Ein Strand für die Gestrandeten

von Rainer Nolden

Luxemburg, 30. Juni 2010. "Wir liegen alle in der Gosse", sagt Sascha, "doch einige von uns blicken auf zu den Sternen." So kann man sich das Elend auch schön reden, wenn nichts mehr geht, selbst bergab nicht. Sascha ist der Boss einer Drückertruppe, eines seltsamen Haufens auf unterschiedliche Weise abgehalfteter Menschen. Angelockt hat er sie mit dem Versprechen, sie für einen Film zu casten, aber die "Probeaufnahmen" dienen lediglich dazu, ihr Verkaufstalent zu testen. Da sie aber ohnehin keine Chance haben, weder beim Film noch im Leben oder sonstwo, können sie genauso Zeitungsabos für ihn an Haustüren anbieten wie Sauerbier.

Nur wer viel verkauft, steht in Saschas Sonne. Die Frauen, Lynn und Tania, einem Frauenhaus entflohen, und Samiha, die von einer Kinokarriere träumt, können sich wenigstens noch mit Liebesdiensten sein Wohlwollen erarbeiten. Die Jungs dagegen haben keine Chance - der dunkelhäutige Rod, genannt Bacalau (das portugiesische Wort für "Stockfisch") fälscht Bestellzettel, um sein Monatssoll zu erreichen, und Chris, der mal Bäcker werden wollte, ist ein bemitleidenswerter Versager auf der ganzen Linie. Dylan, Tanias vierzehnjähriger Sohn, ist als Drücker noch nicht einsetzbar. Er sprüht ohnehin lieber Graffiti an die Wände verschlingt Zeitungsberichte über andere Sprayer, denen er sich im Geiste und in Taten verbunden fühlt.

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© Bohumil Kostohryz

Der Marktwert des Menschen

"Dow Jones" lautet der ebenso irreführende wie bemühte Titel des Stücks, das der Luxemburger Autor Nico Helminger geschrieben hat. In der Regie von Anne Simon wurde es als letzte Produktion der Saison im "Théâtre National du Luxembourg" uraufgeführt. Dow, so erläutert es uns der Portugiese Rod, ist Saschas "nickname", weil sein Nachname Jones ist. Na ja. Ob Menschen seines Schlages tatsächlich so börsenaffin sind, dass sie auf derlei Spitzfindigkeiten kommen? Um Geld jedenfalls, um den Marktwert eines Menschen, der sich ausschließlich in seiner Leistung manifestiert, geht es in der Tat. Der etwas bemühten Erklärung hätte es im Grunde also gar nicht bedurft.

Helminger siedelt "Dow Jones" in einem seltsam ort- und zeitlosen Raum an. Als chronologische Orientierungspflöcke dienen beispielsweise der Dreißiger-Jahre-Schlager "Eine Insel aus Träumen geboren" ebenso wie der Fruchtsaft "Capri-Sonne" aus dem Jahr 1969 oder der Song "All the things she said", mit dem das mittlerweile ziemlich vergessene russische Mädchenduo Tatu 2002 die Hitparaden stürmte.

Geographisch fokussiert die Regisseurin Anne Simon den Schauplatz auf einen Strand für die Gestrandeten. Dafür hat Anouk Schiltz grafittiverzierte Luftmatratzen zu quietschbunten Mauern und Trennwänden auf die Atelierbühne gestellt, und ein aufblasbares Planschbecken ersetzt das Meer. Als Schauplatz eines gewaltsamen Todes ist es ebenfalls zu gebrauchen: Ausgerechnet der Teenager Dylan schlägt dem tyrannischen Sascha mit einer Sandschaufel den Schädel ein und lässt ihn im Pool ersaufen.

Sind Staubsaugervertreter glücklich?

"Dow Jones" schildert weniger eine kontinuierliche Handlung, vielmehr ist das Stück zusammengesetzt aus zahlreichen Befindlichkeitsskizzen der Charaktere und Momentaufnahmen ihrer desolaten Situation, die der Autor eher schraffiert als säuberlich auszeichnet und aus der herauszufinden die meisten von ihnen die Hoffnung längst aufgegeben haben. Wenn es tatsächlich so zugeht in Abo-Drückertruppen - Helminger hat eine Zeitlang in Frankreich als Abo-Verkäufer ge- und eigene Erfahrungen verarbeitet -, müssen Staubsaugervertreter glückliche Menschen sein.

Ein junges Ensemble trägt den Abend gemeinsam: Pitt Simon ist der bullig-brutale Sascha, der seine Leibeigenen drangsaliert und demütigt und verprügelt; Nilton Martins der großmäulige Rod, der sich ganz schnell den Schneid abkaufen lässt, wenn es brenzlig für ihn wird. Fabrice Bernard spielt in bester underdog-Manier den gehänselten und verachteten Chris. Konstantin Rommelfangens Dylan dagegen ist mit vierzehn Jahren noch zu jung für die Hoffnungslosigkeit, zu unerfahren aber auch um zu wissen, dass er mit Saschas Ermordung nur das Symptom beseitigt und nicht die Ursache.

Wieder einmal sind die Frauen, Esther Leiggener, Claire Thill und Jacqueline LeSaunier als Tania, Lynn und Samiha, die Überlebensstärkeren. Oder als Liebesdienerinnen des Bosses vielleicht doch nur die Naiveren? Den Hoffnungsschimmer, der am Ende kurz aufleuchtet, halten sie jedenfalls tatsächlich für das Licht am Ende des Tunnels.


Dow Jones (UA)
von Nico Helminger
Regie: Anne Simon, Bühne und Kostüme: Anouk Schiltz.
Mit: Fabrice Bernard, Esther Leiggener, Jacqueline LeSaunier, Pitt Simon, Claire Thill, Konstantin Rommelfangen.

www.tnl.lu



Kritikenrundschau

Eine "schauspielerisch überzeugende Darbietung" hat Mike Robert im Luxemburger Tageblatt (2.7.2010) gesehen und "komplex durchdachte Charaktere", keineswegs "Klischee-Figuren, wie man vielleicht annehmen könnte". Auch lobt er die sprachlichen Spielereien in Helmingers "vielschichtiger Story": "Bereits der Titel 'Dow Jones' lässt einen (...) an den berühmten Index denken, der die Entwicklung des US-amerikanischen Aktienmarktes messen soll. Doch etwas genauer betrachtet, in einem mikrokosmischen Sinne, kann man wohl Parallelen ziehen, denn es ist schlecht bestellt um die menschlichen Aktien der Charaktere im Stück 'Dow Jones'. Die Börse eines jeden Einzelnen ist schwer angeschlagen, das Geschäft ist rau, das Geschäft verlangt seine Opfer. Das Geschäft will Gewinn. Um jeden Preis."

Auslöser für das Stück, schreibt Jeff Baden im Luxemburger Wort (2.7.2010), sei für Nico Helminger, der selbst vor 25 Jahren "Zeitungsabos" verkauft habe, ein Mord in einer solchen Drückerkolonne gewesen. Anne Simon verstehe "Dow Jones" als "eine Art Parabel über den Kapitalismus". Das "Thema Geld und Konsum in einer erbarmunglosen vom materiellen Besitz regierten Gesellschaftsform" sei, auch wenn es keinen direkten aktuellen Bezug zur Finanzkrise gebe, "allgegenwärtig". In diesem "infantilen, mitunter grenzdebilen Kosmos rücksichtsloser Egomanen" und "psychisch auffälliger, bildungsfern-proletarisierter Randexistenzen ohne das geringste Empfinden für Verantwortung oder Solidarität", herrsche das blanke Gesetz des Stärkeren. Die "aus professionellen Schauspielern und Laiendarstellern präsentierte Urauffführung" habe im Rahmen der "gewiss gewöhnungsbedürftigen Problematik und doch recht eigenwilligen Inszenierung" überzeugt.

 

 

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