Wahrheit ist ein großes Wort

von Georg Kasch

Berlin, 3. Juni 2010. Wittenberge scheint wirklich schlecht drauf zu sein: "Touristen, die hass ich. Ist kein Zoo hier", meckert die Stadt. Stimmt aber nicht: Zwischen ausgestopften Wildkatzen, einem Affen und einem Vogel Strauß stehen und sitzen vier Menschen starr in einer Art Vitrine. Wann immer Jan, ein älterer Herr aus Westdeutschland, auf seine Fernbedienung drückt, plappert jemand von ihnen mechanisch über Wittenberge oder das Leben, gerne auch in Wiederholung. Der Osten - ein Unterhaltungsprogramm, bei dem einfallende Wessis per Knopfdruck ihre Vorurteile bestätigt bekommen?

So einfach machen es sich weder Text noch Inszenierung von "Fieber", mit dessen Uraufführung das Maxim Gorki Theater ins Abschlusswochenende seiner Projektreihe "Über Leben im Umbruch" geht. Nach Thomas Freyer, Fritz Kater und Philipp Löhle hat sich auch Juliane Kann dafür auf Spurensuche in Wittengberge begeben, jener schrumfenden nordbrandenburgischen Industriestadt, die über drei Jahre lang von einem interdisziplinären Forscherteam untersucht wurde.

Unterschichtengucken ist hier nicht

Vielstimmig spricht da eine kranke Stadt. Draußen, an der Fassade des Gorki Studios, steht in großen Holzlettern VERITAS, Wahrheit. Drinnen erfährt man, dass über Jahrzehnte die Nähmaschinenfabrik im Ort so hieß: "Jemand hat Veritas druchgestrichen und Verlierer drübergeschrieben." Doch bei der Fieber-Diagnose bleibt Kann nicht stehen, auch wenn das Personal, das da zusammenprallt wie die Forscher auf die Wittenberger, zunächst nicht sonderlich differenziert wirkt: Wessi Jan sucht mit seinem Außenseiter-Sohn Robert nach den Spuren seiner verstorbenen Frau und trifft auf Sabine, die vom Leben gebeutelte Kellnerin, auf ihre Tochter Ricarda mit schwarzem Humor und einer Fantasie am Rand zum Wahnsinn, auf Sabines Sohn, den Schrottplatzhelden Ramon und dessen Freundin Mimi, die hauptberuflich schwanger ist.

In verknappter Sprache, mit Sinn für Poesie, voll genauer Dialogbeobachtungen und versetzt mit einigen leisen (und einigen kracherten) Pointen geht es dann aber gar nicht so sehr um Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Depressionen. Unterschichtengucken ist hier nicht. Sondern um Liebe. Auch nicht besonders originell, sicher. Aber es scheint, als ob Kann in ihrer Therapie weder der Stadt noch ihren behutsam gezeichneten Figuren etwas anderes zumuten wollte als eine Utopie: dass aus dem Zusammenprall von Fremden etwas wunderbar Neues entstehen kann, vielleicht eine Art Kollektiv.

Vom Solo-Song zum Square-Dance

Also nimmt sich Raphael Kädings zunächst noch an den Rollstuhl gefesselter Robert fest vor, ausgerechnet in diesem Kaff einen besten Freund zu finden - und sucht sich dazu den weit kindskopfigeren Ramon aus, der ihn über den Tisch zu ziehen versucht. Also glaubt die in die Jahre gekommene Sabine der wunderbaren Ruth Reinecke, dass es diesmal wirklich klappt mit dem Glück - und scheint sich an den verkümmerten Emotionen Jans (Wilhelm Eilers) trotz kleiner abergläubischer Voodoo-Gesten zunächst die Zähne auszubeißen. Also meint Ricarda, ausgerechnet auf Jan ihren Vaterwunsch projizieren zu müssen.

Am Ende aber werden die drei mit ihrer Sehnsucht das Wesen der Stadt verändert haben. Regisseurin Anna Bergmann, die sich zusammen mit ihrem Team schon die starke Eingangsszene mit der Vitrine hat einfallen lassen, verdichtet und konkretisiert, lässt aber in ihrer schräg-bunten und zärtlichen Szenenfolge offen, was davon geträumt und fieberfantasiert ist. Alles ein Märchen, wenn von Sabine zwischendurch nur ein Cowboystiefel in Jans Hand bleibt? Vielleicht. Aber ein tröstliches: Von der Eingangsbotschaft "Es ist Zeit, diese Stadt zu verlassen" und der späteren Erkenntnis "Wir bauen eine neue Stadt", vom Solo-Song zum kollektiven Band-Erlebnis, von der Nicht-Bewegung zum Square-Dance verläuft die Bewegung des Abends.

Der Wahrheit auf der Spur

Ja, die Liebe ist ein seltsames Spiel, wie die Partymucke auf der Bühne einmal wortlos behauptet. Am Ende haben sich drei Paare (wieder)gefunden: Mimi (Sina Kießling), hinter deren "liebem Gesicht" die nackte (Lebens-)Gier hockt und Ramon, der bei Johann Jürgens herrlich berlinernd schwadroniert und dann ganz irritiert schaut, wenn etwas nicht in sein schlichtes Weltbild passt. Der frühreife Robert und Ricarda, die Anne Müller als sensible Mischung aus Coolness, spleeniger Weltweisheit und kleinen kindlichen Gesten zeichnet. Und Jan und Sabine unter der Diskokugel.

Wahrheit ist ein großes Wort, viel größer noch als die Veritas-Holzlettern an der Gorki-Fassade. Wenn es so etwas wie eine gefühlte Wahrheit gibt, ist ihr der Abend dicht auf der Spur.

 

Fieber
von Juliane Kann
Uraufführung
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Natascha von Steiger, Kostüme: Claudia González Espíndola, Musik: Heiko Schnurpel, Dramaturgie: Ludwig Haugk.
Mit: Sina Kießling, Anne Müller, Ruth Reinecke, Wilhelm Eilers, Johann Jürgens, Raphael Käding.

www.gorki.de

 

Hier geht es zu den Nachtkritiken der anderen Uraufführungen im Rahmen des Projektes Über Leben im Umbruch:

Im Rücken die Stadt von Thomas Freyer (R: Nora Schlocker)
we are blood von Fritz Kater (R: Armin Petras)
Die Überflüssigen von Philipp Löhle (R: Dominic Friedel)

 

Kritikenrundschau

Juliane Kanns Text "Fieber" spanne die Konfliktlinien des Stoffes in ein "elegisches, dichtes Spechnetz, in dem körperlos kursierende, scheinbar irgendwo aufgeschnappte Dialoge sich abwechseln mit konkreten, kleinen Menschenskizzen", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (5. Juni 2010). Anders als in Kanns Text aber kommt in Anna Bergmanns "reichlich vereinfachender Inszenierung" das eigenartige "Fieber" der Stadt nicht zum Ausdruck: "die besondere Elegie, die darin besteht, dass man sich zu sehr an bestimmte Vorstellungen der Vergangenheit klammert oder an unmögliche Erwartungen in die Zukunft. Vor allem das zart utopische Ende Kanns, das Heilung in der schlichten Herstellung von Gemeinschaft findet, wird mit einem derben Reihentanz im Cowboy-Dress platt gewalzt. " Positiv allerdings findet die Kritikerin die guten Schauspieler und das vielfach witzige Spiel mit den Typen.

"Juliane Kann setzt auf Andeutung, auf Zufälligkeiten, scheut die Verwirrung, die Unschärfe nicht – und überdehnt die Metapher vom 'Fieber', das die Stadt befallen haben soll", befindet hingegen Christoph Funke im Tagesspiegel (5.06.2010). Der Inszenierung kann er einiges abgewinnen: "Bei der Uraufführung im Studio des Maxim-Gorki- Theaters entfesseln Regisseurin Anna Bergmann und Bühnenbildnerin Natascha von Steiger pralles Theater, ziehen alle Register, um dem Text die theoretische Überfrachtung zu nehmen. Es beginnt wie im Jahrmarktstheater mit Darstellern als mechanisch betriebenen Puppen, und dann wird der Raum, bevölkert von ausgestopften Tieren, bis in die sonst verschlossenen Seiten hinein detailversessen erobert."

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