Der eidgenössische Kreidekreis

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 2. Juli 2010. Es ist ein Abend der schweren Verluste. Gleich zu Beginn erinnert sich der dunkelhäutige Politkommissar auf dem Stuhl sitzend, aus der Nacht allmählich hervorscheinend, wie er einst in seiner afrikanischen Heimat zum Schweizer wurde. Nach einem entbehrungsreichen Marsch zur Westflanke des Kilimandscharo hatte man als junger Offizier einer eidgenössischen Truppe von Fremdenlegionären zum ersten Mal Schnee gesehen. Schnee gegessen, ihn geleckt. Gebadet im "ephemeren Etwas", dem Taufelement des Schweizers.

Seit diesem Initiationsbad im Berg ist der "Kommissär" endlich einer von ihnen, nein, besser, er ist der eigentliche und gründlichere Schweizer, weil er sie wie kein anderer liebt, an sie glaubt, für sie töten will. Ein begeisterter Sklave ihrer menschenverachtenden Ideologie.

Die Schweizer Sowjetrepublik wankt
Auf der nun diffus erhellten, ansonsten von Normam Plathe leer geräumten Bühne lässt sich eine Zone ausmachen, das mit Kreide bestäubte Innere eines sorgfältig gezogenen Kreises. Noch ist alles klar zu erkennen, wer drinnen ist, wer draußen, wer Freund, wer Feind. Noch sind die Ränder nicht verwischt worden von Schneegestöber und Leichentanz. Wir befinden uns im 96. Jahr des Krieges. Die SSR, die Schweizer Sowjetrepublik, wankt. Und der erinnerungsschwere Kommissär bekommt einen letzten Auftrag, bei dem er in das Herz seiner eigenen Finsternis vordringt.

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Jenny Schily & Michael Klammer
© Cecilia Gläsker

Christian Kracht spielt in seinem 2008 erschienenen Roman "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" mit der recht lustigen Idee einer bolschewistischen Schweiz inmitten einer neu zusammengebastelten Weltordnung. Auf Krachts apokalyptisch durchdrehendem Globus stürmen faschistische Deutsche auf die sowjetrot glühenden Alpen zu, bekriegen sich geheimnisvolle Amexikaner im Wilden Westen, japst Russland nach der verheerenden Tugunska-Explosion seinen letzten Lebenswillen aus.

Und von den Grenzen zu Asien, wo der brutale Orangenteetrinker General Lal seine "hindustanische Invasion" befeuert, kommen ebenfalls schlechte Nachrichten. Mittendrin in dieser phantastischen Anti-Utopie sucht ein vom Leben angeekelter, präziös fabulierender Ich-Erzähler in bester Joseph-Conrad-Manier einen jüdischen Kaufmann, taucht ein in ein von allen Idealen und Werten befreites Hohlreich des Zynismus, das Réduit, in die ausgehöhlten Berge eines paranoiden, selbsternannten Herrschers: Oberst Brazhinsky. Amüsant also, was sonst. Denkt man.

Unter der Oberfläche des faulig-süßen Wörternebels
Armin Petras aber nimmt diesen trashig-historischen Furor allzu ernst, er sucht in der Deutschen Erstaufführung im Depot des Stuttgarter Staatsschauspiels unter der Oberfläche des faulig-süßen Wörternebels die prototypische Geschichte eines von totalitären Systemen fremdbestimmten Menschenschicksals. Überall dort, wo Kracht andeutet, immer wieder eine mögliche Digression nur zärtlich berührt, das lyrisch-erzählerische Raunen bevorzugt, die Sprache bis zum abgründigen Kitsch einer unheimlichen Landserromantik auslotet, wollen der Berliner Regisseur und seine Dramaturginnen Sarah Israel und Nele Weber Auskunft geben über den Krieg und seine unschuldigen Kinder. Und nur das. Am Ende wartet nämlich die Hoffnung, die Bergung aus dem Nichts, dem ewigen Eis.

Michael Klammer muss deswegen einen Sympathen geben, sein Politkommissar ist zwar ideologisch verbohrt, aber nicht verloren. Viele Passagen, vor allem die Erinnerungseinschübe, werden nicht wirklich inszeniert, sondern vom Kommissär zum Publikum hin gesprochen, was mitunter bemüht wirkt und nur dank der Lichteffekte und ornamentalen Videoprojektionen mit Schweizer Schneelandschaften erträglich ist. Dazu dröhnt und triphopt es immer wieder aufrüttelnd, und Till Wonkas körper- und stimmintensive Mehrfachbesetzung wirkt sich ebenfalls belebend aus.

Der Täter wird Opfer
Wenn das Böse stattfindet, das Unspielbare gewissermaßen, kommen Puppen zum Einsatz, was immer wunderbar funktioniert, weil es den Krachtschen Kosmos in einem völlig ungewohnten Licht leuchten lässt. Die Vergewaltigung einer jungen Frau etwa durch zwei deutsche Freischärler: Der Held wird die Täter hinrichten, doch kommen die Schüsse von einer auf den Boden aufklatschenden Bibel.

Das schafft Assoziationen fern des realistisch Erwartbaren, doch ändert es auch die Haltung zum Gesehenen. Der Täter wird zum Opfer. Die Regie kürzt, nein, exorziert alles Verdächtige, das Zweideutige aus Krachts dunkler Geschichte, zieht ihr den purpurnen Faden der Erzählung, wäscht ihn bei 95 Grad und lässt ihn an der Sonne gesundbleichen. Petras tilgt den politisch unkorrekten Kracht. Mit pädagogischer Hingabe und Liebe. Und doch ist es ein schwerer Verlust.

 

Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (DEA)
nach Christian Krachts gleichnamigem Roman
Regie: Armin Petras, Bühne: Norman Plathe, Dramaturgie: Sarah Israel, Nele Weber, Video/Musik: Niklas Ritter, Puppenbau: Oliver Köhler.
Mit: Michael Klammer, Till Wonka, Jenny Schily, Oliver Köhler

www.staatstheater.stuttgart.de
www.gorki.de

 

Mehr lesen? Zuallererst brachte im Mai 2010 Corinna vom Rad Christian Krachts Roman auf die Bühne, und zwar im Theater Basel.

 

Kritikenrundschau

"Leider gehört die Aufführung, die jetzt im Studio des Maxim-Gorki-Theaters angekommen ist, nicht zu den Sternstunden des Petras-Theaters," schreibt Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (28.11. 2010). Recht brav erzähle der Regisseur die wichtigsten Stationen des Buches nach und reduziere dabei das Personal auf eindimensionale Oberflächen. "Die für Petras-Inszenierungen typische Spielwut und Freude am Jux führt diesmal nicht zu erhellenden Einsichten, sondern steht unplausibel im Widerspruch zum fast schon pädagogisch ernsthaften Grundgestus des Abends. Auch der Ansatz, Verrohung und Gewalt mittels Puppen vorzuführen, die immer wieder als Kriegs- und Folteropfer durch die Luft geschleudert werden, ist fragwürdig."

Auch für Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (29.11.2010) ist es eine eher missglückte Begegnung: Hüben der Literat Kracht, der es verstehe, mit "ein paar wohlmanierierten, glorreich unemotionalen Männersätzen eiskalte Grabesstimmungen und kochende Ängste im Leser aufzurufen und ihm gleichzeitig literarischen Genuss zu verschaffen." Drüben Regisseur Armin Petras, "bekannt für seine aufsässige Sentimentalität, seine Getriebenheit und gedankliche Fahrigkeit - lauter durchaus fruchtbringende und potenziell bühnenzündende Eigenschaften, die aber so gar nicht zu Kracht passen." Petras nehme Kracht in seiner "granitenen Totalitarismus-Fiktion" zwar ernst. Der Abend besitze aber handwerkliche Schwächen und bediene "das ganze hektische aus der Theaterkiste hervorgekramte Programm": Die Akteure führten mithin lediglich vor, "was sie so an Mitteln vorrätig haben; sie täuschen seelische Dunkelheit und pathologische Symptome vor, finden aber in keine zwingenden, druckvollen Spielsituationen."

Angesichts der Berlin-Premiere am Maxim Gorki Theater stellt Mode-Journalistin Ingeborg Harms (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28.11.2010) fest, dass die Inszenierung "mit ihrem packenden, musikalisch souveränen Rhythmus und hypnotischen Sinn für Zäsur und Momentum" zu dem Besten gehöre, was deutsches Theater zurzeit zu bieten hat. "Bei dieser komischen, schrecklichen und atemberaubenden Tour de Force spielen alle Geister der Avantgarde mit: Artauds Theater der Gewalt, Bob Wilsons minimalistische Kippfiguren, Peter Brooks Ökonomie der Mittel und ein Hagel von V-Effekten aus dem Hause Brecht." Petras' Inszenierung finde einen Weg, dem narrativen Stoff und seiner philosophischen Dimension zugleich gerecht zu werden. Die Kargheit des Bühnenbilds "lässt den großartigen Schauspielern, vor allem Michael Klammer und Till Wonka in den Hauptrollen, ein Maximum an Entfaltung".

Eine geradezu archetypische Theaterästhetik habe Petras Krachts Text in seiner gut neunzigminütigen Inszenierung übergestülpt, wie Sebastian Hammelehle in der Welt (5.7.2010) befindet: "Der Raum ist schwarz. Nur ein weißer Kreis auf dem Boden gibt das Bühnenbild ab. Es wird geschrieen und getrommelt. Ein unmotivierter Purzelbaum hier, ein umgeschmissener Tisch da, mehrstimmig gesprochene Passagen – und natürlich Darsteller in Unterwäsche.” So inszeniere der Regisseur "das Stück ohne jeden Zweifel an der konventionellen Ästhetik des Theaters, die ja auch eine Errungenschaft der Utopien des 20. Jahrhunderts ist – und somit genau mit den Mitteln, die Kracht in seinem Roman beerdigt."

"Was von Krachts wildem und wirrem Oszillieren zwischen Jüngers Stahlgewittern und eidgenössischer Satire übrigbleibt, ist bei Petras ein ziemlich dröges und biederes Nachbuchstabieren der Reise ins Herz der Finsternis", meint Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (5.7.2010). Was im Roman für Irritation sorge, komme bei Petras’ beflissener Eins-zu-Eins-Umsetzung als blutleeres Gerede daher: "'Wir werden goldene Dörfer bauen und goldene Städte': Ausgesprochen haben solche Bekenntnisse den Charme von Parteitagsreden.”

"Aber was, um alles in der Welt, hat das italienische Kampflied von der roten Fahne mit einem russischen Text über die Rote Armee in der Schweiz zu tun?", fragt Thomas Rothschild in der Stuttgarter Zeitung (5.7.2010). Von Petras' Inszenierung bleibe ein schaler Geschmack, die Apokalypse werde behauptet, aber auf der Bühne nicht erfahrbar: "Auch die Verwendung von Technik scheint wenig durchdacht. Das elektroakustisch verstärkte Gebrüll bei einem Zweikampf soll Gefährlichkeit suggerieren und wirkt doch nur unfreiwillig komisch."

Eher durchwachsen findet Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (5.7.2010) Petras' Romanadaption: "Wie oft beim Schnell- und Vielinszenierer hat die Aufführung ein gutes handwerkliches Niveau, doch die Fokussierung fehlt, der letzte Biss." Petras erzähle davon, wie der Krieg die Menschen zermürbt und Kulturtraditionen zerstört. Eines der Probleme: "Die inhaltlichen wie stilistischen Verweise entfalten beim Lesen eine interessante, zweite Ebene. Auf der Bühne behindern sie ein wenig, weil man schnell Gefahr läuft, Vergleiche zu ziehen." Armin Petras habe ein bisschen brav und politisch korrekt inszeniert: "Er liefert eine sauber komprimierte Reader's-Digest-Version des Romans und gewinnt erneut eine starke Geschichte aus der Belletristik für die Bühne. Was fehlt, ist Krachts Mut zu emotionalen Grenzgängen, die Lust am Überzeichnen, an den Ecken und Kanten."

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.7.2010) vergleicht Martin Halter Petras’ Regie mit der der Uraufführung: "Vor zwei Monaten bohrte sich Corinna von Rad am Basler Theater mit Volksliedern und psychedelischen Bildern tief ins Herz der europäischen Finsternis: Ihre Kracht-Bearbeitung war eine ebenso fröhliche wie originelle Abrechnung mit Schweizer Mythen. Armin Petras, Intendant des koproduzierenden Berliner Gorki-Theaters, nimmt Kracht in Stuttgart sehr viel ernster, und das bekommt der Vorlage nicht so gut. Im hellen Sonnenschein politischer Korrektheit und bemühter szenischer Illustrationen verschwinden die Schatten und Abgründe, die im Roman im Dunkel bizarrer Rituale und einer verstörend kalten Sprache blieben. Aus einer trashigen Dystopie wird so eine müde Parabel, aus Schnee- und Kältemetaphern werden Mineralwasserduschen, Mehlgestöber und Videos von verschneiten Berghütten." Die unbarmherzige Sonne einer lauten, überdeutlichen Bildsprache bekomme dem Stoff nicht: "Petras arbeitet mit esoterischem Hokuspokus und Voodoozauber, Drogenhalluzinationen und Diavorträgen über spätsozialistische Höhlenkunst, Elementen der Militärklamotte und der kommunistischen Science-Fiction. Aber im Grunde schickt er nur einen Parzival auf Aventiure. Nach allerlei Prüfungen, Ohrfeigen-Turnieren und Armdrück-Duellen kehrt der reine stalinistische Tor geläutert in seine Heimat zurück; die Puppenspieler malen sich aus Solidarität schwarz an. Es ist ein evolutionsgeschichtlicher Rückfall in die politisch-ästhetische Naivität, der auch auf der Bühne keine Zukunft hat."

In der Süddeutschen Zeitung (6.7.2010) schreibt Jürgen Berger, Kracht, der "poetisch-lakonisch mit dem Scheitern sozialer Utopien" spiele, habe in Petras einen Partner, der sich "auf den Schmerz des Scheiterns" konzentriere, "den Menschen empfinden, die ihren Traum von einer besseren Welt in totalitären Systemen austräumen." In Stuttgart sei überraschend, dass Petras den ersten Teil des Kracht-Romans "wie ein Brechtsches Lehrstück absolviert". Als Ich-Erzähler wirke Michael Klammer "zunächst ziemlich einsam" und "überfordert". Erst mit dem Auftritt Jenny Schilys fühle er sich "sichtlich wohler". Mehr "als eine Nacherzählung" werde der Abend aber nur, wenn Niklas Ritter mit seinem Ganzraumvideo zum Zuge komme und Oliver Köhler mit seinen Puppen. Petras versuche die "Endzeit-Atmosphäre" mit "verschiedenen Theaterstilen" einzufangen, so dass man im zweiten Teil des Abends in der Chéreau-Inszenierung eines Koltès-Stückes zu sitzen meine.

 

 

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