwas mehr souveränität erwarten.
Ostermeier in der SZ: er gehört zu den Reflektiertesten
liebes pffft! strauss und seine altersgenossen gehören zu den unreflektiertesten theatermachern, die dieses land jemals hervorgebracht hat. das schlägt einem aus jeder ihrer äußerungen heute noch entgegen. die 68er waren ja nicht im theater. da waren die papageien, die nachplapperten und bis heute weiterplappern, was von der straße hereinwehte. mimikry ans revolutionäre. die papageien haben und wollten ihren vätern gefallen. ostermeiers generation nun geht die väter wirklich am a.... vorbei.
Ostermeier in der SZ: ohne Scheuklappen lesen
@pffft

Es würde sich anbieten, generell mal solche Beiträge ohne Scheuklappen zu lesen. Dann würde vielleicht auch Ihnen auffallen, dass der Beitrag von Ostermeier zu den reflektiertesten und sachlichsten dieser streckenweise hysterischen Diskussion über die angebliche Krise an deutschen Theatern gehört und, welch Skandal, ganz ohne Polemik auskommt, sondern sich- Blasphemie! - an Fakten orientiert. Das geht nun wirklich nicht.

http://stage-and-screen.blogspot.com/
Ostermeier kritisiert Strauß: Heute verweigern sich die Söhne
@ pffft: Verkehrt das nicht die Tatsachen? Wer strotzt denn jetzt vor gekränkter Eitelkeit? Auch in meiner Wahrnehmung sind es heute auf paradoxe Weise wieder die ehemals rebellischen Söhne, welche, nun selbst in der Vätergeneration angekommen, sich dem offenen Dialog verweigern und gegen Selbstkritik immun sind. Schade. Aber es müssen ja nicht immer nur Peter Stein, Botho Strauß, Dieter Sturm und Gerhard Stadelmaier sein. Es gibt auch andere.
Zum Thema "Fähigkeit zur Selbstreflexion" hat Nicolas Stemann in einem Interview (zusammen mit Thomas Ostermeier, Frank-Patrick Steckel und Hans Neuenfels) im "Theater Heute"-Jahrbuch 2008 folgendes gesagt. Zitat:
"'Die Brüder Karamasow' und 'Die Räuber', die ich jetzt inszeniere, sind beide große Vatermordtragödien [...], die um die berechtigte Frage kreisen, dass das Alte weg und überwunden werden muss. Am Ende steht man in den Trümmern und kommt mit dem Mord nicht klar, den man begangen hat. Das ist eine ganz gute Beschreibung der Paradoxie, die der Aufklärung zugrunde liegt: Kann man, wenn man die Vergangenheit zu Recht kappt, eine Zukunft setzen? [...] An dem Punkt läuft es dann leicht aus dem Ruder. Ich halte das aber für ein Problem der Moderne, nicht nur von 68. Da sind wir mit dem Theater, einem Medium, das sich so stark mit Traditionen beschäftigt, sich zwischen Vergangenheit und Gegenwart stellt und auf die Zukunft weist - damit sind wir mit dem Theater doch an einem Punkt, wo wir genau diese Thematik behandeln können und müssen."
Neben Stemanns eigenen Inszenierungen kann man meines Erachtens zum Beispiel auch Thomas Ostermeiers "Hamlet"-Inszenierung in diesem Kontext verorten.
Ostermeier in der SZ: Hang zur Affirmation
Ohne Zweifel hat Ostermeier Gift zurückgespritzt.
Aber leider liegt mir momentan nicht das gesamte Interview vor, sondern nur die Zusammenfassung, die vielleicht den Kulminationspunkt von Ostermeiers Reflexionen ausgespart hat. Was mich ein wenig an den Kritikern und den Theateroberen verblüfft, ist der Hang zur Affirmation, die dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass man auf eine kraftvolle Theaterlandschaft blicken zu können glaubt.
Auch Dr. Pilz, der sich heute noch mal in der „Berliner Zeitung“ zum Theatertreffen geäußert hat, ist der Ansicht, dass das heutige Theater eine breite Bandbreite hat und aus dem Vollen schöpfen kann. Schuld ist quasi nur derjenige, der sich nicht richtig bedient und aus Versehen im falschen Stück gelandet ist, das nicht den Anforderungen des eigenen kognitiven Systems entspricht. Angesichts der Debattierlust über die vermeintlichen Schwächen des gegenwärtigen Theaters würde Pilz am liebsten jede Diskussion abwürgen und auf die schillernde Buntheit der Bühnen verweisen. Jene Theaterfreunde, die das Theater anders haben wollen oder in Nostalgie schwelgen, sollen am besten schweigen, die Nerven der affirmativen Kräfte sind ohnehin überstrapaziert. Dann verweist Pilz noch auf die angeblich größte Stärke des Theaters: die Kunst, sich selbst zu erfinden. Das klingt ganz danach, als handele sich dabei um eine Eigendynamik, die für die prozessuale Selbsterneuerung auf menschliche Antriebsfaktoren verzichten kann. Das Ganze vollzieht sich ohne Steuerungsmechanismen, ohne Menschenhand. Wir brauchen bloß abzuwarten, beim Theater dominiert ein entelechisches Prinzip, das die Zukunft von allein entwickelt. Wehe dem, der ständig herumkrittelt!
Bei Ostermeier, der bislang durchaus Großes geleistet hat, gehört die Selbstkritik sicherlich nicht zu seinen Stärken. Er beschränkt sich lieber auf die leichter zu bewältigende Ebene der Selbstrechtfertigung. Dabei liefert Botho Strauß durchaus Ansätze zum Nachdenken. Leider sieht man heute an vielen Bühnen bloßes Virtuosentum, routinierte Artistik und leider auch – Überzeichnungen, wo gestische Aussparung angebrachter wäre. Bestes Beispiel ist „Öl“ im DT, wo Nina Hoss von Kimmig anscheinend sinnlos zu überzogener, boulevardesker Spielweise angetrieben wurde, was dem Stück die letzte Seele aushaucht.
Aber bleiben wir in Ostermeiers Haus. Mir ist in letzter Zeit eine qualitative Stagnation aufgefallen, was auch mit einigen personalen Veränderungen zu tun hat. Mit wem würde Ostermeier heute die weibliche Hauptrolle in „Nora“ besetzen? Mit der Meckbach? Oder der Draeger? Sie sind durchaus talentiert, ich sehe sie auch recht gern, aber leider passen sie nicht zu der Rolle. Anscheinend ging Ostermeiers Vernarrtheit in eine Person nicht so weit, dass er ihre Stärken konsequent ausgebildet hat.
Im Grunde liefert Ostermeier 3 Kategorien von Stücken ab: Die bürgerlichen Stücke, deren Dialoge zwischen libidinöser Sättigung, Selbstverwirklichung und Selbstfindungsattitüde oszillieren und auf Couchen ausgetragen werden; die Problemstücke mit Ich-Zersplitterung bis hin ins Pathologische und schließlich die humorvollen, leichten Stücken mit hohem Zerstreuungsgrad. Natürlich gibt es dabei auch Überschneidungen und Vermischungen. Fragwürdig ist nur, wenn ein Stück wie Brechts „Sezuan“ mit Elementen bestritten wird, die bei „Entgrenzung“ noch vorzüglich funktionierten, aber bei Brecht nur scheitern können (wegen der schlechten Kritiken habe ich mir das Stück noch gar nicht angesehen).
Früher habe ich mich in diesem Haus wohler gefühlt, nun habe ich den Eindruck, das kein neuer Schub kommt und Altbewährtes nur neu serviert wird. Vielleicht war es auch ein Fehler, mir „Hamlet“ und „Trust“ zweimal anzusehen. Ich kann Ostermeier nur wünschen, dass ihm mal wieder so etwas wie „Lulu“ gelingt. Und dass er ein paar Kritikpunkte von Strauß internalisiert, sofern sein Gemüt dafür zugänglich ist. Ostermeiers Erscheinung und seine öffentlichen Auftritte wirken ja manchmal so entwaffnend, dass ich aus unerfindlichen Gründen von einer Kritik Abstand nehme. Nun also doch - er wird's ohenhin nicht lesen.
Ostermeiers Kritik an Strauß: Verbrämte Menschenverachtung
"vernarrte regisseure"... wie sehr strauss und seine generation schauspieler hassten und hassen, zeigt sich an seiner laudatio. diese menschenverachtung wird ja auch von stadelmeier propagiert, und von ihm als großes schauspielertheater ausgegeben. das ja keines ist, wie botho strauss sehr klar macht. stadelmeier und strauss vertreten alleinig das regisseurstheater. sie sind im grunde die einzigen, die diesen mumpitz immer und immer wieder bestätigen. lassen wir uns nichts vormachen von denen. nach den debatten gerade, ist anzunehmen, daß sie es nicht einmal unbewußt betreiben, etwa weil sie es nicht besser wissen.
Ostermeiers Kritik an Strauß: von Castorf lernen
@ Flohbär
Sie haben in der Tat nichts Wesentliches verpasst, wenn Sie Ostermeiers Artikel in der SZ nicht gelesen haben. Die Zusammenfassung bringt es oben auf den Punkt, mehr Essentielles war da nicht. Es ist schon sehr kokett, wenn sich Ostermeier jetzt an die Spitze der sogenannten Stückezertrümmerer setzt. Er tut es wohl eher aus einem inneren Antrieb heraus, da er sich als jetziger Schaubühnenchef direkt angesprochen fühlt. Nur denke ich, ihn hat Strauß gar nicht vordergründig gemeint. Ostermeier ist nach seinen berühmt gewordenen Anfängen an der Baracke des DT, nun weit davon entfernt, in die Kategorie der Zerstörer oder Sezierer eingeordnet zu werden. Was er für sich sicher auch nicht in Anspruch nehmen will. All zu sehr vernarrt in seine Schauspieldamen scheint er tatsächlich nicht zu sein, er nennt hier nur Lars Eidinger. Da kann man schon verstehen, warum ihm die großen Frauen immer abhanden gehen. Zur Zeit ist Brigitte Hobmeier seine Muse.
Mit Ihnen nicht einer Meinung bin ich dagegen, was die Stellung der Schaubühne zur Zeit betrifft, da gibt es seit dieser Spielzeit schon gute Ansätze, wenn die auch nicht von Ostermeier selbst ausgehen. Trust haben Sie schon erwähnt, Patrick Wengenroth und Friederike Heller gehören aber auch für mich dazu.
Wie nun tatsächlich auf Botho Strauß reagieren? Na, da findet sich doch just gerade in Moskau eine altbekannte Schauspieltruppe unter Frank Castorf zusammen und zerschlägt in den Kostümen der alten Schaubühneninszenierung der Drei Schwestern von Peter Stein die letzten Träume der alten Recken. Das ist eine angemessene Reaktion und von denen kann Herr Ostermeier noch eine Menge lernen.
Ostermeiers Strauß-Kritik: alles zu Wischi-Waschi
Also, ich verwende nicht pauschal die Worte Ostermeiers gegen ihn selbst. Er spricht ja von einer pluralistischen Theaterlandschaft, da hat er auch recht, er deckt ja eben nur eine Facette von vielen ab. Ich meine nur der Artikel ist so lieb und nett formuliert, dass man beim Lesen fast einschläft. Dieses ausdifferenziert sein, was meint er denn damit? Das ist mir alles zu Wischi Waschi. Und dann wieder dieser Väter-Söhne-Vergleich mit Verweis auf die 68er. Da ist es mir doch dreimal lieber, ein Frank Castorf wirft denen mal die Trümmer ihrer verkalkten Ansichten direkt vor die Füße. Strauß, Stein, Peymann etc. wollen keinen Dialog, schon lange nicht mehr. Das muss auch Ostermeier mal kapieren.
Ostermeiers Strauß-Kritik: was ist mit mir schiefgelaufen
also trümmer verkalkter ansichten vor die füß
strauß, stein, peymann wollem keinen dialog
schon lange lang nicht mehr.
das ist gut für mich, den unbedarften, zu wissen
diese verdammten 68er (zu denen ich gehöre)
was ist mit ihnen, und mit mir s c h i e f g e l a u f e n?
stefan wird es schon wissen. soll er, wenn er zeit hat, es mir gleich sagen. (er wird, nicht schwer ist es zu erraten, nicht zu den sogenannten
68ern gehören).
bitte, stefan, legen sie los.
Ostermeiers Strauß-Kritik: Vater-Sohn-Konflikt hält dafür her
@ gerry
Mit Ihnen und mir ist hoffentlich nichts schief gelaufen. Haben Sie denn den Artikel gelesen? Da muss eben wieder der Vater-Sohn-Konflikt herhalten, für alles was scheinbar schief gelaufen ist. Ich hatte hier schon eine heftige Diskussion über den Einfluss der 68er mit 123, ob Castorf dieser Einfluss fehlt. Also ihm mit Sicherheit nicht und ich habe mich nachträglich ausreichend damit beschäftigt. Das reicht mir eigentlich. Was hätten Sie denn Neues in Bezug auf diese Debatte hier hinzuzufügen? Legen Sie bitte los.
Ostermeiers Strauß-Kritik: noch ein Nachtrag
@ gerry
Ich muss da noch was nachschieben. Also, ich will die Verdienste der 68er auf gar keinen Fall schmälern, kann ich ja auch gar nicht. Aber wenn sich die alten Theaterrecken jetzt als Verweser der wahren Theaterkunst aufführen und dem Nachwuchs jedes Recht auf eigene Entfaltung absprechen wollen, dann sollte man den Alten die Brocken vor die Füße werfen. Das wäre für mich die Konsequenz aus der Geschichte. So, und was macht Ostermeier, er versteckt sich hinter den Thesen der 68er, anstatt mit der Faust auf den Tisch zu hauen.
Ostermeiers Strauß-Kritik: Dank an Stefan
komme gerade von der Bühnenvereins-Sitzung in Freiburg, und - ich muss sagen - bin gleich wieder verliebt in "Stefan"s Bemerkungen über Ostermeiers Kritik in der SZ zu B.S. Mal wieder Dank an "Stefan".
Ostermeiers Strauß-Kritik: regiemäßiges Nicht-Zertrümmern
@12:
Ich möchte Sie an Ihrer Liebe zu Stefans Kommentar nicht hindern, muss mich aber ein wenig wundern. In Augenblicken geistiger Erhebung liefert Stefan durchaus interessante, lesenswerte Kommentare ab, bei Ostermeier sagt er eigentlich nur, dass dieser wahrlich kein Stückezertrümmerer sei und sich hinter den Thesen der 68er verstecke. Was will Ostermeier eigentlich noch mit 68? Da wurde er gezeugt, und vielleicht tönte neben dem Bett eine Dutschke-Rede aus dem Radio, die ihn schon in der pränatalen Phase geprägt hat.
Nein, Stücke zertrümmert Ostermeier nicht, da hat Stefan Recht, und wahrscheinlich hat er Ihrer Ansicht nach so sehr Recht, dass Sie in einen Freudentaumel ausbrechen.
Gewiss, bei Ostermeier wird nicht mit dem Holzhammer hantiert, bildlich gesprochen, aber es wird, unbildlich gesprochen, auch mal ein Cello zertrümmert wie in "Kabale und Liebe". Besonders wild geht es bei Ostermeier nie zu, am wildesten für seine Verhältnisse war es noch in "Ficken und Shoppen", aber ansonsten kann Ostermeier das Konventionelle nie ganz abstreifen, auch nicht im "Würgeengel", wo die Vorlage des Bunuel-Films dazu Anlass gegeben hätte. Fast schon wagemutig wirkt da die Präsentation von Eidingers Prunkstück, mal sprechend oder einfach nur baumelnd, gewohnheitsmäßig kann man aber mit bewährten Theatermethoden und einem Minimalkotau vor dem Bürgertum rechnen, Ostermeier ist ja auch ein Kind seiner Verhältnisse und wurde nicht zwangsweise ins Proletariat geschleudert. Immerhin, was manchmal bei seinen Inszenierungen herauskommt, ist doch recht erstaunlich...
Bei anderen Themen hat sich Stefan schon differenzierter geäußert, aber es freut mich, dass bereits die Erwähnung des Nicht-Zertrümmerns einen Lichtstrahl in Ihr Leben wirft.
Ostermeiers Strauß-Kritik: Wildheit erotica
@ Flohbär: Das Erotische, das Sinnliche auf dem Theater zu inszenieren, das ist eine Frage des Blicks. Das heisst, es hat nichts mit "Wildheit" im Sinne einer anarchischen (sexuellen) Befreiungslust zu tun. Im Gegenteil, für mich muss ein/e RegisseurIn einen Sinn, eine Sensibilität für die Schönheit des Erhabenen (auch des Erhabenen in der Poesie der Sprache) haben. Das ist auch eine Art musikalischer Sinn, ein Sinn für Rhythmus und Zusammenspiel, ein Sinn für die ars erotica, für die Körper und die Lüste, für die Kunst der Verführung und nicht für das stumpfe pornographische Bild. Erotik hat immer auch etwas mit einem Bewusstsein für die Vergänglichkeit alles Seienden zu tun.
Zitat Jean-Francois Lyotard:
"Und wenn man nun etwas leidenschaftlich liebt (eine Person, das Malen oder das Regieren), so weiß man nicht recht, ob dies geschieht, um sich wohler zu fühlen oder um schnell zu sterben. [...] Denn nach Kant gibt es Sätze, die nicht sprachlich, sondern gefühlsmäßig sind. Der Satz des Erhabenen besteht nun gerade in jenem zwiespältigen Satz, der Lust und Unlust zugleich freisetzt: die Lust, sich das Unbestimmte vorzustellen, und den Schmerz, dieses Unbestimmte nicht in den Werken finden zu können, die gleichwohl eine Idee davon auslösen."
Und das kann man zum Beispiel in der spannungsaufgeladenen Begegnung zwischen Lars Eidinger und Brigitte Hobmeier in den "Dämonen" wahrnehmen. Oder auch im aktuellen Schaubühnengastspiel der "Fräulein von Wilko" in der Regie von Alvis Hermanis.
Ostermeiers Strauß-Kritik: Fräulein von Wilko
@ I S
Na ja, was Dämonen betrifft, da bin ich ja bekanntlich anderer Meinung, aber wo Sie die Fräulein von Wilko ansprechen, da muss ich Ihnen Recht geben. Meine Einschätzung des Abends steht im Forum.
Fräulein von Wilko: Verweis aufs Unsagbare
@ Stefan, Exkurs zu den "Fräulein von Wilko": Hermanis schafft es tatsächlich, surreale Bilder zu eröffnen, welche auf das Unsagbare verweisen. Daher frage ich Sie: Ist es nicht ein Euphemismus, wenn sie von der "schneewittchengleichen Aufbahrung der Fela unter einer liegenden Vitrine" schreiben? Aus meiner Sicht wählen Sie hier ein viel zu märchenhaftes sprachliches Bild. Ich würde diese Szene ganz anders formulieren: Aus dieser Vakuum-Szene springt uns gleichsam der Tod an, das vitalistische Aufbegehren einer zu früh um ihr Leben gebrachten und unter Küchenschrottanleihen begrabenen Frau. Dieses Bild der um sich schlagenden und tretenden jungen Frau bewirkt eine grausame Katharsis im Sinne der in jedem Menschen schlummernden Nietzeanischen "Lust am Vernichten". Und die funktioniert auch umgekehrt, wenn Wiktor von einem der Fräulein (wie hieß sie noch gleich?) zunächst mit Marmelade gefüttert und anschließend gewürgt wird. Kurz: Das Leben bzw. die Freiheit des Einen ist stets des Anderen Tod.
Fräulein von Wilko: mit Nietzsche
@ I S
Ja, Sie haben da sicher recht, aber so genau kann man diese vielen Bilder gar nicht erfassen und beschreiben. Sie sehen das natürlich aus der Sicht einer Frau und ich eher aus der des Mannes. Ich habe schon bewusst vermieden, über die doch sehr erotischen Momente dieser Inszenierung zu schreiben, um nicht all zu platt daher zu kommen. Zweifellost spielt das aber für Alvis Hermanis wohl eine große Rolle. Mit Nietzsche würde ich da aber nicht gleich kommen. Liebe ist eben immer auch ein Zusammenspiel von Geben und Nehmen.
Fräulein von Wilko: den Geist öffnende Poesie
@ Stefan: Für mich ist es naheliegend. Es wird doch bereits zu Beginn der Inszenierung darüber gesprochen, dass man Nietzsche (Kant, Hegel usw.) auch noch nicht so ganz verstanden habe. Die ewige Leier eben. Vielleicht versteht man es eben erst dann wirklich, wenn man es nicht über den Kopf/Verstand/Intellekt, sondern über die Sinne erfährt. Wie es sich für mich eben zum Beispiel in dieser Szene zeigte.
Ich würde auch nicht sagen, dass Hermanis hier allein die voyeuristische Lust des Zuschauers bedienen will. Dann könnte man ja auch gleich ins geistlose Pornokino gehen. Das hier aber ist (auch grausame,) die Sinne und darüber den Geist öffnende POESIE.
Ostermeiers Strauß-Kritik: Ostermeiers bodenständige Bretter
@IS
Bei der Wildheit in „Shoppen und Ficken“ meinte ich eigentlich nicht die Sexualität, sondern die turbulenten und chaotischen Elemente, die aus Ostermeiers eher ungestümen Anfangszeiten herrühren und längst etwas gebändigt sind. So weit ich mich erinnern kann, ist Jule Böwe in die erotischen Handlungen nicht eingebunden und überlässt das Terrain den Männern, die sich rektal das Geld für die Drogenbeschaffung erarbeiten.
Worauf ich hinauswollte, ist: bei Ostermeier regiert das Maß, selbst wenn geprügelt und geschrieen wird. Zu viel Entfesselung lässt sein Kunstwille nicht zu, der keinen Hang zum Versteigen kennt und klare Strukturen benötigt. Bei Ostermeier wird es wohl nie vorkommen, dass man ihn als Exzentriker stigmatisiert oder als bahnbrechenden Avantgardisten bezeichnet. Die letzte halbe Stunde von Nüblings „Gespenster“, bei denen Figuren eingewickelt und mit Spritzen behandelt werden, wäre mit Ostermeiers Handschrift nicht denkbar gewesen, und „Gesäubert“ hat er Andrews überlassen. Es gibt eben Personen, die einen wild wuchernden Garten nicht mögen, den Rasenmäher bevorzugen, ohne selbst ein Ersatzteil am Rasenmäher zu sein, und mit der Heckenschere hantieren, aber absichtlich ungenau, um noch ein paar bizarre Zweige stehen zu lassen, die mit dem Anstrich des Geheimnisvollen daherkommen. Zum Glück hat Ostermeiers Neigung zum Maßvollen nicht den fernsehkompatiblen Bereich erreicht. Dass er im Rahmen seiner Möglichkeiten durchaus künstlerisch Wertvolles zustande gebracht hat, habe ich nie in Zweifel gezogen.
Ostermeier hätte gut daran getan, über einen Kunstbegriff zu reflektieren, den Botho Strauß in Anlehnung an Foucault vor über 40 Jahren entwickelt hat. Strauß forderte, dass das, was für unsere Augen unsichtbar bleibt, aber technisch zu erblicken ist, erdacht und erträumt wird. Das Ungedachte zu denken, wie Foucault es sich erhoffte, ist eigentlich nur mit künstlerischen Mitteln möglich. Sie haben es angesprochen, Frau IS: „Die Lust, sich das Unbestimmte vorzustellen.“ Leider sind Ostermeiers Bretter für den Einbruch des Phantastischen zu bodenständig.
Lyotard sah vor allem in der abstrakten Malerei ein Mittel, das Undarstellbare doch darzustellen, obwohl ihn der Ausdruck Avantgardismus zu sehr ans Militär erinnerte. Im Gegensatz zu Kant will ja Lyotard das Inkommensurable, das Scheitern der Einbildungskraft, die nicht mehr verarbeiten kann, so dass das Erhabene in dieses entstandene Loch eine Lichtung setzen kann. Das Erhabene, als Geistesgefühl des Verstands, will den Schmerz, will den Zusammenbruch der Einbildungskraft, damit das Individuum prozessual seine Selbstbewusstwerdung erlangt als autonomes Vernunftwesen. Nicht das Gesehene ist das Erhabene, sondern die Wirkung im Subjekt, das sich als absolut unabhängig erfährt: das ist die lustvolle Komponente. Um überhaupt zu diesem Lustgefühl zu kommen, bedarf es als Voraussetzung des Schmerzes, die vorübergehende Desorganisation des Visuellen. Im Grunde verlangt die Erfahrung des Erhabenen nach der Auflösung und Sprengung der sinnlichen Erfahrung, um sich das Unbestimmte vorstellen zu können, als „Quasi-Darstellung“, weil „es eine Art von Präsenz gibt, die eben gerade nicht durch die Darstellung entsteht“ (Lyotard). Hier wäre Platz für das Erdenken und Erträumen.
Botho Strauß hat diese Gedanken vor über 40 Jahren in „Theater heute“ entwickelt. IS, Sie können sich ja diese Hefte beschaffen und stoßen dabei mit Sicherheit auch auf Foucaults Überlegungen. Ich bin dafür zu hoch in Anspruch genommen.
Ostermeiers Strauß-Kritik: die Kehrseite der Überschreitung
@ Flohbär: Dann kennen Sie ja sicher auch die Kritik an der künstlerischen Avantgardebewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die muss man meines Erachtens immer dialektisch mitdenken. Denn der Terror der Bilder, die reine Präsenz, die unter Gedächtnisschwund leidende Unmittelbarkeit, das ist die Kehrseite der Nietzscheanischen Überschreitung bzw. Umwertung aller Werte. Dazu schreibt Paul Virilio in "Die Kunst des Schreckens" (2001):
"Wenn 'alles vom Blitz bestimmt' wird, wie Heraklit sagte, zwingt das FOTOFINISH den verschiedenen 'künstlerischen Darstellungen' die Unmittelbarkeit seiner Gewalt auf, so daß die moderne Kunst genauso wie der Krieg, der BLITZKRIEG, nichts anderes mehr ist als ein Exhibitionismus, der seinen terroristischen Voyeurismus durchsetzt - denjenigen des Live-Todes."
Mir dagegen ging es um das wirkungsästhetische Pinzip der Imagination, welche noch Raum lässt, Raum für die Vorstellungskraft, sich das vorzustellen, von dem wir uns keinen Begriff machen können. Raum auch für die Angst, die diese Vorstellungen auslösen, weil sie auf die Nacht des unendlich Möglichen in jedem Menschen verweisen. Ja. Genau. Denn allein im ästhetischen Kontext können solche (Alpt-)Raumbilder jenseits von gut und böse erschaffen werden, im Realitätskontext dagegen geht es um ethische Ent-Scheidungen. Wie wollen wir/Sie eigentlich leben?
Ostermeier antwortet Strauß: intellektuelle Akrobatik
wer eine vase zerschlägt, kann er sie auch wieder zusammensetzen? Hört man noch was, wenn von uralt die rede ist, oder einem gläsernem Schauspieler. nein, offensichtlich sind die ohren verstopft.
viel intellektuelle Akrobatik hier. aber an welchem Theater gibt es noch Feste? wo fiebert man mit wie bei der Preisverleihung von Lena.hups, das war zu primitiv, von Mitfiebern zu sprechen?
laßt uns einfach bleiben. ich schlafe in 98% aller Vorstellungen ein: und ich sehe viel in Berlin.Und bin nicht ganz blöd.
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