Am Ende muss gestorben werden

von Klaus M. Schmidt

Recklinghausen, 2. Juni 2010. Vom Programm der Ruhrfestspiele sieht uns seitengroß die junge Schauspielerin Hendrike Johanna Jörissen an. Sie gibt die Titelfigur in Kevin Rittbergers Inszenierung von Kleists "Die Marquise von O.". Vom Programmhefttitel des koproduzierenden Frankfurter Schauspiels dagegen schaut Andreas Uhse als Kleist, und das passt besser. Mit der Kleist-Figur hebt die Inszenierung an, sie bleibt ständig auf der Bühne präsent, und versetzt dem Stück und seiner Titelrolle schließlich auch das tödliche Ende.

Dichter als Zeremonienmeister

Schmächtig und kahlköpfig ist dieser Kleist. Feinnervig betrachtet er seinen eigenen Weltekel zunächst mit Distanz. Zu Beginn tritt er mit dem Musiker Hauschka auf, der die Aufführung live begleitet. Der Soundtrack mischt präpariertes Piano à la John Cage, Minimal Music und Neoromantik, das schafft Atmosphäre, mehr bringt es nicht ein. Kleist redet sich schnell darüber hinweg in Rage.

Der Dichter liest in den Zeitungen, bis er auf jene Annonce stößt, in der die Marquise bekannt gibt, dass sie "ohne ihr Wissen in andere Umstände gekommen sei", dass sie den Vater zum Kind suche und dass sie ihn auch heiraten wolle. Sprudelnd spinnt Kleist die Erzählung fort, währenddessen marschiert das Personal auf.

Für Kleists Marquise, eine zweifache Mutter und Witwe, ist Jörissen zu jung. Doch versucht sie auch gar nicht, den verletzten Stolz einer reiferen Frau zu markieren, stattdessen lebt sie ihre Verzweiflung jugendlicher und impulsiver aus. Damit kann man sich anfreunden.

Oliver Kraushaar gibt den Grafen F. Mitten im Stück lässt ihn Rittberger Heiner Müllers Monolog "Herakles 2 oder die Hydra" atemlos herunterrasseln. Den orientierungslosen Kämpfer, der hier zum Vorschein kommt, wird Kraushaar danach nicht mehr los, zur Reue des Kleistschen Grafen passt das nicht wirklich.

Mit kohlhaasschem Eigensinn

Die Fabel der 1808 erschienenen Novelle findet sich in der Dramatisierung von Regisseur Rittberger und seiner Dramaturgin Nora Khuon vollständig wieder. Mit Kleists Worten erzählt von der Figur des Kleist. In Handlung umgesetzt wird sie kaum.

Die Marquise lebt im Kommandantenhaus des Obristen G., ihres Vaters, das Christoph Ebener als zweigeschossiges Fragment auf die Bühne gesetzt hat. Während eines russischen Angriffs auf das Haus wurde die Marquise in ohnmächtigen Zustand von einem russischen Offizier, dem Grafen F., vergewaltigt. Ihre Schwangerschaft kann sich die Marquise nicht erklären, es kommt zum Eklat. Der Vater verstößt seine Tochter. Dass diese darauf ihre Unschuld öffentlich behauptet, atmet Kohlhaasschen Eigensinn.

Die Novelle gelangt schließlich nach allerlei Verwicklungen zu einem glücklichen Ende. Die "Schande" wird getilgt, Marquise und Graf heiraten, die Ehe soll glücklich gewesen sein. Doch Kevin Rittberger und sein Kleist in der Inszenierung geben sich damit nicht zufrieden.

Am Leben leiden

Andreas Uhses Kleist sieht den anderen Figuren beim Spiel zu, schleicht um sie herum, kommentiert die Handlung - und er spricht die Marquise auch direkt an. Das Kleistsche Leiden an der Welt wird so immer deutlicher zum Vorschein gebracht: "Ich wollte doch lieber zehnmal den Tod erleiden, als noch einmal wieder erleben, was ich erlebt habe."

Rittbergers Kleist findet in der Marquise die Partnerin für jenen gemeinschaftlichen Selbstmord, den der Autor im wahren Leben 1811 mit Henriette Vogel beging. Während die Eltern mit dem Grafen im Haus feiern, erschießt davor Kleist zunächst die Marquise, dann sich selbst. Zuvor hat er sie symbolisch ihres Charakters als Figur beraubt, in dem er ihr die Perücke abnimmt.

Der souveräne Autor Kleist, der seine Marquise am Leben ließ, aber die Brüchigkeit sowohl der Konstruktionen als auch der Verdrängungen, die dies ermöglichen, messerscharf bloßlegte - dieser souveräne Autor geht in Rittbergers Verschmelzung von Stoff und Biographie unter. Weder nutzt das dem Verständnis der Erzählung, noch gewinnt man größere Klarheit über das Leben Kleists. So verließ man die Premiere ein wenig ratlos.

 

Die Marquise von O.
nach Heinrich von Kleist, Fassung von Nora Khuon, Kevin Rittberger
Regie: Kevin Rittberger, Bühne: Christopher Ebener, Kostüme: Janina Brinkmann, Dramaturgie: Nora Khuon, Musik: Hauschka aka Volker Bertelmann.
Mit: Thomas Huber, Henrike Johanna Jörissen, Franziska Junge, Oliver Kraushaar, Lily Sykes, Andreas Uhse, Hauschka.
Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen und des SchauspielsFrankfurt

www.ruhrfestspiele.de
www.schauspielffrankfurt.de

 

Mehr zu dem Autor und Regisseur Kevin Rittberger gibt es in unserem Glossar.

 

Kritikenrundschau

Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen (4.6.2010) ist aus dem Südhessischen nach Recklinghausen gefahren, um sich anzuschauen, was das Schauspiel Frankfurt aus Kleists "Marquise von O." gemacht hat. Was er sah - man schickte den Dichter Kleist leibhaftig auf die Bühne -, gefiel ihm nicht: "Als genügte ihnen die ungeheure Begebenheit der Novelle nicht. Als müssten sie auch noch den Dichter daruntermengen. Herr von Kleist aber scheint in Frankfurter Augen eher nach einem dürren, glatzköpfigen, schmulmeisternden Vampir-Kasperl und nervös-hysterischen Nosferatu-Hampelmann, als nach einem Genie zu kommen." Verzweifelt fragt Stadelmaier: "Wieso schlägt man in diese ungeheuerlichste aller ungeheuren Novellenbegebenheiten den dramaturgischen Notnagel, an den man den Autor als Wegweiser baumeln lässt?" Was Kevin Rittberger aus Kleists Novelle gemacht habe, sei "von rasender Dürftigkeit." Die Schauspieler hielten "sich ihre Figuren derart vom Leib, als könnten sie mit diesen alten Novellensäcken nichts weiter anfangen, als zu einer krampfhaften Dichterbeschwörung samt Klaviersaitenverwurstung ihren ungerührten Zitatensenf dazuzugeben".

 

Kommentare  
Marquise von O.: Schon glüht Stadelmaiers Sitz
Erhält eigentlich jemand diese herrlichen stadelmaierschen Wortschöpfungen für die Nachwelt. Ein Buch mit seinen Kritiken oder nur eine Zitatensammlung von ihm müsste doch weggehen wie geschnitten Brot. Aber wahrscheinlich beglückt er uns irgendwann mit seinen Memoiren, das könnte eh kein anderer so gut wie er selbst.

Doch führt ihn bald ein tiefer Zug
Zu höherem Gedankenflug.
Schon brennt der Kopf, schon glüht der Sitz,
Schon sprüht ein heller Geistesblitz;
Schon will der Griffel ihn notieren;
Allein es ist nicht auszuführen,…

Wilhelm Busch
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