Ziemlich viel Gatsch

von Thomas Askan Vierich

Wien, 27. Mai 2010. Gummistiefel wären hilfreich gewesen bei diesem Ausflug an den Stadtrand von Wien. Mit Bussen werden die Besucher vom Karlsplatz (Treffpunkt: Brut im Künstlerhaus) in die Leopoldau gekarrt. Dort, in "Transdanubien", befindet sich das Alte Gaswerk, eine Industriebrache, wie man sie eher aus postsozialistischen Gegenden kennt. In Wien nennt man solche Gegenden Gestätten. Brachland. Hier dürfen die Zuschauer hinter dem Schauspielerensemble über matschige (auf Wienerisch: "gatschige") Wiesen herlaufen. Für den verregneten Frühsommer kann die new space company natürlich nichts. Aber dafür, dass man sich als Zuschauer wie ein Pauschaltourist auf einer Safari durch ein Elendsquartier fühlt. Es soll uns an diesem frühen Abend das bedauernswerte Schicksal von entwurzelten Jugendlichen mit Migrationshintergrund vorgeführt werden. Ein berührender Theaterabend wird es nie.

Themenpark des sozialen Elends

Die Protagonisten sind drei halbkriminelle Jugendliche: Karim aus dem Maghreb mit ex-jugoslawischer Großmutter. Daniil aus Russland, etwas übergewichtig und sehr temperamentvoll. Boxer David aus Simbabwe. Alle sind in dieser "Siedlung" der Verlorenen gestrandet, wo sie sich einen sinnlosen Kampf mit der Polizei liefern, Autos abfackeln, Drogen konsumieren oder einfach ihre Perspektivlosigkeit mit markigen Sprüchen kaschieren. Der Bruder von Karim wurde von der Polizei angeschossen und liegt im Koma. Karim hat eine Pistole gefunden und schwört einen Polizisten zu erschießen, sollte sein Bruder sterben. Das ist mehr oder weniger die Geschichte.

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"Hass" in der Wiener Version © Theresa Rauter

Die Aufführung beginnt damit, dass die einfahrenden Busse von vermummten jugendlichen Arabern gestürmt werden. Die Besucher werden in hysterischem Englisch aufgefordert, die Busse möglichst rasch zu verlassen. Das hätten sie ohnehin getan. Hier verpasste die new space company ihren ersten Knalleffekt. Angst bekommt vor diesen Entführern niemand. Man muss eher lachen.

Spiel mit der Authentizität

Am Wegesrand lauert ein ausgebranntes Auto, und ein paar Jugendliche mit Skateboards schauen grimmig den Besuchern hinterher. Dann werden die Zuschauer in drei Gruppen aufgeteilt – und Karim, Daniil und David dürfen ihre Show abziehen und ein bisschen erzählen, wer sie sind. Wobei Daniil (Daniel Wagner) das erst wortgewaltig auf Russisch tut – um den restlichen Abend perfekt zu berlinern. Wagner entpuppt sich als ein bis in die Details überzeugender, leidenschaftlicher Schauspieler. Seine schlabberige Jogginghose wird immer nässer, während er versucht, den langsam durchdrehenden Karim (Karim Cherif) zur Räson zu bringen.

Auch Cherif liefert eine beeindruckende schauspielerische Leistung ab, auch wenn er manchmal etwas forciert wirkt. Bei Wagner wirkt das alles viel natürlicher, leichter. Wogegen der Darsteller von David (David Wurawa) in schlechten Momenten wie ein Laiendarsteller agiert. Das mag Absicht sein, um ihn "authentischer" erscheinen zu lassen. Berührend macht es sein Spiel nicht. Stattdessen versucht er die Zuschauer zum Joggen zu animieren: klägliches Mitmach-Theater. In Nebenrollen überzeugen Marcel Mohab als Gangster Asterix und Karim Rahoma als Latino-Tunte. Rahoma legt in der Pause sogar einen witzigen Tanz mit hochgerafftem Rock hin.

Überzeugende Pause mit Rap und Breakdance

Überhaupt ist die Pause – neben dem Spiel von Daniel Wagner – in der ehemaligen Kantine des Gaswerks das Überzeugendste des Abends. Es werden beeindruckende Breakdance- und Rap-Einlagen geboten. Jetzt wirkt das alles wirklich authentisch.

Alles, was dann folgt, kann den Anspruch des Abends, eine Gesellschaft darzustellen, "die Wettbewerb vor Profit stellt, und Profit vor Solidarität" in keiner Weise erfüllen. Das hätten wir gerne gesehen, das wäre wirklich aktuell gewesen angesichts der Krise, die die herrschende Klasse mit gigantischen Bürgschaften und Krediten zu vertuschen sucht. Aber wir haben mehr oder weniger halbkriminelle, kalauernde, an Testosteronschüben leidende Jugendliche gesehen. Dazu hätten wir nicht bis an den Stadtrand von Wien fahren müssen. Nichts an diesem Theaterabend unter freiem Himmel war neu. Und unmittelbar war es leider auch nicht, trotz der ungewöhnlichen Aufführung weit außerhalb traditioneller Theaterräume.

Postindustrielle Kulisse

Der Star des Abends ist eindeutig die Location: halbverfallene Hallen, gigantische Räume, jeder Funktion beraubt. Noch vor wenigen Jahren wurde hier gearbeitet, jetzt wird das Ganze zur postindustriellen Kulisse. An der Decke der Kantine hängen noch Reste der Schallisolierung aus Schaumstoff. Hier wurden früher vielleicht Belegschaftstreffen abgehalten mit Brandreden gegen den Kapitalismus. Davon ist heute nichts übrig geblieben.

Am Ende versinkt die Sonne im Westen, die Wolken gruppieren sich für die Andeutung eines Abendrots. Jenseits des Zauns sieht man die echten Plattenbauten, wo (vermutlich) das echte Elend wohnt. Doch man befindet sich auf der anderen Seite, in einem Themenpark für angebliches soziales Elend. Dafür können die Schauspieler nichts, die haben gegeben, was sie geben konnten. Berührt haben sie selten. Man war sich als Zuschauer immer seiner Rolle als Zuschauer bewusst – und stand mit nassen Füssen im Gatsch der Gestätten.

Das hat alles, bis auf das eine oder andere Zitat, mit dem preisgekrönten französischen Film von 1995 wenig zu tun. Es fehlen die aufregenden Kamerafahrten, es fehlt die glaubwürdige Kulisse. "Hass" in der Version von Volker Schmidt ist nicht mehr als eine Nummernrevue in pittoresker Kulisse. Hätte die Sonne geschienen, hätte alles noch aufgesetzter gewirkt.

 

Hass
Nach dem Film "La Haine" von Mathieu Kassovitz in einer Bearbeitung für das Theater von Volker Schmidt, Übersetzung: Karim Cherif
Regie: Volker Schmidt, Kostüm: Anna Sonner, Grafische Gestaltung, Bühne: Emanuel Jesse, Theme Song: Spax.
Mit: Karim Cherif, Daniel Wagner, David Wurawa, Tamas Ferkay, Miriam Jansen, Marcel Mohab, Morteza Tavakoli, Ivana Nikolic, Karim Rahoma, Firuz Akhmedov, Piotr Znajkowski, Bernhard von Zweydorff u.a.

www.festwochen.at

 

Mehr Hass-Inszenierungen: Im Januar 2010 hatten Tamer Yigit und Branka Prlic Mathieu Kassovitz' Film im Berliner Hebbel am Ufer adaptiert. Sebastian Nübling hatte Hass im Januar 2008 in den Münchener Kammerspiel inszeniert.

 

Kritikenrundschau

Als gelungene Gratwanderung zwischen Spektakel und Miterleben empfand Heide Rampetzreiter in der Wiener Tageszeitung Die Presse (29.5.2010) diese Filmadaption. Zwar wirkte der Beginn noch etwas hölzern auf sie, doch bald entwickelt sich für sie durch die "ständig labernden Jugendlichen", die einen Mix aus österreichischem und bundesdeutschen Slang, Französisch, Englisch, Russisch sprechen, "ein Sprachsog". Sie spürt, dass die teils absurd-komischen Dialoge jederzeit in eine Gewaltsituation kippen können. Auch als Zuschauer werde man in seiner Rolle durchgeschüttelt: "Vom Club-Besucher, der klatschend den Rhythmus zu Breakdance-Battles vorgibt, wird man zum Voyeur, der sich mit der Lebenswelt von Wohlstandsverlierern einen schönen Abend macht." So gelingt es aus Sicht der Kritikerin, ein beklemmendes Bild einer Gesellschaft im freien Fall zu zeichnen.

"Ein echtes Theatererlebnis, unmittelbar, intensiv, erschreckend und auch tragikomisch", gibt Hilde Haider-Pregler in der Wiener Zeitung (29.5.2010) zu Protokoll, was die Kritikerin im Wesentlichen dem "großartigen, mehrsprachigen, körpersprachlich kaum zu übertreffenden Ensemble" gutschreibt.

Begeistert ist auch Stella Reinold vom Wiener Kurier (29.5.2010), aus deren Sicht Volker Schmidt mit seinem "grandiosen internationalen Ensemble" hier erneut ein unmittelbares Theatererlebnis an einem ungewöhnlichen Ort gelungen ist. "Mit dem Bus eine halbe Stunde lang an den Stadtrand gekarrt zu werden, um dann dreieinhalb Stunden bei Regen durch Gatsch zu waten ist schon eine riskante Zumutung für das Festwochen-Publikum. Jubel und Applaus hat es zum Schluss aber dennoch nicht geschadet. Empfehlenswert!"

Christine Dössel schreibt in der Süddeutschen Zeitung (2.6.2010): Bei Volker Schmidt spielten die drei Darsteller "ihren je eigenen Migrationshintergrund aus". Karim Cherif, Daniel Wagner und David Wurawa, hätten, "jeder für sich, eine Wahnsinns-Power und eine schlagkräftige Authentizität". Im Zusammenspiel als "gelangweiltes, gedoptes, manchmal ein bisschen trotteliges Freundestrio" seien sie auch "ganz schön komisch". Ließ der Ausflug ins Brachland zuerst "schlimmstes Mitmachtheater bei hoher Glaubwürdigkeitsproblematik" befürchten, hätten die "großartigen, unbeirrbaren Darsteller" und "ihre unwirtliche Location" einen doch gekriegt. "Organisationstalent" Volker Schmidt betreibe mit seinen Inszenierungen in öffentlichen Räumen "ein Theater der Direktheit, der Unmittelbarkeit, der größtmöglichen Authentizität". Bei "Hass" sei "tatsächlich ein Stationendrama" entstanden, bei dem sich die Ahnung von "einer Parallelwelt mit ihren Codes, Jargons, Raps und Ritualen" entfalte.

 

Kommentare  
Hass in Wien: Theater ist doch kein Film
"...Es fehlen die aufregenden Kamerafahrten, es fehlt die glaubwürdige Kulisse."....Interessante Sichtweise für ein Theaterstück. Ich habe gestern das Stück das Erste Mal gesehen und war sehr begeistert. Die Schauspieler waren toll und das "Bühnenbild" war toll. Ich kann jedem nur empfehlen sich ein eigenes Bild zu machen.
Hass in Wien: nicht die Videothek
Neben der Formulierung filmischer Ansprüche an Theaterabende, werden dankenswerterweise auch große Anstrengungen unternommen, die sprachlichen Besonderheiten der Stadt Wien erfahrbar zu machen. Sehr beeindruckt von der erhellenden Expertise bleibt nur die Frage: Was aber heißt brunzdumm in schönstem Hochdeutsch?
Und wieviel Zeilen können diese pittoresken linguistischen Details noch füllen, wenn man nichts Intelligentes zu einem Theaterabend sagen kann, der leider nicht der Film aus der Videothek war.
Hass in Wien: Erfahrung unterschlagen
Was für eine überhebliche, törichte Kritik! Das Gegenteil ist der Fall. Rafael hat schon darauf hingewiesen: einem Theaterabend vorzuwerfen, dass die "aufregenden Kamerafahrten" der Film-Vorlage fehlen, ist eine starke intellektuelle Leistung. Und dann die Location als "Star des Abends" zu preisen,die wohl wie keine andere die Trostlosigkeit aller Vorstädte auf den Punkt bringt, um dann im übernächsten Absatz plötzlich zu schreiben,es fehle die "glaubwürdige Kulisse" toppt diese Leistung noch einmal. Es ärgert wirklich die Arroganz, mit der hier ein mutiges Projekt niedergemacht wird. Es handelt sich um die Arroganz, mit der diese Art von Abqualifizierungs-Kritik schon lange ihren Kredit verspielt hat. Wer Gelegenheit hat, sollte sich das einfach noch anschauen. Es ist eine Erfahrung, die von dieser Kritik glatt unterschlagen wird.
Hass in Wien: Urlaubsausflug für betuchte Festivalgäste
Ich kann mich den Vorpostern leider gar nicht anschließen und muss der Kritik völlig Recht geben. Ich bin mir vorgekommen wie beim Urlaubsausflug für betuchte Festivalgäste in die ach so wilde Vorstadt. Die Zuseherinnen und Zuseher rund um mich kamen aus dem Gaffen, Kommentieren und Kichern gar nicht raus. Das haben sich diese Figuren nicht verdient, so ausgestellt zu werden. Wie gesagt: Nichts gegen die Schauspieler, den Ort, den Text - aber alles zusammen ergibt in dieser Form einfach einen - für mich - undlich zynischen Blick auf das Klischee (!) von Vorstadtjugendlichen.
Hass in Wien: Erlebnispädagogik an der Oberfläche
Wenn wenn ein Stück über Hass ständig zum Schmunzeln verleitet, ist es an seinem Anspruch einfach gescheitert. Dieser „Theaterabend“ ist über weite Strecken ein Versuch, mit einer Art von Erlebnispädagogik die Ursachen von Hass zu erklären. Und selbst da bleibt alles an der Oberfläche kleben. Weder ist der Hass zu spüren, noch die gewaltige Kränkung, die mit dem Hass immer verbunden ist. Diesem Verhältnis von Hass und Kränkung hätte die Regie nachspüren müssen. Und diese Emotionen hätte sie erlebbar machen müssen. Das wäre dann Theater gewesen. Ich habe das in meinem Blog noch etwas ausführlicher analysiert: http://hutterer.blog.de/
Hass in Wien: wirklich schade
Wie schade! Das Projekt klang so vielversprechend und war dann so flach. Nicht ein dichter oder berührender Moment ist ihnen gelungen. Wirklich schade.
Hass in Wien: vertane Chance
Vertane Chance, finde ich auch.
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