A Portrait of the Artist as a Young Doll

von Esther Slevogt

Berlin, 27. Juni 2010. Am Anfang ist der Blaumann, den alle tragen: Musiker, Sänger und Schauspieler gleichermaßen. Auch der Videomann, der sich später an die Spur der Spieler heftet, Nahaufnahmen ihrer Gesichter und Aktionen an die Wände links und rechts des Bühnenraums im dritten Stock der Volksbühne schickt, und einmal gar den Sturz einer Socke aus dem Fenster auf den Rosa-Luxemburg-Platz verfolgt. Denn vom Abstürzen handelt dieser Abend.

Vom Abstürzen derer, die einst zum Zweck des Fliegens mit Maschinen vom Boden abhoben und gescheitert sind. Und vom Absturz einer Utopie, die Kommunismus hieß und der man hier am Rosa-Luxemburg-Platz das ganze Wochenende gewidmet hatte. In dessen Kontext kam auch Frank Castorfs Inszenierung eines Musiktheaterstücks von Bert Brecht (und Paul Hindemith) aus dem Jahr 1929 zur Aufführung: "Das Badener Lehrstück vom Einverständnis".

Theater versus Supernannys

Als es entstand, hatte Brecht das Lehrstück soeben erfunden. Zunächst hatte er anhand von Charles Lindberghs Ozeanflug die Dialektik von Technik und Naturgewalt verhandelt, insbesondere die Frage, ob eine solche Tat dem allgemeinen Fortschritt oder doch nur der individuellen Abenteuerlust dient. Noch radikaler spielte dann das Folgewerk vom Einverständnis Individual- und Kollektivinteressen gegeneinander aus, um am Ende provokativ vom Einzelnen die Einwilligung zu seiner individuellen Auslöschung zu verlangen, wenn es das Schicksal des Kollektivs erfordert - womit das "Badener Lehrstück" auch eine Vorstudie zu Brechts berühmt-berüchtigtem Oratorium "Die Maßnahme" ist, das Frank Castorf mit Meg Stuart vor zwei Jahren zur Aufführung brachte - mit Heiner Müllers Variation des Stoffs "Mauser" verschränkt.

© Thomas Aurin
Morgenröte mit Neonröhren © Thomas Aurin

Heiner Müller geistert leise nun auch durch diese 70 Minuten, beziehungsweise dessen berühmtes Motiv vom Zerreißen der Fotografie des Autors aus der "Hamletmaschine". Bloß dass im vorliegenden Fall keine Fotografie des Autors sondern eine lebensgroße Puppe symbolisch zerfleddert wird, die recht lebensecht den Regisseur als jungen Mann zeigt. In einer Zeit also, als noch der Glaube an die welt- oder zumindest kommunismusverbessernden Kräfte des Theaters groß und kräftig war. Ein Glaube, der sich ja, wir wissen es längst, als bedauerlicher Irrtum erwies. Dem Volk seine Verbesserungswürdigkeit vor Augen zu führen hat inzwischen das Privatfernsehen mit seinen Supernannys übernommen. Während das Theater eher unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Mehr als 40 Personen passen zum Beispiel auch gar nicht in den Theaterraum im dritten Stock, womit das Verhältnis Zuschauer zu Akteuren etwa bei 2:1 liegen dürfte.

Exquisites Musiktheater

Wir befinden uns in der Clownsszene, in der Herr Brecht höchst grell die Frage durchexerziert, ob einem Manne geholfen wird, wenn man die Gliedmaßen, die ihn schmerzen, einfach absägt. Das Zuschauervolk sollte sich angesichts dieser brachialen Methoden möglicherweise fragen, ob es nicht sanftere Therapieformen für den Volkskörper gibt, der ja ohne die abgehackten Gliedmaßen auch nicht wirklich lebensfähig ist. Nun sehen wir den Regisseur als junge Puppe, die noch an solche revolutionär-vorsintflutlichen Heilmethoden glaubt und sich von zwei Erinnyen im Blaumann (Kathrin Angerer und Maria Kwiatkowsky) höchst einsichtsvoll zersägen lässt.

Und was sonst noch geschah? Man erlebte ein höchst exquisites kleines Stück Musiktheater hier oben im Dritten Stock der Berliner Volksbühne, das im Wesentlichen mit dem Personal von Castorfs Die Soldaten bestritten wurde. Der abgestürzte Pilot, an dessen Hilferuf die Frage verhandelt wird, ob die Gesellschaft Individualabenteurern gegenüber zu Hilfe überhaupt verpflichtet ist, ob das Volk, das nicht hilft, weil ihm mit dieser Tat ja auch nicht geholfen wurde, roh oder realistisch ist – dieser Pilot, der nicht sterben will und am Ende doch sterben muss, wird von der israelischen Sopranistin Ruth Rosenfeld gesungen und gespielt.

Marxistische Morgenröte

Die drei Monteure, sprich: das Volk, das tümliche, werden von Hans Schenker, Mex Schlüpfer und Axel Wandtke verkörpert, die dabei auch höchst eindrucksvolle Skandier- und Sangeskünste an des Tag legen, einmal gar sehr aggressiv den Deckel des Flügels erklimmen, als gelte es, das Winterpalais zu erstürmen. Auch sonst proben die Drei sehr akrobatisch den Umsturz: auf weißen Plastikstühlen beispielsweise, mit denen sie so lange kippeln, bis die Stuhlbeine abbrechen - ein höchst sinnfälliges, und ziemlich konterrevolutionäres Bild für den Umsturz.

An der Hinterwand glühen rot-orange wie die sprichwörtliche marxistische Morgenröte Dutzende von Neonröhren, vor denen die Blaumänner der Musiker, Sängerinnen und Sänger besonders schön wirken, die der schmale stefanpaul - hinter seinen dick umrandeten Brillengläsern ein leichtes Daniel-Düsentrieb-Flair verströmend - vom Klavier aus dirigiert. Und dann wären da noch Kathrin Angerer und Maria Kwiatkowsky als laszive Clowns, gestreng-somnambule Parteisekretärinnen und hysterische Einpeitscherinnen der Lehren des Leninismus. Schließlich die Erkenntnis, dass dies Lehrstück gar nichts lehren will, sondern vielmehr uns die Sinnlosigkeit allen Fortschrittsglaubens (sei es im historisch-materialistischen oder kapitalistisch-technologischen Sinn) deutlich macht. Und dabei dem leisen Glauben an die Kunst (und die Liebe, von der Ruth Rosenfeld einmal in einem hebräischen Textstück spricht) die allerschönsten Augen macht.

 

Das Badener Lehrstück vom Einverständnis
von Bertolt Brecht
Musik von Paul Hindemith
Regie: Frank Castorf, Musikalische Einstudierung: stefanpaul, Raumidee: Bert Neumann, Mitarbeit Bühne: Jochen Hochfeld, Kostüme. Ulrike Köhler.
Mit: Kathrin Angerer, Maria Kwiatkowsky, Hans Schenker, Mex Schlüpfer, Axel Wandtke und Ruth Rosenfeld.
Chor: Dana Hoffmann, Gesina Krebber, Maja Lange, Helga Bartz, Marian Kalus, Johann Binder, Frank Bauszus, Tobias Fischer.
Orchester: stefanpaul, Martin Curth, Christian Ahrens, Gregor Fuhrmann, Nadja Ladstätter.

www.volksbuehne-berlin.de

 

Zu weiteren Nachtkritiken der Inszenierungen Frank Castorfs (der sich zuletzt mit Nach Moskau! Nach Moskau! ins ehemalige Herz des Kommunismus begab) gelangen Sie über das Glossar.

 

Kritikenrundschau

"Ein harter Brocken, dieser frühe Lehrstück-Brecht, ein Kotzbrocken", findet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (7.10.2010), zeigt sich insgesamt aber angetan. Castorf als zerfleischt werdende Puppe? "Nach den Selbstbildnissen der letzten Inszenierungen, in denen sich Castorf als unverstandener und gekränkter Künstler präsentierte, ist diese ausgesprochen komische selbstironische Nummer vielleicht der Durchbruch."

 

Kommentare  
Castorfs Lehrstück: Idiosynkrasie gegen den Kommunismus
Fast müsste man Esther Slevogt dafür dankbar sein, dass sie sich bei ihrer Idiosynkrasie gegen den Kommunismus diesmal zurückgehalten hat. Weit davon entfernt, ein Befürworter zu sein, ist mir bislang aufgefallen, dass sie normalerweise bei linken Texten bzw. Inhalten ihrer Abneigung freien Lauf lässt. Bei dieser Besprechung beschränkt sie sich auf eine simple Feststellung: die „kommunismusverbessernden Kräfte des Theaters“ hätten sich als ein „bedauerlicher Irrtum“ erwiesen. Von den eigentlichen Leistungen oder Unterlassungen der Akteure erfährt man leider recht wenig.
(...)
Castorfs Lehrstück: editorischer Skandal
Der 1929 aufgeführte Text hiess lediglich "lehrstück". Er unterscheidet sich stark vom ein Jahr später veröffentlichten "Badener Lehrstück..." Die linke Kritik am radikalen Fortschrittszweifel der ursprünglichen Fassung (in Brechts Gesamtwerk allenfalls noch im "Fatzer-Fragment" anzutreffen) veranlasste Brecht u.a., dem solistischen Flieger der Erstfassung nunmehr "Monteure" gegenüber zu stellen - sie dürfen, qua korrekter Klassenzugehörigkeit, weiter fliegen, das reaktionäre bürgerliche Großindividuum hingegen muss die Bühne verlassen. Die frühe Fassung ist selbst in der Berliner/Frankfurter (Aufbau/Suhrkamp) Werkausgabe nicht gedruckt worden, sie findet sich lediglich in der Paul-Hindemith-Werkausgabe des Verlags Schott - ein editorischer Skandal ersten Ranges. In der Erstfassung nämlich singt der Flieger: "dann lerne ich/was ich tat war falsch/denn jetzt lerne ich/daß der mensch/liegen soll und nicht/sammeln höhe noch tiefe/auch nicht geschwindigkeit". Nach diesen Versen wird man im "Badener Lehrstück" vergeblich suchen. Wen es interessiert: Ich durfte 2006 beim Deutschlandradio Köln eine Neuvertonung der Frühfassung durch den kubanischen Komponisten Carlos Farinas aufnehmen.
Castorfs Lehrstück: welche Fassung?
Eine Frage:
Weiß jemand, welche Fassung da jetzt an der Volksbühne gespielt wird? Die Fassung von 1929, die "Lehrstück" heißt oder die aus dem Folge-Jahr? Herr Steckel (Kommentar 2) hat ja kurz auf darauf hingewiesen, daß es erhebliche Unterschiede gibt. Leider ist der Rezension von Frau Slevogt nicht zu entnehmen, um welche Fassung es sich handelt. Sie schrieb ja über das "Badener Lehrstück vom Einverständnis", dessen Inszenierung sie im Juni gesehen hat. Die Volksbühne selbst kündigt in ihrem Spielplan eine Inszenierung unter dem Titel "Lehrstück" an - Premieren-Datum 5. Oktober. Auf der Startseite von nachtkritik.de steht: "Berlin, 6. Oktober. Bertolt Brecht goes Kettensägenmassaker, wenn Frank Castorf sich das Badener Lehrstück vom Einverständnis vornimmt und dabei die Lehren des Leninismus durch die Clownsmühle dreht. Die gestern an der Volksbühne zur Premiere gebrachte Inszenierung wurde bereits im Juni auf dem Kongress Die Idee des Kommunismus gezeigt, wo Esther Slevogt sie sah."
Ich bin verwirrt. Sind das jetzt zwei unterschiedliche Inszenierungen oder hat sich nur der Titel geändert?

(Werte(r) e.e.,
Esther Slevogt hat die neuerdings als "Voraufführung" deklarierte Version jener Inszenierung gesehen, die jetzt auf der Hinterbühne der Volksbühne gezeigt wird. Geändert hat sich v.a. die räumliche Situation. Um welche Fassung des Badener Lehrstücks es sich genau handelt, konnte die Pressestelle nicht sagen, weil der betreuende Dramaturg erst am Montag wieder im Haus sei. Wir bleiben dran...

MfG, Georg Kasch für die Redaktion)
Castorfs Lehrstück: wir bleiben gespannt
Werter Herr Kasch, vielen Dank für Ihre prompte Reaktion. Bleiben wir also gespannt ...
Castorfs Lehrstück: Fassungsfragen
Frau Slevogt muss mit dem Fassungsproblem nicht unbedingt vertraut sein - der betreuende Dramaturg hingegen sehr wohl, er hat mich angerufen - und ich habe ihm, so gut ich es vermochte, auseinandergesetzt, welch grundlegende Differenz die beiden Fassungen aufweisen. Im Übrigen war er nicht völlig uninformiert, so lag ihm z.B. eine Kopie der Erstfassung aus der Hindemith-Partitur vor. Allein die Tatsache, dass Frau Slevogt von den "höchst eindrucksvolle(n) Skandier- und Sangeskünste(n)" der drei Monteure berichten konnte, bildet ein starkes Indiz dafür, dass sich die Volksbühne (unbeschadet des zunächst gewählten Titels "lehrstück") für die revidierte Fassung von 1930 entschieden hat. Diese Revision begründet der Autor damit - ich zitiere aus dem Gedächtnis -, dass in der ursprünglichen Fassung "dem Sterben ein zu hoher Gebrauchswert beigemessen" worden sei. Und: "Das Unerreichbare" der ersten Fassung sei zu ändern in "Das noch nicht Erreichte". Solche "Korrekturen" haben dazu beigetragen, den Marxismus generell zu diskreditieren. Das Sterben nämlich hat entweder keinen, oder den höchsten überhaupt denkbaren Gebrauchswert.
Lehrstück, Volksbühne: obligatorisch für alle Brecht- & Castorf-Fans
Ja, ja, es gingen eine Menge Stühle zu Bruch, sogar im Publikum wurde man gestern davon angesteckt, und brach zusammen. Ob man nun ganz geknickt, zerzaust oder frohen Mutes die Volksbühne verlassen hat, bleibt jedem selbst überlassen. Die in der Überschrift der Nachtkritik ziemlich reißerisch behauptete Verabschiedung von der Idee des Kommunismus wage ich aber zu bezweifeln. Dafür müsste man die auch erst mal genauer definieren. Es ist schon eher wie Esther Slevogt auch abschließend bemerkt, eine Abkehr vom Lehrstück als Dogma und ein Sieg der Kunst. Die Kritik am Fortschrittsglauben sowie die von Frank-Patrick Steckel erwähnte Korrektur („Das Unerreichbare" der ersten Fassung sei zu ändern in "Das noch nicht Erreichte".) hat Frank Castorf aber in die Inszenierung eingebaut. Welche Fassung nun tatsächlich gespielt wird, kann ich aber auch nicht sagen? Eine große Rolle für das Publikum dürfte das auch kaum spielen, überdeutlich sind sinnlose Gängelei und plattes agitatorisches Gehabe für alle spürbar gemacht. Castorf übt keine Selbstkritik, er nimmt sich lieber ironisch auf die Schippe. Wie schon zuvor im ersten Teil des Abends beim Jasager und Neinsager, mit der Rücknahme der Zustimmung durch den Knaben, wird alles in Frage gestellt durch den Ausbruch von Ruth Rosenfeld als Pilot aus dem unerbittlichen Kreislauf des Textes. Das ist kritischer Umgang mit Brecht ohne museale Konservierung und mit begeisterndem Spiel. Da gibt es wirklich nichts zu meckern, ein Muss für alle Brecht- und Castorf-Fans. Sehenswert ist übrigens auch der Leninbart von Axel Wandke, ob nun echt oder angeklebt, er könnte damit auch als Ulbricht durchgehen. Es gibt ein gutes und witziges Programmbuch mit Beispieltexten und Aufgaben, ich werde mich gleich daran machen und einen „lustigen Proleten“ zeichnen.
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