Alles Hochklutur

von Esther Boldt

Mühlheim, 5. Juli 2010.

Täter der Wlet I: Die Empörung des Logenschließers

Als ich meinen Koffer an der Garderobe abhole, erkundigt sich der Logenschließer, ob mir der Abend gefallen habe? Ich bejahe, und er fragt vorsichtig, ob er es richtig verstanden habe, dass diese Veranstaltung unter dem Label "Theater der Welt" liefe? - Ja, natürlich. "Dann steht das hier falsch!", sagt er ärgerlich und zeigt auf den riesigen Schriftzug an den Türflügeln des Foyers: "Dort steht 'Thaeter der Welt!'" Ich versuche ihm zu erklären, dass diese Irritation zum Konzept gehöre, doch seine Miene erhellt das nicht.

Fehler beunruhigen und rufen Besorgnis hervor, etwas geriet außer Kontrolle und fluktuiert nun frei durch den öffentlichen Raum. Treten sie gehäuft auf, wie auf den Printprodukten des Festivals Theater der Welt 2010, springt es ins Auge und beleidigt den Geist. Unkalkulierbarkeiten können aber auch unterhaltsam sein - wie in der Eröffnungsoper "Montezuma", die von der spanischen Eroberung Mexikos erzählt: Der spanische Herrenmensch wird von einem Hund begleitet, der zu kläffen beginnt, wenn sein Herrchen singt, und damit die Flötistinnen im Operngraben vor ihm gehörig aus der Bahn bellt.

Täter der Wlet II: Übersetzen mit Lethe und Persephone

Auf Schriftzügen am Boden des Festivalzentrums in der Mülheimer Stadthalle werden "Prespektivwechsel", "Missverständins" und "Asnichtssache" proklamiert und nicht nur Blicke ins Stolpern gebracht. Diese vertrauten Begriffe, die in den Konzepten von Künstlern seit jeher Unruhe stiften sollen, beginnen zu lallen, ihre Bedeutung verschiebt sich ins Offene. Der Prespektivwechsel springt in eine unmögliche Position, die Verändreung spricht sich selbst falsch aus und das Missverständins ist auch schon eins. So wird die strapazierte künstlerische Programmatik des Ausfalls und der Irritation selbst zur Auf- und Verschiebung von Bedeutung, die stark be- und abgenutzten Begriffe werden aufgenommen und befragt: Es ist nicht alles Hochklutur, was glänzt.

Vieldeutige Übersetzungsprobleme und fruchtbarer Missverstand tauchen beim Eröffnungswochenende von Theater der Welt vielerorts auf, geht es doch in allen Arbeiten um kulturelle Differenzen und Konflikte in Geschichte und Gegenwart. Fakten werden mit Fiktionen bearbeitet, Erzählungen historisiert, der blühende Zwischenraum verflüssigt Identitäten und verundeutigt Zuschreibungen. Übersetzer leiten in die Irre, wie jene Übersetzerin in "Montezuma", die mit einer frei erfundenen Gebärdensprache zwischen dem Aztekenkönig und dem spanischen Eroberungsfarher Cortés vermittelt.

Oder wie die deutschen Übertitel in William Kentridges Lecture Performance "I am not me, the horse is not mine", die dem südafrikanischen Künstler schon mal vorauslaufen, während er ins Stottern gerät. In seiner assoziativen Kulturgeschichtsschreibung um versteckte Autorschaft und verlorene Nasen zwischen Donquichotterie, Tristram Shandy und den Moskauer Schauprozessen von 1937 kommt Kentridge bühnenwirksam der Ariadnefaden abhanden, den er anfangs Persephone zuschreibt, um am Schluss über seinen Fehler zu stolpern. Doch da ist es schon zu spät und ein Teil seiner Identität im Labyrinth geblieben.

Zwischen den Kulturen kommt auch schon mal der Humor abhanden, beispielsweise in Wael Shawkys Film "The Cabaret Crusades" über den Beginn der Kreuzzüge und die Eroberung Jerusalems, in dem der ägyptische Künstler mit 200 Jahre alten Puppen entscheidende Episoden nachspielt - da bleibt das Kabarett in der kulturellen Differenz stecken. Dafür ergeht der Befehl von Pope Urban II., Jerusalem zu erobern, auf Arabisch und sorgt für Irritation.

Übersetzungen bis zur Unkenntlichkeit unternimmt Pichet Klunchuns "Nijinski Siam", in dem der thailändische Tänzer und Choreograf nachweisen möchte, dass Vaslav Nijinsky sich vom klassischen Thai Tanz inspirieren ließ, den der legendäre Tänzer der Ballets Russes wiederum nur aus Bildern kannte. Klunchun tritt zur Beweisführung des Aneignungsprozesses an, tanzt Khon-Tanz vor den Fotografien von Nijinsky, zieht Analogien in Gesten, Sprüngen und Kostüm. Doch allmälich löst sich die Relevanz der Unterscheidung von Original und Kopie in Luft auf. Paradoxerweise führt die launig-vergleichende Analyse kultureller Verweisungen ins blanke Hier und Jetzt, die Beziehung des Zuschauers zu dem Körper auf der Bühne, der einen imaginierten Anderen tanzt.

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"!Barbara Rabarbara!" © Klaus Lefebvre
Täter der Wlet III: Barbaras Rhababerkuchen

Jetzt aber Orndung! verspricht das T-Shirt des Personals, das den Weg zur Villa Rauen weist. Kurz vor dem Ziel sagt ein Schild, dass hier das Befahren des Bürgersteigs verboten sei - Privatbesitz! Auf der anderen Straßenseite hängt jaulend ein Hund im Zaun, er hatte entwischen wollen und scheiterte an seinen Hüftknochen auf dem Weg zu Hans-Peter Litschers Eröffnungsfeier für "!Barbara Rabarbara!", einem überaus gut besuchten Straßenfest. In den nächsten Tagen wird Litscher hier durchs Barbarium führen, die Barbara- und Bergmanns-Sammlung des verkannten Komponisten Ernst Adolf Steiger - Barbara ist die Schutzheilige der Bergleute.

Seine titelgebende Komposition ist für einen Knabenchor, ein Symphonieorchester und ein Rudel Grubenponys geschrieben - darum spielen beim Eröffnungsfest eine Bergmannskapelle und ein Schul-Flötenorchester, während aus dem ersten Stock der Villa mit gespitzten Ohren ein Pony schaut. Weil Steiger Rhababer liebte, kann man außerdem beim Kuchenbackwettbewerb vier Rhababerkuchen testessen, gebacken von Barbaras aus dem Ruhrgebiet. Da ist der Hund übrigens aus dem Zaun befreit und mit von der Partie, der Ausbruchsversuch wider Erwarten doch geglückt.

Täter der Wlet IV: Solitär

Auf dem vertrockneten Rasen zwischen der mehrspurigen Straße am Schloss Broich lockt per Plakat eine "Betrachungswiese", von der Julisonne braungebrannt.

Täter der Wlet V: Spielstände

Beim Viertelfinalspiel Deutschland-Argentinien im Festivalzentrum tritt eine mexikanischer Darsteller von "Montezuma" zu den Fußballschauenden und erkundigt sich nach dem Spielstand. Da steht's bereits Vier zu Null. Er staunt und kommt strahlend zu dem Schluss, dass das gut sei für die Opernaufführung gleich: Der Dirigent ist Argentinier und wird in seinem Zorn dem Orchester einheizen, das Publikum wird gut gelaunt sein ob des deutschen Siegs.

Täter der Wlet VI: Auflosung

Vielleicht hätte ich dem Logenschließer noch sagen sollen, dass der Fehler hier neue Worte gebiert, die Fehlerhaftigkeit zur Neuschöpfung wird und die Thaeter zu Tätern. Und dass es hier um ebensolche geht, um Täter aller Klassen, um Kreuzzüge und Kolonialismus, um die Manipulation, Besetzung und Eliminierung des Anderen - aber auch um jenen fruchtbaren Zwischenraum, in dem die Kulturen in Austausch kommen, nationale Zuschreibungen und Grenzen verunklaren und sich im Wirbel der Zeichen neue Sprachen entwickeln. Das Subjekt wird zum Objekt der Verhandlung, zum Ausspielort dysfunktionaler Babelfische und vielversprechender Eröffnungen.

 

Mehr zu Theater der Welt 2010 schrieb Esther Boldt in der tageszeitung (6.7.2010), wo sie noch einmal auf "Montezuma", die site specific Produktion "tagfish" der Antwerpener Performer-Gruppe Berlin und auf Hans Peter Litschers Barbara-Kosmos einging.
Auch Andreas Klaeui schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (6.7.2010) von der spartenübergreifendsten aller Kunstformen, der Oper, die Frie Leysen in Form von "Montezuma" nach Mülheim geladen hat. Er gibt auch einen recht ausführlichen und lesenswerten Eindruck von Mülheim in dem Artikel unter.

 

Nachtkritiken zu Produktionen des Festivals Theater der Welt:

I am not me, the horse is not mine von William Kentridge

Welcome to Rocksburg von Mpumelelo Paul Grootbooms

Vysniu Sodas – Der Kirschgarten von Kristian Smeds

Kinder des Dämons von Béla Pintèr

 

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Kommentare  
Täter der Welt: Lob für den Artikel
Nachdem ja so oft nur kritisiert wird, auch einmal Lob: Ein wirklich schöner Artikel - hat Spaß gemacht zu Lesen (und zu Denken!)
Täter der Welt: insgesamt dennoch lohnend
Trotz hochrangiger Produktionen unterschiedlichster Künstler mit unterschiedlichsten inhaltlichen sowie ästhetischen Programmatiken halte ich den letzten Absatz doch für etwas überschwänglich und ziemlich weit entfernt von jeglichem Realismus. Gerade "Montezuma" blieb eindeutig unter seinen Möglichkeiten, ein Ort für "vielversprechende Eröffnungen" zu sein. Die Vision der Kuratorin, ein Festival der "most interesting" Künstlerpersönlichkeiten zu schaffen, hat sich definitiv erfüllt. Hoffnungen auf fruchtbare, neue Perspektiven auf die berüchtigte "Interkulturalität" oder dem Kulturimperialismus blieben im zum Portal gemachten Hintereingang stecken.
Doch insgesamt war die erste Festivalwoche mehr als lohnend - eine unfassbare Vielfalt diverser theatralen Formen.
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