Wie schön das ist: Betroffenheit

von André Mumot

Kassel, 12. Juni 2010. Ach, guck! Da ist es ja schon wieder, das Stück der Stunde. Wir werden es jetzt öfter sehen, landauf, landab, das ist klar. Beweist es doch, dass ein bisschen schwanger nach wie vor nicht geht, ein bisschen unbequem aber durchaus. Schimmelpfennigs "Der Goldene Drache", jüngst mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet, schlägt jetzt in Kassel auf und hat sich gar nicht groß verändert, seit es beim Theatertreffen reüssierte und auf 3sat ausgestrahlt wurde. Was sich auf dieser Studiobühne abspielt, sieht der Burgtheater-Inszenierung des Autors in seiner ganz aufs Wesentliche reduzierten Schlichtheit jedenfalls immer wieder zum Verwechseln ähnlich.

Bei Regisseur Maik Priebe muss das Ensemble für seine Soli und Duette allerdings nicht von hinten nach vorne kommen. Es sitzt, neutral gekleidet, bereits dicht vorm Publikum auf einer Stuhlreihe, sodass die einzelnen Schauspieler sich nur zu erheben oder im Sitzen einander zuzuwenden brauchen, wenn sie dran sind. Das tun sie dann auch und machen ganz schnell klar, dass dieser Abend ganz und gar ihnen gehört.

Blutspuren aus Lippenstift

Man verfällt diesen unprätentiösen Leuten sehr schnell, dem Charme, mit dem sie einander lächelnd anschauen und ihre minimalen Requisiten einsetzen: eine Bierdose, einen Damenschuh, eine winzige Spieluhr und eine rote Rohrzange zum unsachgemäßen Zähneziehen.

© Nils Klinger
© N. Klinger

Ganz selbstverständlich löst sich die "Frau über Sechzig" (Karin Nennemann) als schwangeres Mädchen die Haare und steckt sich die Spange ins Dekolletee, wenn sie mit ihrer Jugend vor dem Großvater kokettiert, den "Der junge Mann" (Björn Bonn) ohne verstellte Stimme spielt und nur dadurch markiert, das er sich mechanisch eine Handvoll Mehl auf die Haare wirft.

Derselbe Björn Bonn bricht dann etwas später alle Herzen als frohlockend lächelnde und schamhaft tänzelnde Grille, die sich von derselben Karin Nennemann als hanseatisch roher Ameise mit einem Lippenstift versorgen und auf den Strich schicken lässt. Da nimmt dann die Grille, die auch eine ausgebeutete junge Chinesin ist, den Lippenstift und malt sich Blutspuren über die Beine und vor sich eine kleine Lache auf den Boden. Die Sache wird also unbequem. Ein bisschen wenigstens.

Sauerscharfe Komödie
Nein, im Staatstheater Kassel stellt sich klar heraus, dass "Der goldene Drache" vor allem das Zeug zur geistreichen Komödie hätte, zum bitteren Lustspiel über die Oberflächlichkeit, mit der wir Europäer die globalisierte Welt betrachten und das uns Exotische verklären: Wie die Flugbegleiterin (Matthias Fuchs), die das beste asiatische Essen ihres Lebens in San Francisco verzehrt hat und sich nicht klarmacht, mit wie viel Blut und Tränen die sauerscharfe Suppe hergestellt wird, die sie gerade verspeist.

Aber dann legt ihr Schimmelpfennig den Zahn eines illegal in Deutschland schuftenden Chinesen in eben diese Suppe, und stellvertretend für uns alle kostet sie sein Blut. Im weiteren Verlauf sind Text und Bühne voll mit kitschiger Moral und wattiger Gewalt und einer Küchensoziologie, die uns damit beruhigt, dass die Kunden von chinesischen Zwangsprostituierten eben frustrierte deutsche Prolos sind, die sich über ihr Alter ärgern oder darüber, dass ihre Frau sie gerade verlassen oder ihre Freundin ihnen ein Kind angedreht hat. Nicht auszudenken, wenn diese Freier irgendwie anders wären – sozial und psychologisch unberechenbar zum Beispiel – man könnte glatt ins Grübeln kommen.

Zuckersüße Opferworte
Aber es wird immer schlimmer, denn der verblutete Chinese, Bruder des missbrauchten Grillenmädchens, hält jenen furchtbar sentimentalen Monolog darüber, wie er als schwärmerische Leiche über den Gelben Fluss endlich wieder nach Hause schwimmt. Zum Glück spricht Christina Weiser die zuckersüßen Opferworte nicht mit tränenaufgelöster Stimme, sondern ganz ruhig, mit einer stillen, schönen Abgeklärtheit, mit der das gesamte Ensemble besticht. Es kommt einem nah damit, man hat es gern. 

Aber es ist eben auch die menschelnde Sanftheit dieser Inszenierung, die Schimmelpfennigs bravourös gebautes Stück so zeigt, wie es wohl gemeint ist: Es stimmt mal heiter, mal betrübt, dampft das Komplexe ein und bestätigt, was wir schon immer über uns und die anderen zu wissen glaubten. Deshalb kann auch noch so viel geschändet und noch so viel Blut versprüht und verspuckt werden – niemand läuft Gefahr, ernsthaft aus der Fassung zu geraten. Am Ende ist auch in Kassel die Betroffenheit ein warmes, mildes Gefühl. Es wird sehr nachdrücklich applaudiert, was die großartigen Darsteller freut und die Applaudierenden ebenfalls.

Ein sehr, sehr schöner Abend ist das, in der Tat. Und das ist, mit Verlaub, ein gewaltiges Problem.

 

Der Goldene Drache
Von Roland Schimmelpfennig
Inszenierung: Maik Priebe, Bühne und Kostüm: Ulrike Obermüller, Dramaturgie: Michael Volk.
Mit: Björn Bonn, Karin Nennemann, Christina Weiser, Matthias Fuchs, Daniel Scholz.

www.staatstheater-kassel.de

 

Alles über Roland Schimmelpfennigs mit dem Mülheimer Dramatikerpreis 2010 ausgezeichnetes Stück auf nachtkritik-stuecke2010.de, auch die Nachtkritik von Schimmelpfennigs eigener Uraufführung seines Stückes am Wiener Burgtheater im September 2009.

 

Kritikenrundschau

"Wie viele Mittel, wie viel Schein braucht ein Theater, um Theater zu sein?", fragt Juliane Sattler in der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (13.6.2010). In der kleinen Spielstätte des Kasseler Staatstheaters brauche es bei Maik Priebes Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs "Der goldene Drache" nur wenig: fünf Stühle, fünf Schauspieler, einige Requisiten. Schimmelpfennig arbeite nicht nur "mit Brecht'scher Verfremdungs-, sondern auch mit der modernen Zapptechnik einer Vorabendserie: Reingeswitcht, rausgeswitcht". Trotzdem entstehe eine Geschichte: "Ein Globalisierungsmärchen von der Ausbeutung der Migranten und der Gleichgültigkeit im Weltgeschehen". Immer mache die "sich durch das Spielgeschehen hindurchziehende Parabel von der hungernden Grille und der sie ausbeutenden Ameise die Sozialkritik transparent. Mit einem Lächeln und ohne moralinsauer zu sein". Dies sei die Kunst Schimmelpfennigs: "uns in all dem Lachen betroffen zu machen, frieren zu lassen ob dieses Weltbildes". Regisseur Maik Priebe wiederum treibe dem Theater "mit seinem schnell-präzisen Regiestil (...) jede Kulissenhaftigkeit" aus und lasse "dem virtuos agierenden Ensemble bei aller Spiellust auch seine Würde in traurigen, melancholischen Momenten. Theater, wie man es sich öfter wünscht."

"Menschliche Schicksale auf kleinstem Raum, serviert in winzigen Häppchen und garniert mit einem gerüttelt Maß an Sozialkritik" – das kenne man "seit fast 25 Jahren: Sonntagabend, 'Lindenstraße'." Auch Schimmelpfennig zeige in seinem soeben preisgekrönten Stück "Short Cuts, die immer dann ausgeblendet werden, wenn es spannend wird", schreibt Joachim F. Tornau in der Frankfurter Rundschau (23.6.2010). Schimmelpfennigs "Drang, Verfremdungseffekte zu finden, die bis zum Aussprechen von Sprechpausen reichen", sei "geradezu manisch" und stelle obendrein "hohe Anforderungen ans schauspielerische Personal". Priebe falle allerdings selbst "kaum noch etwas ein, und dem Ensemble gelingt das unablässige Springen zwischen Rollen und Perspektiven nur selten, ohne die Figuren der Lächerlichkeit preiszugeben". Eine Ausnahme mache Björn Bonn, "der eine zu Tode geschundene asiatische Sexsklavin mit anrührender Zerbrechlichkeit verkörpert". Gern werde "hochtrabend verkündet", "Der goldene Drache" "handele von der globalisierten Welt", eigentlich gehe es jedoch "schlicht um den All-time-greatest-Hit der westlichen Zivilisation: Ausbeutung bis aufs Blut. In Kassel aber gerät der jämmerliche Tod eines Chinesen (...) zur Slapsticknummer". Das sei dann "nicht einmal mehr 'Lindenstraße'".

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