Eine Ehrenrunde für die Menschenzeiger

von André Mumot

Braunschweig, 10. Juni 2010. Dieses Land, so wird geunkt, hat uns etwas voraus. "Schaut mal lieber besonders gut hinl!", sagen die Theaterformen, denn Argentinien hat ihn bereits 2001 erlebt, den Staatsbankrott, den totalen Zusammenbruch der Wirtschaft. "Mit mehreren Stücken aus der überaus lebendigen Theaterszene aus Buenos Aires werfen wir einen Blick in eine mögliche zukünftige Gesellschaft nach der Krise", stellt das Festival in seiner Ankündigung fest.

Klingt beunruhigend und konstruktiv zugleich – also blättert man das Programm durch und stößt auf einen Titel, der all das kompakt zusammenzufassen scheint: "El Desarrollo de la Civilizacíon venidera - Entwicklung einer künftigen Zivilisation" hat Regisseur Daniel Veronese seine Version von Ibsens "Nora" genannt. Na bitte: Nichts wie hin und nachschauen, was sich lernen lässt.

Die "Szenen einer Ehe" sind rasch abgehakt

Ein Titel dieser Sorte lässt natürlich auf harte Konfrontationen mit sozialer Wirklichkeit schließen. Und darauf, dass der alte Norweger mit dem langen Bart lediglich als Gedankenanstoßer zu dienen hat. Was sich auch zu bestätigen scheint, als Nora und Torvald, der hier Jorge heißt, am Anfang fröhlich (und in schwindelerregend geschwindem Spanisch) davon berichten, wie sie gerade Bergmanns "Szenen einer Ehe" im Kino gesehen haben. Das ist aber rasch abgehakt, und bald schon wird klar, dass Ibsens Stück an diesem Abend in überaus werktreuer Weise und in gänzlich intaktem Naturalismus abgehandelt werden soll.

So bleibt die Mechanik des Plots treulich bestehen: Auch hier erlebt eine junge Frau den Zusammenbruch ihrer mühsam zusammengehaltenen Welt, weil sie sich per Unterschriftenfälschung Geld beschafft hat, um ihrem Mann den Erholungsurlaub zu finanzieren. Und auch diese Frau muss schließlich einsehen, dass sie ein "Recht hat auf ein eigenes Leben" und sich nicht unentwegt erniedrigen lassen muss von ihrem selbstherrlichen Jorge, den Carlos Portaluppi als charismatisch schwerbäuchigen Südamerika-Chauvi gibt.

Wo die Bühnentüren klappern

Maria Figueras Nora ist dabei knappe anderthalb Selbstfindungs-Stunden lang ein gutherziges, aufgekratztes Geschöpf in engen Jeans, das in juveniler Redseligkeit schnattert und albert und tanzt und kokettiert und heimlich Bonbons kaut, die ihr der Gatte streng verboten hat. Und wenn sie dann ins Straucheln kommt, steckt sie die Finger in den Mund, pult mit Sorgenfalten auf der Stirn die klebrigen Reste aus den Zahnzwischenräumen und steigert sich in fiebrigen Aktionismus hinein. Sie fleht und weint, umgarnt ihren Erpresser und küsst ihrem Mann in höchster Not die Hände. Und schließlich gibt sie – erstaunt über sich selbst – auf, zerbricht zitternd und versucht die Trennung.

Großartig ist diese Schauspielerin, wie überhaupt das ganze Ensemble großartig ist in der Selbstverständlichkeit, mit der es sowohl psychologische Glaubwürdigkeit demonstriert, als auch das offenkundige Fehlen einer übergeordneten Interpretation. Dass Veronese keinen Versuch unternommen hat, Ibsens Motive von finanziellen und sozialen Abhängigkeiten in diskursiver Weise auf gegenwärtige (oder gar zukünftige) Verhältnisse zu beziehen, ist dabei vielleicht noch zu verschmerzen. Schwerer wiegt der Mangel an szenischer Originalität, der die Darsteller boulevardesk durch hölzerne Türen laufen und durch ein banales Set aus angeranzten gelben Wänden und türkisfarbenen Fliesen streifen lässt, das von einem indifferenten Licht nuancenlos beschienen wird. Hier gibt es keine Bedeutungsverdichtungen, keine mehrwertigen Bilder, keine Idee einer gesellschaftlichen Verortung.

Spannungsvolle Ungewissheit

Es bleibt, immerhin, die Schauspielerei. Da ist etwa der Krogstadt des Roly Serrano, der als ältlicher Blousonträger mit Goldkettchen strahlend aus einer tristen Erschöpfung erwacht, als ihm die eindrucksvoll abgekämpfte Witwe Christina (Mara Bestelli) anbietet, ihre alte Jugendliebelei wieder aufzunehmen und dafür das Erpresserhandwerk an den Nagel zu hängen. Und da ist, vor allem, die finale Auseinandersetzung zwischen Nora und ihrem Mann, die als schmerzliche Annäherung in spannungsvoller Ungewissheit stecken bleibt. Der Macho und das Mädchen kämpfen miteinander, belauern sich, lassen einander nicht los. Warum? Weil ihre Darsteller es spielen können, weil sie aus Nora und ihrem Mann keine Sinnbilder machen für irgendwas. Schon gar nicht für die Krise. Sie sind einfach nur da.

Es ist also schlichtes psychologisches Theater, das hier ganz selbstgenügsam seinen Protagonisten erlaubt, eine Ehrenrunde nach der anderen zu drehen. Eines aber können auch diese Menschenzeiger uns bei aller Liebe nicht weismachen: Dass die künftige Zivilisation sein wird wie Kopenhagen anno 1879.

 

El Desarrollo de la Civilizacíon venidera/ Entwicklung einer künftigen Zivilisation
Nach "Nora, ein Puppenheim" von Henrik Ibsen
Regie: Daniel Veronese, Bühne: Adaption des Bühnenbildes von Budin Inglés, Ariel Vaccaro, Regieassistenz: Felicitas Luna. Mit: Maria Figueras, Carlos Portaluppi, Mara Bestelli, Ana Garibaldi, Roly Serrano.

www.theaterformen.de

 

Mehr zu Nora-Inszenierungen? Elmar Goerden verabschiedete sich mit ihr von Bochum, Matthias Feldbakken schrieb sogar eine eigene Ibsen-Variation.

 

Kritikenrundschau

In seinem Festival-Rundblick schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (17.6.2010): "Da es unmöglich ist, die mitteleuropäische Erfahrung mit einer formal wie inhaltlich extrem vielfältigen Theaterkultur auszublenden, verlieren Produktionen, die in ihren ursprünglichen Zusammenhängen anders, neu und frech wirken mögen, hier ihren Reiz." So auch bei "El Desarrollo de la Civilizacíon venidera": "Und dann kommt es, dass die Adaptionen von 'Hedda Gabler' und 'Nora', die der argentinische Regisseur Daniel Veronese in Braunschweig zeigte, im Vergleich zu zeitgenössischem Theater in Deutschland wie gefühlspastose Provinzschmiere der biedersten Art daherkommt, und dass die intimen Performances von Boyzie Cekwana über den südafrikanischen Rassismus im riesigen Festzelt wie ein zäher Abklatsch westlicher Trashkultur wirkt."

 

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