Im Innern des Fleischwolfs

von Tobias Prüwer

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© R.Arnold/ Centraltheater

Leipzig, 5. Juni 2010. Besudelung mit Ansage: Bevor die Zuschauer in der Leipziger Skala den Ort der Inszenierung betreten, werden Plastik-Capes gereicht. Die sollten sie anfangs für alle Fälle überstreifen, lautet der Rat. Dann findet man sich in eine düstere Unterwelt aus einem vertikal aufgetürmten Autowrack, einer Batterie von Monitoren und transparenten Gummi-Vorhängen versetzt. "Man" ist rein singulär zu verstehen: Ein Publikum im klassischen Sinn gibt es nicht, ist weder als Masse noch Menge greifbar. Hier wandeln Vereinzelte umher, laufen alle vorsichtig in glotzenden Suchbewegungen durcheinander.

Nach und nach erst wird etwa klar, dass die unentwegt durch die postapokalyptische Landschaft irrende Frau doch einem Ziel folgt: Als Souffleuse ist sie in punkto Mobilität schwer beschäftigt. Der ganze Raum bildet die Bühne dieser Inszenierung, und die Besucherin tappt im Begehren nach Übersicht mit etwas Pech in eine Schaumkuss-Kanonade. Clowneske Zwillingsbrüder bedienen eine entsprechende Abwurfvorrichtung und jagen schließlich ein paar Zuschauer umher, die nach dieser anfänglichen Publikumsbeschmutzung körperlich immerhin in Ruhe gelassen werden.

Kein Entrinnen

"Unfun" bildet das Schlusslicht der so genannten, als Trilogie angelegten"skandinavischen Misanthropie" des norwegischen Schriftstellers Matias Faldbakken. Die Mutter der Sudel-Zwillinge und Hauptfigur ist Lucy. Die Anarchistin mit afrikanischen Wurzeln versucht ihren Exmann Slaktus auf Distanz zu halten, der fürs grobe Zurichten schwärmt.

Als Gewaltintellektueller wähnt sich dieser im Besitz guter Gründe für seine brutalen Exzesse, statt plump zu quälen. Er entwickelt ein blutiges Computerspiel, zieht seine Familie und andere Figuren mit hinein und irgendwann wird das Gemetzel auch real. Die Story entwickelt sich zum brutalen Mahlstrom, in dem es um Sinn nicht geht. Man muss das Buch daher nicht kennen, um die Inszenierung verstehen zu wollen. Aus dem tödlichen wie opaken Handgemenge gibt es kein Entrinnen, ihm ist mit Vernunft nicht beizukommen. Das Hauen und Stechen ist rein ritualisiertes Handeln in einem Universum des permanent herrschenden Ausnahmezustands.

Die einzelnen Rollen sind in der Folge und dem Ineinandergreifen der Szenen und Tableaus bedeutungslos: Wer kann, kopuliert, knüppelt, killt. Die anderen müssen erleiden. Hier geht es um nicht mehr - aber auch nicht weniger - als ums nackte (Über-)Leben. Der dargestellte Menschenaufwurf ist ohne Spur von sozialem Sinn, frei von Liebe oder Mitgefühl, sogar das Gewaltausüben erfüllt nicht Lust, noch Spaß, ist Selbstzweck. Die Quintessenz lautet wohl: Der Mensch kann nicht nicht in Gesellschaft leben, und sei es noch die grausamste; also machen wir halt das Beste daraus. Das gelingt Mirko Borscht mit dieser Inszenierung nicht.

Fragmentiert, nebulös, hermetisch

Einmal mehr hat sich der Regisseur in den Steinbrüchen von Hoch- und Popkultur bedient, um daraus eine verdichtete Collage zu machen. Durch den Fleischwolf werden mythische und religiöse Elemente gedreht, Anklänge an "Medea" und die Sage von Romulus und Remus sind genauso zu finden, wie Anspielungen auf verschiedene Opferzeremonien sowie diverse postmoderne und Pop-Diskurse - Postkolonialismus, Gender, Anderssein. Ob heilig oder profan: In dieser fragmentierten Inszenierung scheint alles seinen nebulösen Platz zu finden und bietet in seiner spielerischen Hermetik zunächst ein visuelles Vergnügen, wenn man nicht nur Liebhaber von Strumpfhosenhelden in Klassikerinszenierungen ist.

Wie das anfänglich befürchtete Mitmachtheater gottlob ausbleibt und die Zuschauer nach einigen Positionswechseln sich irgendwo im Raum platzieren, stockt allmählich der Rhythmus der Inszenierung. Die Bilder mit fantastischer Wucht, manch diffiziler Verfremdungseffekt und kluge szenische Überlagerung verlieren sich in Getöse und Gedöns, bis auch der letzte Protagonist von der manischen Matriarchin Lucy mittels Nabelschnur erdrosselt wird.

Pädagogischer Schwenk

Und da der Wille zum anrührenden Geheimnis und zur Konfrontation Borscht offenkundig irgendwann verließ, wird "Unfun" in der Schlussphase zum Erklärstück: Die Schauspielenden fallen aus ihren Rollen und debattieren vulgär-nietzscheanisch über die Umwertung aller Werte und die Verfallszeit gesellschaftlicher Tugenden.

Der pädagogische Schwenk, mit dem Borscht die in der ethischen Distanz bestehende Ausgangslage seiner Inszenierung ad absurdum führt, gipfelt im Versöhnungskitsch. Alle Toten stehen wieder auf und winken Lucys Singsang über die alles neumachende, aufgehende Sonne flankierend ins Publikum. Plötzlich finden sich dann doch Bühne und Zuschauerraum getrennt, herrscht Harmonie diesseits und jenseits der vierten Wand - bis auch noch ein "The End" eingeblendet wird, um die in vielen Facetten gekonnt streitbare Inszenierung vollends einem popkulturellen Wischiwaschi zu opfern.

 

Unfun (DEA)
von Matias Faldbakken
Regie: Mirko Borscht, Raum: Susanne Münzner, Bühne: Emanuel Schulze, Kostüme: Elke von Sivers, Video: Kai Schadeberg, Dramaturgie: Johannes Kirsten.
Mit: Artemis Chalkidou, Edgar Eckert, Andreas Keller, Thomas Lawinky, Paul Matzke, Emma Rönnebeck, Melanie Schmidli.

www.centraltheater-leipzig.de

 

Krtitikenrundschau

Wie der Dunkelhäutige Taiwo als amoklaufender Antagonist mit der Säge alles niedermetzelt, oder wie er die Zwillinge Atal und Wataman den rassistischen Rollstuhlfahrer Dan Castellaneta allein durch ihre Anwesenheit quälen - und das alles ohne jegliche Moral oder politische Korrektheit, "das ist brutal, widerlich, schonungslos. Und genauso ist Borschts Inszenierung", so Nina May in der Leipziger Volkszeitung (7.6.2010). "Die Atmosphäre erinnert an einen Science-Fiction-Film und erzielt gräuliche Wirkung. Darüber hinaus hat dieses Tableau von Faldbakkens Gesellschaftsporno großes kritisches Potenzial, gerade in der Verweigerung einer Zeigefinger-Anklage." Während Mareike Mikats Skala-Inszenierung von Faldbakkens "The Cocka Hola Company" in der Spielzeit 2008/09 das Thema der gesellschaftlichen Pornografisierung satirisch aufbrach, indem sie übertrieb und die Darsteller sich selbst karikieren ließ, "überträgt Borscht die alptraumhafte Welt des Romans beinahe Eins-zu-Eins auf die Bühne. Beides wird dem Stoff gerecht, der Rest ist Geschmackssache."


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