Unsere Elf für Afrika

Berlin, 11. Juni 2010. Die WM 2010 beginnt und unsere Mannen um Neukapitän Philipp Lahm erscheinen uns als große Wundertüte: Werden alle fit sein (Marcell Jansen?) und in Form (Miroslav Klose?)? Sind sie schon hinreichend erfahren (Bastian Schweinsteiger?) oder doch zu jung (Mesut Özil?)? Kurzum: Sind sie reif für den Titel?

Die bangen Fragen haben uns nach einer Alternative Ausschau halten lassen. Wir brauchen unsere "Elf für Afrika", auf die wir uns hundertprozentig verlassen können, die spielerische und kämpferische Qualität mitbringt. Es sind Männer und Frauen, die aus der Mitte des Theaters in die Tiefe des Raumes gehen, die das ganze Spielfeld beackern, die den Rasen umpflügen. Sie haben ihre Fußballaffinität, mal mehr, mal weniger, für uns allemal hinlänglich unter Beweis gestellt. Sie sollen unseren Titel holen!

Spielsystem 4-5-1


Tor

1. Peter Handke

Schriftsteller

Bringt eine für Torhüter unabdingbare Qualität ein: Größe. Interpretiert das Torwartspiel in moderner Weise aggressiv und offensiv ausgerichtet. Gilt als Kenner unseres spielstarken Gruppengegners: Serbien ("Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien", 1996). Wichtig für die K.O.-Spiele: Er weiß um die "Angst des Tormanns beim Elfmeter" (1970) und kann sie überwinden. Einen deutschen Pass braucht der Weltbürger für unsere Elf nicht.

Verteidigung

2. Marc Becker

Dramatiker und Hausregisseur am Oldenburger Staatstheater

Mit Wir im Finale (2004) hat er die Richtung vorgegeben: Nur der Titel zählt. Besitzt Gespür für Fanchöre und das nationale Pathos, das dem Fußballspiel anhaftet. Ein Verteidiger, der "über den Kampf zum Spiel" finden kann – und zurück.
 
3. Bruno Knust

Regisseur, Theater Dortmund

Jogi Löw schätzt den Bayern-Block. Unsere Elf für Afrika dagegen setzt auf den Ruhrpott (u. a. mit dem Oberhausener Christoph Schlingensief). Als Regisseur der Revue zum 100. Geburtstag von Borussia Dortmund Leuchte auf mein Stern Borussia beseelt Knust die Mannschaft mit dem Geist der Unbesiegbarkeit, für den das Dortmunder Westfalenstadion in der Nationalmannschaftsgeschichte steht. Sein Einsatz reanimiert auch die seligen Zeiten, da Pott-Kicker noch spielentscheidend in die Weltmeisterschaft eingriffen: 1954, Bern: "Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt und Toooor!" Helmut Rahn kam von Rot-Weiß Essen.

4. Jürgen Flimm

Intendant der Berliner Staatsoper und Festivalmacher

Geprägt durch seine Freundschaft mit Otto Rehhagel alias Rehakles muss er das deutsche Abwehrbollwerk zusammenhalten. Der Routinier bringt Turniererfahrung von der Ruhrtriennale und den Salzburger Festspielen mit. Als künftiger Direktor der Staatsoper schlägt er die Brücke zu den gesangsfreudigen Fangruppen, den Ultras, aber auch zur Politprominenz um Angela clap-your-hands Merkel. Harmoniert prächtig mit der Offensivkraft Schlingensief.

5. Heribert Fassbender

User im nachtkritik-Forum

Nach dem Ende seiner Kommentatoren-Karriere bei der ARD ist er in seiner zweiten Karriere als Kommentator bei nachtkritik.de zum schlampigen Talent avanciert: sporadisch mit beherzten Attacken gegen die Kritiker und Kritiker-Kritiker glänzend, dann wieder monatelang nicht gesehen. Bei diesem Turnier gilt es: Die "Wahrheit liegt auf dem Platz"; Regenschlachten statt Schlammschlachten! Es werden Flankenläufe über links erwartet.

Mittelfeld

6. Thomas Brussig

Schriftsteller

Das Hirn der Mannschaft. Mit seinem Monolog "Leben bis Männer" hat er profunde Kenntnis des Trainerberufs nachgewiesen, in der Litanei "Schiedsrichter Fertig" Know-how in Sachen cholerische Pfeifenmänner. Jetzt soll er sein Wissen als Kapitän des Teams auf den Platz tragen. In der Schaltzentrale im defensiven Mittelfeld möge er in die Fußstapfen von Guido "Diego" Buchwald, Dieter Eilts oder Torsten Frings treten und ordentlich "abräumen" bzw. dem deutschen Spiel "Stabilität und Struktur verleihen".

7. Dirk Laucke

Dramatiker und Regisseur

Ein Mann für die Doppel-Sechs in ihrer Ost-Block-Variante (Brussig aus Berlin/Hauptstadt der DDR, Laucke aus Schkeuditz bei Halle/Saale). Hier muss sich etwas verspätet das Versprechen von Franz Beckenbauer anno 1990 einlösen, dass die deutsche Nationalmannschaft durch den Zugewinn der ehemaligen DDR-Spieler auf Jahre hinaus unbesiegbar sein werde. Obgleich von eher schmächtiger Statur wie weiland Matthias Sammer hat Laucke spätestens mit seinem Hallenser "Ultras"-Fanprojekt bewiesen, dass er "auch dorthin geht, wo's weh tut".

8. Volker Spengler

Schauspieler, Volksbühne Berlin

Jede Mannschaft braucht einen Malocher, jemanden, der Filigrantechniker vom Schlage eines Cristiano Ronaldo abgrätscht. Wichtiger aber noch: Jede Mannschaft braucht den Mann mit den zwei mal zwei Silben in Vor- und Nachnamen, damit der Ruf der Fans erschalle: "Vol-ker Speng-ler Fuß-ball-gott!"

9. Moritz Rinke

Schriftsteller

Kein großes Turnier ohne spielerisch versierte Feuilletons von Moritz Rinke im Berliner Tagesspiegel; kein Freizeitkick der deutschen Autorennationalmannschaft ohne seine flinken Dribblings. Mit seiner "Nibelungen"-Bearbeitung für die Wormser Nibelungenfestspiele 2002 hat er zudem gezeigt, dass er vor "deutschen Tugenden" nicht zurückschreckt.

10. Christoph Schlingensief

Gesamtkünstler

Unser Topmann für Afrika. Kennt die Gegend wie seine Westentasche seit der Gründung des Operndorfs in Burkina Faso (ein paar hundert Kilometer nördlich von Südafrika und Nachbarland unseres Gruppengegners Ghana). Genialer Ideengeber wie einst Günter Netzer. Ein Mann, der "aus der Tiefe des Raumes" das Spiel initiiert. Dürfte sich bei normalem Turnierverlauf in die vorderste Riege der WM-Stars spielen: auf Augenhöhe mit Lionel Messi, Wesley Sneijder und Mesut Özil.

Sturm

11. Elfriede Jelinek

Schriftstellerin, Nobelpreisträgerin

Glänzende Offensivkraft. Hat mit ihrem "Sportstück" (1998) schonungslos den anstehenden Kraftakt dieses Turniers vorweggenommen: Den Gegner niederkämpfen, bekriegen, überrennen, alles dem Sieg unterordnen, dopen bis zum Umfallen, Gras fressen, Blut lecken, nicht einknicken, draufhalten, gegenhalten, durchhalten, elf Freunde sollt ihr sein etc. Beseelt von der chorischen Kraft ihres Uraufführungsregisseurs Einar Schleef, spielt die Edelsolistin schon allein mit ganzer Mannschaftsstärke: Eine für alle, alle für eine, alle für alle!

Trainer:

Franz Beckenbauer

Allrounder

Hat die Weltmeisterschaft bereits als Spieler (München, 1974), Trainer (Rom, 1990) und Funktionär (die Welt zu Gast bei Freunden, 2006) gewonnen. Ein Titelgewinn mit der nachtkritik-"Elf für Afrika" 2010 dürfte seine Karriere krönen: Impossible is nothing.

(Christian Rakow)

 

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