Tue Unrecht und scheue jeden

von Matthias Weigel

München, 9. Juli 2010. Das Mädel ... was muss die gelitten han!" Mit diesem Satz beendet Gerhart Hauptmann sein eher unbekanntes Bürgerliches Trauerspiel "Rose Bernd". Gelitten hat die 22-jährige Titelfigur Rose Bernd, und ihr Mann August Keil zieht das überflüssige Schlussfazit. In der Inszenierung von Enrico Lübbe am Staatsschauspiel in München ist dieses Zaunpfahl-Resümee glücklicherweise gestrichen, allerdings steht es in anderer Form ganz am Anfang: Lucy Wirth rutscht als Rose Bernd nach einem gellenden Aufschrei auf der schiefen Ebene der ansonsten nackten Bühne den Zuschauern entgegen, reißt dabei ein paar Wassereimer um und liegt so schon beim ersten Auftritt zerzaust und und wie ausgespuckt an der Rampe. Dabei fängt gerade alles erst an.

In die Enge getriebenes Reh

Vater Bernd hat für seine Tochter die Hochzeit mit dem langweiligen Bibelbücherwurm August Keil klargemacht, doch Rose hüpft lieber mit dem Lebemann Christoph Flamm ins Gebüsch, während andere zur Kirche gehen. Diesmal aber will Rose das Verhältnis beenden, weil ihr Verlobter immer stärker zur Heirat drängt. Enrico Lübbe lässt seine Schauspieler sehr statisch, fast voneinander isoliert zum Publikum spielen.

Dabei scheint ihn vor allem die Psyche des Einzelnen zu interessieren; jeder durchlebt gleichzeitig und doch getrennt seine Leidensgeschichte. Bei Rose Bernd als Angelpunkt des Geschehens stellt sich so schon ganz am Anfang die Frage: Wieso lässt sie sich einerseits auf die Heirat mit dem Kirchen-Klemmi ein, warum zittert sie andererseits vor Angst, als sie ihre Affäre beenden will?

roseberndthomas dashuberLucy Wirth als Rose Bernd © Thomas Dashuber

Lucy Wirth tritt von vornherein als verschüchtertes, Tränen zurückhaltendes Wesen auf, ein in die Enge getriebenes Reh, das gleichzeitig eine zentnerschwere Last mit sich trägt. Im Stück spricht sie einmal an, dass sie einfach nicht wisse, was sie wolle. Enrico Lübbe macht ganz klar: Diese Rose Bernd will gar nichts. Sie will weder Ehemann noch Affäre. Sie will es einfach nur allen Recht machen. Das wird ihr zum Verhängnis, als ausgerechnet der komplexbeladene Streckmann von der Affäre mitbekommt und sie damit erpresst.

Zeitlos schwebende Dörflichkeit

Er will schließlich auch seinen Teil von Rose, und das Stück von Flamm gleich mit dazu. Rose wird so zum Spielball vom Vater, der um seinen religiösen Ruf fürchtet, von Flamm, der sich weiterhin austoben will, von Streckmann, der es nicht aushält, abgelehnt zu werden. Die einzige, die Rose Bernd Halt bieten könnte, ist ausgerechnet Flamms Ehefrau, von der sie mit aufgezogen wurde. Ihr kann sich Rose aber verständlicherweise auch nicht vollständig anvertrauen.

Dass der schlesische Dialekt aus dem Stück weitgehend übernommen ist, ist ein kluger Griff (auch wenn ihn nicht jede Figur immer durchhält). Da Schlesisch inzwischen kaum mehr gesprochen wird, entgeht man so jeder konkreten geografischen Verortung – weder Berlin Neukölln noch Oberbayern – und verliert trotzdem nicht das Unterschichten-Kolorit: wie eine Kunstsprache der zeitlosen, schwebenden Dörflichkeit.

Mindestens genauso wichtig und geglückt ist der Verzicht auf viele Dialogteile, in denen es um kurze Nebenanekdoten geht, die so zeitgebunden sind, dass sie heute nicht viel außer Langeweile erzeugen würden; ebenso der Verzicht auf alle Details, die Hauptmann ganz naturalistisch beschreibt. So serviert die Bühne von Hugo Gretler die Akteure hell ausgeleuchtet wie auf dem Silbertablett, während die anderen im Hintergrund im Gegenlicht zu schwarzen Silhouetten erstarren.

Abwärts immer, aufwärts nimmer
Was aus der Entschlackung herauskommt, sind durchaus interessante Typen: Die Flamms (Dirk Ossig und Juliane Köhler) als gutsituiertes, sympathisches Ehepaar, das wahrscheinlich im Rotary Club mehr erlebt als im Ehebett – über Seitensprünge muss da hinweggesehen werden. Vater Bernd (Ulrich Beseler) und August Keil (Thomas Gräßle), die, anstatt das eigene Hirn zu benutzen, lieber feige jemandem hinterher rennen – sei es auch der Herrgott. Schließlich Streckmann (Marcus Calvin), der wie besessen davon ist, dass es keinen Besseren und Begehrenswerteren als ihn geben kann – auch wenn er dafür Rose Bernd schließlich vergewaltigen muss.

So wird schon von Beginn an so lange auf Rose Bernd eingedroschen, bis sie am Ende fast von Sinnen ist und ihr Neugeborenes umbringt, von welchem Vater es auch immer ist. Ein solches Leben wollte sie ihrem Kind aber auf jeden Fall ersparen. Dramaturgisch gesehen gibt es in der Inszenierung nur eine Bewegung: Es geht konstant abwärts. Auf ein einziges Lächeln von Lucy Wirth wartet man vergebens, und man fragt sich, was Rose denn hätte anders machen sollen. Der falsche Ratschlag thronte jedenfalls während des gesamten Stückes an der Bühnenmauer: "Tue recht und scheue niemand."


Rose Bernd
von Gerhart Hauptmann
Regie: Enrico Lübbe, Bühne: Hugo Gretler, Kostüme: Sabine Blickenstorfer, Musik: Bert Wrede, Licht: Gerrit Jurda, Dramaturgie: Georg Holzer.
Mit: Ulrich Beseler, Lucy Wirth, Ines Hollinger, Dirk Ossig, Juliane Köhler, Marcus Calvin, Thomas Gräßle, Alfred Kleinheinz, Eva Schuckardt, Franziska Rieck.

www.bayerischesstaatsschauspiel.de

 

Der Regisseur Enrico Lübbe, 1975 in Schwerin geboren, ist seit 2008 Schauspieldirektor des Theaters Chemnitz. Dort inszenierte er u.a. im Janur 2009 Anton Tschechows Drei Schwestern.

 

Kritikenrundschau

"Dies ist ein Abend der psychischen, nicht der physischen Schmerzen", schreibt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen (12.7.2010), "und es sind großartige Schmerzensstudien", Enrico Lübbe und sein Ensemble in Hauptmanns "Rose Bernd" fänden. "Seine unaufgesetzte Intensität und unaufdringliche Authentizität" habe "der düster fließende Abend" jedoch "vor allem seiner zarten wie harten Titeldarstellerin zu verdanken: Lucy Wirth, kaum älter als die zweiundzwanzig Jahre alte Rose im Stück, changiert ungeschminkt vom fröhlich-naiven Lachen eines Bauernmädchens in derben Gummistiefeln und verführerischem Blümchenkleid zum markerschütternd stummen Schrei einer im patriarchalischen Dorfsystem gelynchten Frau, welche die Last ihrer Schuld bereits mit sich schleift, noch ehe sie die Sünde begangen hat."

Der Schrei, mit dem die Inszenierung von Hauptmanns 'Rose Bernd' beginnt, sei "auch ein Schrei der Befreiung für das ganze Haus", vermutet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (12.7.2010). "Der Mehltau des Abschieds liegt schon seit längerem über dem Staatsschauspiel. Das Ende der Ära Dieter Dorn, das in einem guten Jahr besiegelt sein wird, es war zu lange angekündigt, um stets und in allen Bereichen die kreative Energie aufrechterhalten zu können." Doch nun sei "Rose Bernd" "die kraftvollste, strengste und schauspielerisch überzeugendste Inszenierung, die in dieser Saison auf der großen Bühne des Residenztheaters herauskam. Und sie ist ein Ausrufezeichen für die letzte Spielzeit, die auf diese Premiere noch folgen wird. Ein Theater, in dem eine Aufführung von solch spröder Wucht möglich ist, kann noch nicht am Ende sein."

"So plan wie an dieses naturalistische Stück hat sich im Münchner Residenztheater noch kein Regisseur getraut", meint Rosemarie Bölts auf Deutschlandfunk (10.7.2010): "Keine Effekte, nichts Dekoratives, keine Ablenkungsmanöver vom Eigentlichen, dem Spiel." Enrico Lübbe habe für seine "atemberaubende Inszenierung" nicht nur "das Bühnenbild entschlackt, sondern auch den Text und die Inszenierung. Mit der Konzentration auf die Psyche der einzelnen Charaktere spielt sich das Stück in der Mimik und den Gesten ab. Sprachlose, endlos scheinende Minuten in einer erschreckend wirkenden Normalität verdichten die beklemmende Atmosphäre. Jede Figur steht für sich allein, fast statisch und vor allem berührungsfrei wird dadurch unsere beziehungsunfähige Gesellschaft symbolisiert. Dramaturgisch gesehen gibt es nur eine Bewegung, und die geht – auch real auf der Rampe – konstant abwärts."
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Rosemarie Bölts im Deutschlandfunk (10.7.2010)


Enrico Lübbe sei "bei seinem Münchner Regiedebüt im Residenz Theater mit dem heute schwer umzusetzenden Sozialdrama ein voller Erfolg" gelungen, vermerkt Gabriella Lorenz in der Münchner Abendzeitung (12.7.2010). Enrico Lübbe habe dem "geschickt auf knappe anderthalb Stunden verkürzten Stück jeden Naturalismus verweigert." Den schlesischen Dialekt münze er "ohne dialektalen Tonfall um in eine trockene Kunstsprache, die man trotz ungewohnter Ausdrücke versteht. Die Schauspieler lässt er kühl und statisch spielen, stellt sie oft an die Rampe oder weit entfernt voneinander, isoliert und vereinzelt. Und doch entwickeln sie aus der strengen Reduzierung der Theatermittel eine packende Intensität. Vor allem Lucy Wirth als Rose Bernd zeigt eine kraftvolle Gefühlsbreite: Die Angst, die sie umtreibt, bricht die Stärke und den Lebensmut dieser jungen Frau immer mehr – bis sie in panischer Verwirrung keinen anderen Ausweg mehr sieht als Meineid und Kindsmord."

 

Kommentare  
Rose Bernd, München: Thalheimer Erinnerung
Ich hatte mich auf einen spannenden Abend gefreut, aber bekam dann doch nur schon gesehenes. Die Ähnlichkeiten mit Thalheimers Rose Bernd am Thalia und Thalheimers "Ratten" am DT waren schon verblüffend, natürlich aber ernüchternd. Auch der Komponist (Bert Wrede) beteiligt sich daran und greift genau in den Fundus dieser zwei Inszenierungen.
Mag sein, dass man damit am Bayerischen Staatsschauspiel (wo sonst zeitgenössische Regiekönner sehr fern sind) punkten kann. In Berlin oder Hamburg hätte sich der Regisseur damit vermute ich kräftig blamiert.
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