Verpönt, anarchisch, spektakulär

von Sascha Just

New York, Juni 2010. Chaos zelebrieren, Selbstbilder hinterfragen – das ist es, was derzeit in der New Yorker Off-Szene betrieben wird. Passend für eine Zeit, in der Amerika von Ökologie bis Ökonomie mit Krisenbewältigung beschäftigt ist.

Selbstbilder hinterfragen? Zum Beispiel so: Zwei weiße Plastikbabys an die nackten Plastikbrüste geheftet, die rollenden Augen kreisrund ummalt und das Gesicht kohlschwarz geschminkt – Mammy tanzt sich schnaufend und knurrend in Ekstase. Das Publikum, in der Obama-Ära an positive Bilder von Afro-Amerikanern gewöhnt, ist entgeistert. In seinem ersten Erfolgsstück "Neighbors" zerrt Branden Jacob-Jenkins verdrängt geglaubte Figuren der Minstrelshow – dieser ausgedienten Spielform, in der sich Schwarze vom weißen Publikum geforderte Klischees ins Gesicht malen – auf die Bühne des Public Theaters, wo Niegel Smith das Stück inszeniert hat: Mammy, die geistig begrenzte Topsy mit den so putzig abstehenden Zöpfen, den Hüften schwingenden Buck im Strohröckchen und Coon, unterwürfigster aller Bediensteten.

Beyonce als Minstrelstar?

Dunkle Schminke tragen die Minstrelspieler auch im Alltag fröhlich zur Schau; und genau so ziehen sie ins Nachbarhaus des afro-amerikanischen Professors Richard und seiner weißen Frau Jean – zu Richards Entsetzen. Wie ein beschämender Zerrspiegel karikieren die Minstrelspieler Richards Anpassung an weiße Normen. In rasanten Showeinlagen entlarven sie Diana Ross, Michael Jackson und sogar Beyonce als Abkömmlinge ihres verpönten Genres.

Und Richard, der sich seiner sicher gefühlt hatte, stürzt in Fragen über seine Identität, an der seine Ehe zerbricht und für die "Neighbors" geschickter Weise keine Antworten gibt. Das Spiel mündet in einen, scheint's, unlösbaren, bewegenden Kampf zwischen Richard und Coon, während die anderen Darsteller des herausragenden Ensembles dem Publikum fragend in die Augen blicken.

whateverheavenallows_10-6_lizliguori
Radiohole: "Whatever. Heaven allows"
© Liz Liguori

Freibier und Kulturmansch

Auf ganz eigene Weise vergangenheitsbewußt geht es bei Radiohole, der Punkband der Experimentaltheater, zu. "Pretending to be German since 1998" – nur zu gern mokiert sich Radiohole über amerikanische Hochachtung für europäische Kunstauswürfe. Zu Beginn ihrer Vorstellungen teilen die Spieler regelmäßig Freibier aus und zermalmen dann alles, was als Kulturgut gelten könnte. Mit ihrer neuen Produktion "Whatever. Heaven allows" im Performance Space PS 122 im East Village zitiert und zerstört das Ensemble Douglas Sirks Romanze zwischen Gärtner und High-Society-Lady "All that heaven allows" und John Miltons Epik über den freien Willen "Paradise Lost".

Die Inszenierung ist aus dramatischen Momenten der beiden Klassiker konstruiert. Dazwischen schwirren deutsch gesprochene Dialogfetzen von "Angst essen Seele auf", den Fassbinders als Hommage zu Sirks Film konzipiert hatte. Zuschauer, denen die Referenzen fremd waren, konnten sich immerhin über Einblicke in die spießige Vorstadtmentalität Amerikas der fünfziger Jahre amüsieren, viel mehr noch aber über das perfekt gestaltete Durcheinander.

Die Darsteller deklamieren, singen, tanzen haltlos und rollen innigst umklammert übereinander. Sake-Gläser fliegen, Bilder von Himmel und Erde flackern über die Videoleinwand, und hier und da hüpft ein Reh vorbei. Unklar bleibt bei all dem Klamauk, ob sich Radiohole mit den sinnigen und unsinnigen Bezügen über selbstverliebtes Akademikerdenken lustig macht oder sich in ihr Jonglieren mit dem eigenem Insiderwissen verguckt hat.

Sex auf See
Für die Satire "North Altantic" des großen Vorbilds von Radiohole, der Wooster Group, hat dagegen das brave Rodgers and Hammerstein Musical "South Pacific" Pate gestanden. In "North Atlantic", das das Kult-Ensemble immer wieder produziert, ist nichts so, wie es scheint. Regisseurin Elizabeth LeCompte hatte für die Neuinszenierung im etwas sterilen Baryshnikov Arts Centers ein Set aus Gerüst und steiler Rampe bauen lassen, das das Innere eines Schiffes darstellen soll.

Zwischen Metallstäben bellen Militärs mit bedeutsamer Miene einander Anordnungen zu, leiten leere Botschaften durch Funkgeräte ins Nirgendwo und brechen unerwartet in Musical-Hits aus. Fünf Funkerinnen – Francis McDormand in Höchstform – entheddern ein Magnetband, üben sich im Synchrontanzen und planen generalstabsmäßig sexuelle Aktivitäten. Mehr ist nicht zu tun auf offener See am Ende des Kalten Krieges, bis zum Erstaunen der hormongesteuerten Mannschaft das Schiff sich als Simulationsraum für Militärspiele entpuppt.

Und dann? Dann spielt die Mannschaft den Kampf um die fiktive, undefinierte Mission umso intensiver weiter. Handfeste Verhöre ausländischer Spione – selbstverständlich aus der eigenen Reihe rekrutiert –, sinnbefreite Schießereien, lauthalser Soldaten-Jargon und die ständige Frage "wer mit wem?" verheddern Realität und Simulation. Der gesamte Kalte Krieg und die Militärmacht der USA scheinen schließlich bloß noch Illusion. "North Atlantic", das James Strahs für die Wooster Group geschrieben hat, ist keines ihrer radikaleren Stücke, aber eines, in dem sich das Ensemble an der eigenen Spiellust austobt.

Anarchisch unreif
Spieltrieb beweisen auch Les Freres Corbusier mit "Bloody Bloody Andrew Jackson". Treu ihrem Motto – anarchisch, unreif, spektakulär – inszenieren sie den siebten amerikanischen Präsidenten Andrew Jackson als ersten Popstar der neuen Welt. Zu weichgespülter Rockmusik (EMO) singt und tanzt sich Benjamin Walker in der Rolle Jacksons durch die Präsidenten-Biographie.

Les Corbusier fahren vor bewundernswert skurriler Dekoration inklusive in Plastik gehüllter Elchköpfe ein Gruselkabinett an Karikaturen auf, vom schwulen, Süßigkeiten futternden Folgepräsidenten van Buren zu der lüsternen, im Rollstuhl gefangen Erzählerin, die Jackson prompt erschießt.

Slapstik-Witze, Groupies und Leichen pflastern den Weg des überzeugten Populisten Jackson. Auf dem Schlachtfeld zu Hause, im Oval Office gelangweilt; laut Corbusier hat Jackson die Ausbreitungspolitik des jungen Amerikas nahezu eigenhändig erledigt. Der Pfad der Tränen wird, verwunderlich banal, auf den persönlichen Konflikt von Jackson mit seinem einen Indianerfreund reduziert. Trotz aller Untaten verliert dieser Jackson jedoch nie seinen Sex-Appeal, und so wird der Mythos des Präriehelden nur angeschlagen, nicht gänzlich demoliert.

Dennoch ist auch dies eine Inszenierung, die sich in den gegenwärtigen Trend der Off-Theaterszene fügt: Es gilt, das Chaos zu zelebrieren, um so Selbstbilder hinterfragen zu können.

 

Sascha Just ist Filmemacherin, Managing Editor des New Yorker Theatermagazins Western European Stages und Doktorantin im Bereich Theaterwissenschaften am Graduate Center der City University of New York.

 

Mehr lesen über US-amerikanisches Theater? Das Bielefelder Theater hat in den letzten zwei Jahren mehrfach amerikanische Dramatik präsentiert: auf den Festivals Voices from Underground Zero (Oktober 2008) und Voices of Change (April 2010), wo u.a. "The Change" von Branden Jacob-Jenkins gezeigt wurde.