Pack die Lederhose ein

von Dina Netz

Köln, 3. Juni 2010. In der Kölner Halle Kalk, der Außenspielstätte des Schauspiels, steht die Hitze am Uraufführungsabend. Das fördert nicht gerade die Konzentration, passt aber ganz gut zum Stück von Christoph Nußbaumeder, das im Frühling mit Eröffnung der Biergarten-Saison einsetzt und in dem äußere und emotionale Hitze immer weiter steigen.

Der Biergarten "Felsenschenke" auf einer Donauhalbinsel, den Monika (im blauen Dirndl) seit vielen Jahren führt, ist das soziale Zentrum der kleinen Gemeinschaft in Nußbaumeders "Die Kunst des Fallens" – und hier ist in diesem Frühjahr einiges anders. Ein Einkaufszentrum oder ein "Erlebnispark Naturgewalten" sollen in der Nähe gebaut werden; das eine zum Übel, das andere zum Wohl der Gastwirtschaft. Und Monikas Tochter Sigrid ist nach langer Abwesenheit zurück und hilft als Kellnerin aus. Noch eine andere Figur kommt neu in die Dorfgemeinschaft: der verkrachte Zeichner Paul, der auch als Bedienung bei Monika anheuert.

Frau ohne Eigenschaften

Sigrid hat eine Schwester, Seffi, die ebenfalls kellnert und sich außerdem auf ihre Abschlussprüfungen in Sonderpädagogik vorbereitet. Aber alle haben nur Augen für Sigrid, die irgendwie besonders ist, "eine Künstlerin". Das war offenbar schon immer so und macht Seffi schwer zu schaffen. Denn sie findet niemand weiter wichtig, und besonders die Männer machen sich an Sigrid zu schaffen: ob sie für sie die Ehefrau verlassen, sich aus Frust über eine Zurückweisung zur Bundeswehr melden oder nach Köln zu ihrer Exfrau zurückkehren. Irgendwann kommt auch einer bei einem Sturz vom Felsen zu Tode. Die Männer sind hier allesamt Hanswurste, und Christoph Nußbaumeder zeigt wenig Mitgefühl mit ihnen.

Sigrid ist das Gravitationszentrum des Stücks, ohne dass sie etwas dafür tut. Sie taucht aus dem Nichts auf, und außer, dass sie gern Modedesignerin geworden wäre, ist sie eine Frau ohne Eigenschaften, auf die die Männer ihre (feuchten) Wünsche und Träume projizieren. Katja Lauken hat dafür das schöne Bild gefunden, dass sie die Biergartenbesucher auf einer Stuhlreihe frontal zum Publikum Platz nehmen lässt, so dass Sigrid (Nora von Waldstätten) in der Mitte von allen angestarrt wird.

Borderline-Diva

Sigrid ist naiv und unschuldig, wie viele Nußbaumeder-Protagonistinnen, baut sich Flügel aus Bügeln und lässt alles mit sich machen: schläft mit dem einen, weil sie ihre Ruhe will: Kopulation statt Konflikt. Beginnt mit dem anderen eine Beziehung, weil er sie so bedrängt. Lässt sich vom dritten zeichnen, obwohl sie sich selbst für "durchsichtig", für einen "Niemand" hält. Sigrid ist also die zentrale Figur – und in der Kölner Inszenierung auch das zentrale Problem.

Denn Nora von Waldstätten lässt ihre Sigrid wie eine Femme fatale über die Bühne stolzieren, lasziv Weintrauben knabbern und gelegentlich hysterische Anfälle bekommen. Ihre Sigrid ist das genaue Gegenteil eines Nichts, nämlich eine dominante Nervensäge. Man versteht keine Sekunde lang, warum die Männer sich alle so nach ihr verzehren. Und weil diese Figur die ihr zugedachte Rolle als Gravitationsszentrum des Stücks nicht erfüllt, fallen die Figuren und mit ihnen das Stück bald auseinander. Es bleibt Stückwerk, wie die zusammengeflickte Bretterwand im Bühnenhintergrund (Thomas Dreissigacker).

Der imaginäre Hund

Keine Frage: Die Figur der Sigrid zu inszenieren, ist eine große Schwierigkeit von Nußbaumeders "Die Kunst des Fallens". Vielleicht müsste man eine ganz andere Ebene einziehen, dürfte diese überreale Figur am Ende gar nicht besetzen, sondern müsste ein anderes Bild für diese Projektionsfläche der Männer finden. Die Borderline-Diva, für die man sich in Köln entschieden hat, funktioniert jedenfalls nicht. Inwieweit das Stück überhaupt spielbar ist, werden weitere Inszenierungen zeigen müssen.

Es bleibt, sich den amüsanten und grotesken Momenten dieses Abends zu überlassen: Andreas Grötzinger als Sigrids Teilzeitfreund Adam in rotbraunem Kunstlederanzug, der seinem Cousin Paul (Renato Schuch) einen selbstgerechten Vortrag hält, dass er doch nur das Beste für Sigrid wolle. Robert Dölle als Harry, der vergeblich seine Lederhose hochzerrt. Martin Reinke als ungepflegter Rentner Gobi, der seinen imaginären Hund an der Leine führt. Tapfer kämpfen die Schauspieler gegen den Fall des Stückes an.

 

Die Kunst des Fallens (UA)
von Christoph Nußbaumeder
Regie: Katja Lauken, Bühne: Thomas Dreissigacker, Kostüme: Regine Standfuss, Musik: Henning Brand, Licht: Jan Steinfatt, Dramaturgie: Sybille Meier.
Mit: Nora von Waldstätten, Jennifer Frank, Ulli Maier, Andreas Grötzinger, Renato Schuch, Paul Fassnacht, Martin Reinke, Robert Dölle, Anja Herden, Orlando Klaus, sowie den Musikern Henning Brand (Schlagwerk, Elektronik)und Achim Fink (Tuba, Posaune).

www.schauspielkoeln.de

 

In Köln wurde bereits 2008 mit Mörder-Variationen ein Stück des 1978 geborenen Dramatikers Christoph Nußbaumeder uraufgeführt, und zwar von Florian Fiedler. Nußbaumeder war Anfang des 2010 auch der erste Preisträger des Dramatikerpreises des Kölner KunstSalons.

 

{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=My-pTn7cD0Q}

 

Kritikenrundschau

"Hier wird das große Welttheater burschikos auf den Mikrokosmos des Biergartens zurechtgestutzt," schreibt Hartmut Wilmes im Kölner Generalanzeiger (5.6.2010) "Und dort sind Wirtschaftskrise wie Liebesbankrott zwar durchaus tragisch, aber zum Glück nicht nur." Doch zeigte sich aus seiner Sicht bei dieser Uraufführung auch, dass es unglaublich schwer es ist, eine derart flirrende Projektionsfläche wie die Hauptfigur Sigrid zu verkörpern oder gar zu inszenieren, die gleichzeitig surrreale Sirene und echte Figur im Drama ist. Nora von Waldstätten setze die von ihr gespielte Figur "allzu sehr unter Hysterie-Starkstrom: Im abrupten Wechsel zwischen somnambuler Selbstversunkenheit, inniger Weltumarmung und schrillem Kollaps ist diese Frau schon ein klinischer Fall, bevor man ihren sinnlichen Sog so recht spüren kann", und dürfe "die Spannweite dieser Figur zwischen Femme fatale und verlorenem Mädchen, zwischen Koketterie und seelischer Erschöpfung" erst im Laufe des Abends präziser ausmessen. Ansonsten inszeniere "Regie-Jungstar Katja Lauken kurzweilig, scharfkantig und mit Lust am jähen Stimmungsbruch." Das bekomme dem Stück nicht schlecht, "das mit seinen Katastrophen (mysteriöse Todesstürze vom Felsen) und amourösen Kapriolen waghalsig zwischen Boulevard und Kolportage gratwandelt."

Als niederbayerische Variation der russischen Tragikomödie "Der Kirschgarten" hat Christian Bos vom Kölner Stadtanzeiger (5.6.2010) empfunden. So recht froh hat ihn der Abend trotzdem nicht gemacht. Zwar findet er die verschiedenen "Schreckgestalten des Alltags" vom Kölner Ensemble "lustvoll eingefangen". Grundsätzlich glaubt der Kritiker, dass Christoph Nußbaumeder der Schwerkraft seiner Figuren nicht konsequent genug gefolgt ist, die für ihn in den Konventionen der Theatergeschichte feststecken "wie im Sumpf". Schließlich deutet Bos sogar eine Frage nach der Existenzberechtigung dieses Dramas an.

Andreas Rossmann schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.6.2010): Sigrid sei eine "Femme fatale wider Willen". Wie Christoph Nußbaumeder die "Figur aufbaut und ins Zentrum rückt", werde sie zum "Katalysator der Reaktionen der Männer: ein Verein von Schlappschwänzen und Egoisten, die sich wichtig tun". In der Kölner Uraufführung zeige Nora von Waldstätten zwar "viele Facetten der Figur", die "Faszination einer Unwiderstehlichen" vermöge sie ihrer Figur "nicht zu erspielen". Die Inszenierung von Katja Lauken gehe den "Ahnungen und Unheimlichkeiten des Textes zu wenig nach". Mehr "Atmosphäre und auch mehr Naturalismus" dürften dem Stück gut tun, glaubt Rossman, um die "Realitäten", die "Gemeinheiten hinter der Gemütlichkeit", die "Brutalität hinter der Biederkeit", die "Schrecken hinter den Sentimentalitäten kontrastreicher hervorzuholen".

Nußbaumeder warte "mit einer derartigen Fülle von Schicksalen und Geschichten auf", dass Jürgen Berger von der Süddeutschen Zeitung (9.6.2010) "ganz schwindelig" wird, er es aber doch prima findet, dass der Autor "sein Personal mit einer Fülle lebensweltlicher Anbindungen ausstattet". Andererseits habe Nußbaumeders den "Hang, zu viele und auf jeden Fall spektakuläre Wendungen einbauen zu wollen". Er habe "zwar nicht die szenische Ökonomie eines Ödön von Horváth, legt seinen Figuren aber schicksalsschwere Sätze in den Mund, die vom großen Vorbild stammen könnten". In Nora von Waldstätten habe die Inszenierung eine Sigrid, "die all die Fragen der Figur zunächst schön unbeantwortet lässt", bis ihr "doch ein dämonisches John-Malkovich-Lächeln ins Gesicht" rutsche. Die Tatsache, dass Sigrid mit dem Karrieristen Adam zusammen ist, obwohl sie ihn nicht liebt, nehme man "zur Kenntnis und fragt sich, was der Autor uns eigentlich damit sagen will".

 

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