Blitzblanke Vitrinenscheiben

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 26. Juli 2010. Da hat Antigone ihren blinden Vater nach jahrzehntelangem Umherirren also nach Kolonos geführt, in den heiligen Hain vor Athen. Darf er sich dort überhaupt niederlassen, der geächtete Alte? In Theben war er ja verstoßen worden, nachdem er, ohne es zu wissen, seinen Vater ermordet, seine Mutter geheiratet und mit ihr Kinder gezeugt hatte. Selbst hat er sich damals geblendet aus Verzweiflung und Selbsthass. Was haben die Götter da bloß angerichtet!

Aber jetzt hat Ödipus ausgebüßt, jetzt haben die Himmlischen sein Ende angebahnt, jetzt wird nicht mehr gehadert. Die Stadt, in der er sterben wird, werde besonders stark sein, wurde ihm einst orakelt. Das macht den Greis zum gern gesehenen Gast, zum Human-Glücksschweinchen.

Ungemildert klassische Sprachkraft

"Ödipus auf Kolonos" des uralten Sophokles gehört nicht zu den Favoriten auf dem Theater. Da wird in jeweils riesigen Textmengen Unterschiedliches verhandelt: Ob Ödipus überhaupt Gastrecht bekommen darf zuerst. Dann sprechen der alte Kreon und der junge Polyneikes vor bei Ödipus. Sie wollen ihn auf ihre Seite ziehen und mit seiner Hilfe jeweils für sich die Thronrechte in Theben sichern. Aber sie haben schlechte Karten. Altersmilde und Vergebung sind keine Antiken-Tugenden. Theseus, dem Herrscher in Athen, gehört jetzt die Sympathie des Alten. In Athen möchte Ödipus sterben, und da kommt nach über zweieinhalb Stunden Zeus' Ungewitter und damit die himmlische Apotheose des Geschundenen. Daran schließt sich noch ein reportagehafter Bericht des Boten an und ein üppiges Lamento der Töchter Antigone und Ismene.

Einen langen Atem braucht's also, auf und vor der Bühne, für "Ödipus auf Kolonos". Von bestem, altklassischen Schauspielertheater ist zu berichten nach der Festspielpremiere auf der Pernerinsel in Hallein. Peter Stein ist ein Theatermann aus altem Schrot und Korn, und er ist humanistisch gebildet obendrein. So hat er seine eigene Übersetzung gemacht, und die kommt daher in ungemildert klassischer Sprachbildkraft. Da wird einem kein Nebengedanke geschenkt, kein weitschweifiger Ausritt in die weitverzweigten Mythenlandschaften und Göttergefilde: Peter Stein eben in seiner an Besessenheit grenzenden Detailverliebtheit.

Er redet, redet, redet

Aber er hat mit Klaus Maria Brandauer und mit dem Team des Berliner Ensembles die rechten Leute, die das Publikum hineinzwingen in die Endlos-Schleifen antiken Denkens. Da sitzt also Brandauer auf einem unbequemen gusseisernen Sessel, vor dem mit rostbrauner Mauer umgebenen graugrünen Olivenhain. Und er redet, redet, redet. Seitenweise. Auch die "Stichwortbringer" laden respekteinflößende Wortschwälle ab.

Faszinierend, dass man dabei kaum einmal abrückt von Wohnzimmer-Lautstärke. Die handwerkliche und sprechtechnische Meisterschaft äußert sich gerade darin, dass niemand ausklinkt. Ganz selten wird Brandauers Stimme schneidiger, spiegelt sie innere Erregung – und auch dann schwingt die Erschöpfung des Greises mit. Das ist eine Klasse für sich.

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"Ödipus auf Kolonos"     © Monika Rittershaus

Durchmodelliert bis zur letzten Haarsträhne

Jürgen Holtz lässt den im Rollstuhl daherkommenden Kreon verschmitzt quasseln ("Es ist ein Unterschied, viel reden oder zutreffend") und alle Überredungskunst aufbieten. Christian Nickel ist ein unaufgeregter, eleganter Theseus, Martin Seifert ein nicht minder souverän-ruhiger Bote. Interessant: Die einzige Rolle, die juvenilem Überschwang anböte, vergeigt der etwas hölzern wirkende Dejan Bućin als Polyneikes. Emanzipationsbewusste Menschen müssen sich die Haare raufen angesichts der pausbäckig dienenden Antigone (Katharina Susewind) und der mit Vorliebe devot buckelnden Ismene (Anna Graenzer).

Ein Dutzend Herren gibt den Chor. Ihn hat Peter Stein aufgesplittet, aus dem Unisono wächst durch Solo-Wortmeldungen ein imaginärer Dialog. Hochmusikalisch, im Wortrhythmus pointiert, im Timbre ausgewogen kommen die Elogen, die doch alles andere sind als Äußerung einer tumben Masse. Manche der Zwölf, die für das Athener Volk stehen, gehen am Stock, einen beutelt der Parkinson, jeder hat seine Auffälligkeiten – es sind also keineswegs uniforme Herren in Anzügen und breitkrempigen Hüten. An dieser Stelle ist ein Loblied auf die Kostümbildnerin Moidele Bickel angebracht, die mit unaufdringlicher Differenzierungskunst Schau-Stoff liefert. Ödipus selbst ist in seinem bemitleidenswert schäbigen Gewand ja auch als eine Kunstfigur bis zur letzten unartigen Haarsträhne gleichsam durchmodelliert. Joachim Barth rückt das in wundersam unaufdringliches Licht.

Archäologische Bruchstücke, sorgsam gereinigt

Warum aber ist man am Ende drei Stunden gesessen, in einer perfektionistischen Aufführung, bei der man nur deshalb gelegentlich auf die Uhr gesehen hat, um vorgewarnt zu sein: Nach zweieinviertel Stunden nämlich komme ein Riesenknall, heißt es auf ausgehängten Zetteln, und es wurden auch vorsorglich Ohrenstöpsel verteilt. Gar nicht schlimm, das war nur der tatsächlich laute Zeus'sche Befreiungsschlag – die Entrückung, Erhöhung, Versenkung des Ödipus im Olivendickicht. So genau weiß das ja nicht mal der Bote zu sagen.

Was also hat's wirklich gebracht? Werden Botschaften destilliert, heutige gar? Wir haben uns bereitwillig hineinziehen lassen ins antike Denken von Schuld und Sühne, im günstigsten Fall nachgedacht über die unterschiedlichen Erlösungsvorstellungen von antiken Göttern und unserer christlichen Welt. Gerne haben wir uns hineinzwingen lassen in eine konzentrierte Atmosphäre einer Antikenschau quasi im Originalton. – Und doch gibt's herzlich wenig mitzunehmen aus diesem Theater, das Sentenzen bereitlegt wie sorgsam gereinigte archäologische Bruchstücke im Museum. Wertkonservative freilich dürfen sich freuen über Peter Stein als Direktor dieses Antikenmuseums und sein Team. Da herrscht Übersicht und Ordnung, und die Vitrinenscheiben sind blitzblank geputzt.

 

Ödipus auf Kolonos
von Sophokles
Regie und Textübersetzung: Peter Stein, Bühne: Ferdinand Wögerbauer, Kostüme: Moidele Bickel, Licht: Joachim Barth, Dramaturgie: Hermann Beil, Viktoria Göke.
Mit: Klaus Maria Brandauer, Katharina Susewind, Anna Graenzer, Christian Nickel, Jürgen Holtz, Dejan Bućin, Roman Kaminski, Martin Seifert.

www.salzburgerfestspiele.at

 

Mehr Peter Stein? Im Juni 2010 triumphierte Stein bei den Wiener Festwochen mit seinem zwölfstündigen Dostojewski-Marathon I Demoni. Mit Klaus Maria Brandauer als Dorfrichter Adam inszenierte Stein 2008 am Berliner Ensemble Der zerbrochne Krug. Brandauer war 2007 in Berlin auch Steins Wallenstein.

 

Kritikenrundschau

"Ein wahres Festspiel. Seit langem wieder", freut sich erwartungsgemäß Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.7.2010). Beide preist er, Regisseur und Schauspieler: "Das Märchenhafte, Gotteskitschige treiben Stein und Brandauer dem Endspiel sofort aus." Um dann noch Seitenhiebe auf die Anderen zu verteilen: "So hat Peter Stein aus dem Schauspieler Brandauer, der zu Zeiten immer nur sich selbst spielte, in einer überragenden Trilogie des Wiederspielens einen Schauspieler gemacht, der, von Schiller über Kleist zu Sophokles, das Wagnis einging, das Terrain zwischen Kopf und Welt zu durchforschen wie einen fremden, ganz unbrandauerischen Kontinent. Ein Wagnis, das mindere Theatergeister gar nicht mehr eingehen. Eine symbiotische Intelligenzverbindung auch zwischen Regisseur und Schauspieler, wie sie heute nur noch als aus aller Zeitgeisterei gefallene Tollheit denkbar ist."

"Was für ein Krawumm!", wundert sich Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (28.7.2010) über den Schluss von Steins "text- und ordnungsgemäßem Reifeerzeugnis". Weil nach dem Knall die Scheinwerfer von hinten grell aufblenden, nehme man die Nachbereitung des Dramas durch den Boten und die Hinterbliebenen nur noch getrübt wahr. "Was freilich auch an der Dauer dieser doch sehr hehren Kunstanstrengung und der immer stickiger werdenden Luft in der Theaterhalle auf der Perner-Insel liegen könnte. Das Saallicht bleibt in dieser letzten Viertelstunde gnadenlos an. In einer Tragödie, und sei sie auch so undramatisch wie Sophokles' 'Ödipus auf Kolonos', muss schon auch gelitten werden." Einzig der "neuen, luziden, hörbar geschmeidigen Übersetzung" kann Dössel etwas abgewinnen.

"Statuarisches Sprechtheater" erlebte auch Margarete Affenzeller, wie sie im Wiener Standard (28.7.2010) schreibt. "Diese eigenbrötlerische, an jedweder Idee zeitgenössischen Theaters ignorant vorbeiziehende Haltung hat aber etwas: Gerade in ihrer Unzeitgemäßheit entfaltet sie eine bestimmte Wirkung." Jedenfalls für Momente: "Doch diese Wirkung hält nie lange an, der Charme archaischer Stimmungsmache hört da auf, wo die Verständigung mit einem grob zweieinhalbtausend Jahre alten Text sich selbst überlassen wird und sich die historische oder im besten Fall zeitlose Aufführungspraxis in hohle Formen verkehrt."

Durchweg hingerissen hingegen zeigt sich Ulrich Weinzierl in der Welt (28.7.2010). Die Inszenierung preist er als "die schönste Zumutung, die das deutschsprachige Theater derzeit zu bieten hat". Brandauer sei "ein großer, wunderbarer Schauspieler, einer der größten, die wir haben". Und der Chor? "Stein zaubert aus dem humpelnden Altmänner-Dutzend ein Gruppenbild der Individualitäten, schwankend zwischen Weisheit und Geschwätzigkeit, Mut und Kleinmut. Wir kennen solch opportunistisches Völkchen, brauchen nur in den Spiegel zu schauen."

Ganz anders Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (28.7.2010): "Letztendlich ist alles so inszeniert, als sei der alte Sophokles wieder auferstanden, schon dass er wirkliches Theater machen muss, ist für diesen großen Geist eine Kränkung. Naiv bis zur Hilflosigkeit gegenüber dem Text außer bei Chor und Brandauer." Der Rest: "vollkommen körperlos."

Im letzten Jahr nutzte Daniel Kehlmann seine Eröffnungsrede für eine Attacke auf die vermeintlichen Irrwege des sogenannten Regietheaters. Ein künstlerisches Statement in die gleiche Richtung ist die "Ödipus auf Kolonos"-Inszenierung von Peter Stein, schreibt Joachim Lange in der taz (30.7.2010). Stein verpasse seinem Ödipus die große altmeisterliche Attitüde. "Seine monologisierende Lebensweisheit bürdet Stein seinem Favoriten für die großen Rollen, Klaus Maria Brandauer, auf." Doch der sei, wider Erwarten, diesmal nicht das Problem, sondern tatsächlich die Rechtfertigung des pausenlosen Dreistunden-Abends. "Ohne Selbstdarstellereitelkeiten liefert er eine Glanzleistung, macht aus dem Stuhl, auf den ihn Peter Stein gebannt hat, einen Mimen-Thron, vor dem jeder Vorbehalt verblasst!"

Ganz anders Anne Peter in der Berliner Morgenpost (27.8.2010) anlässlich der Berlin-Premiere: Hemmungslos überspielt wirke vieles bei Brandauers Ödipus. "In liebevoll verlotterter Montur, mit dunkel geschminkten Augenhöhlen und wirrem Haar zerrt Brandauer sich die Rolle derart nah auf den Leib, dass dieser österreichelnde Ödipus fast wie eine älter gewordene Version seines verschlagenen Richter Adam aus Steins BE-Inszenierung des 'Zerbrochnen Krugs' daherkommt. Dort passte es, dass Brandauer sich in der Rolle genüsslich breitmachte, hier wirkt es vor allem eitel und schiebt die Figur aus der Gebrochenheit in Biertisch-Nähe."

An Schlingensief erinnert sich Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (27.8.2010) und an die anderen Sommer-Toten, um dann zu beklagen: "Steins Theater erstarrt in Statik." Schaper rätselt über gewollte und unfreiwillige Komik und resümiert: "Auch mit klassizistischem Arrangement kann man ein Stück zerstören, ins Seelenlose wenden. Es zeigt sich dann nur nicht gleich so offensichtlich. Jäher Tod, zähes Schwinden: Am Ende einer traurigen Woche bringt dieser abschwellende Bocksgesang keinen Trost."

Einen Fall von "Selbstbetrug" macht Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (27.8.2010) aus: "Es ist ein Theater, das als Literaturtheater auftritt, in Wahrheit indes schlimmstes Regietheater ist. Dass Brandauer, Stein, die Zuschauer, der Theaterbetrieb dennoch glauben, was sie sich einreden, muss nicht verwundern: Solche Selbstbetrugs-Tricks sind ja auch sonst sehr erfolgreich." Brandauer spiele "einen eitlen Grantler, der noch die letzte Faser seiner Figur mit sich selbst verzwirbelt. Immer mimt Brandauer einen stolzen Brandauer, der als stolzer Brandauer den Ödipus spielt." Ansonsten wird vermeldet, dass, anders als in Salzburg, keine Ohrenstöpsel verteilt wurden.

 

Kommentare  
Ödipus auf Kolonos: befremdliche Idee des Mitnehmens
Etwas befremdlich ist nur, daß auch die geneigtesten Kritiker sich einfach nicht losmachen können von der Vorstellung, man müsse "irgendetwas mitnehmen". Einmal die Fremdheit
und den dichterische Größe der originalen attischen Tragödie zu ahnen und zu atmen - ist doch auch etwas und vermutlich ein ganz unwiederbrigliches und einzigartiges Erlebnis.
Ödipus auf Kolonos: ohne Demut und Bescheidenheit
es war altmodisch und hausbacken und darum gefällt es fünfundneunzig prozent der zuschauer..brandauer hat handwerk, aber es dreht sich dann doch immer mehr um seine person als um die rolle..und doch bewundernswert, aber --ja....gähn...ohne demut und bescheidenheit kein genialer funke, sondern ego...des regisseurs, des hauptdarstellers..schade...
Ödipus auf Kolonos: Weiterdenken
@ wirrwahr: Ob Mann oder Frau. Ohne Ego kein gutes Schau-Spiel. Weiterdenken.
Ödipus auf Kolonos: Ego der Rolle erspielen
@frau jones
"das gegenteil ist auch wahrhaftig"...nach oscar wilde...ohne demut keine brilantes schauspiel..mit ego nur heiße, leer hülle..es gilt, das ego der rolle zu er-spielen..nicht das eigene ego in die rolle zu pusten..aus diesem vorgang entweicht nur stickige, stinkende, heiße luft..keine gute voraussetzung, um wirklich und ehrlich die selbstbezogenen gedanken druchzulüften..mein Tip: öffnen sie mal die fenster zu ihrem inneren weitblick und atmen sie gut durch, - dann fallen auch ihnen wieder neue ideen ein...die verstaubten achtzigern (grace jones!!) sind mehr als retro,..,nett anzuschauen, aber michts neues...spießige gardinen vor den augen...garantiert..
liebe grüße...
Ödipus auf Kolonos: Weisheit gegen sich selbst
oedipus, das siegeslied des heiligen
die leidvollste gestalt auf der griechischen bühne
er ist der edle mensch, der zum irrtum und zum elend trotz seiner weisheit bestimmt ist, der aber am ende durch sein ungeheures leiden
eine magische segensreiche kraft um sich ausübt, die noch über sein verscheiden hinaus wirksam ist
der edle mensch sündigt nicht: durch sein handeln mag jedes gesetz, jede natürliche ordnung, ja die sittliche welt zugrunde gehn, eben durch dieses handeln wird ein höherer magischer kreis von wirkungen gezogen, die eine neue welt auf den ruinen, der umgestürzten alten gründen
das will der dichter, insofern er zugleich religiöser denker ist, sagen: er zeigt uns zuerst einen wunderbar geschürzten prozeßknoten
den der richter langsam, glied für glied, zu seinem eigenen verderben löst; die echt hellenische freude an dieser dialektischen
lösung ist so groß, daß hierdurch ein zug von überlegener heiterkeit über das ganze werk kommt, der den schauderhaften voraussetzungen jenes prozesses überall die spitze abbricht
in oedipus auf kolonos treffen wir diese selbe heiterkeit, aber in eine unendliche verklärung emporgehoben: dem vom übermaße des elends betroffenen greise gegenüber, der allem, was ihn betrifft, rein als leidender preisgegeben ist - steht die überirdische heiterkeit, die aus göttlicher sphäre herniederkommt und uns andeutet, daß der held in seinem rein passiven verhalten seine höchste aktivität erlangt, die weit über sein leben hinausgreift,
während sein bewußtes tichten und trachten im früheren leben ihn nur zur passivität geführt hat
so wird der für das sterbliche auge unauflöslich verschlungene prozeßknoten der oedipusfabel langsam entwirrt - und die tiefste
menschliche freude überkommt uns bei diesem göttlichen gegenstück der dialektik
oedipus, mörder seines vaters, gatte seiner mutter, der rätsellöser
der sphinx
ein weiser magier könne nur aus dem inzest geboren werden, daß dort, wo durch weissagende und magische kräfte der bann von
gegenwart und zukunft, das starre gesetz der individuation und überhaupt der eigentliche zauber der natur gebrochen ist, eine
ungeheure naturwidrigkeit - wie dort der inzest - als ursache vorausgegangen sein muß; denn wie könnte man die natur zur preisgabe ihrer geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch, daß man ihr siegreich widerstrebt, d.h. durch das unnatürliche?
in der entsetzlichen dreiheit der oedipusschicksale ausgeprägt:
derselbe, der das rätsel der natur - jener doppeltgearteten sphinx
- löst, muß auch als mörder des vaters und gatte der mutter die heiligsten naturordnungen zerbrechen, daß die weisheit und gerade die dionysische weisheit ein naturwidriger greuel sei, daß der, welcher durch sein wissen, die natur in den abgrund der vernichtung stürzt, auch an sich selbst die auflösung der natur zu erfahren habe
die spitze der weisheit kehrt sich gegen den weisen; weisheit ist ein verbrechen an der natur
Ödipus auf Kolonos: Basis des Tragischen
@ wirrwahr und leeb: Vielmehr verhält es sich so, dass Natur/Körper und Kultur/Geist ohne das jeweils Andere nicht gedacht werden können. Alles muss in Bewegung bleiben. Es gilt, die Tragödie des Verstehen-Wollens des Eigenen im Fremden und des Fremden im Eigenen über den Prozess des Spiels zu erproben. Und schließlich: Es gibt keine Form ohne Inhalt und keinen Inhalt ohne Form.
"Nur weil und wenn Wahrheit oder Sinn oder so etwas wie ein Ich oder eine Handlungsmöglichkeit auch etwas ist, was man wollen muss, was man nicht lassen kann, gibt es das Tragische."
(Hans-Thies Lehmann)
Steins Ödipus in Berlin: Blitz ohne Einschlag
Letztendlich bleibt von diesem Abend, zwei große Egos in einer Figur vereint, Brandauer spielt das Alter-Ego von Peter Stein, das alles verfluchende Genie verklärt sich selbst zum Heros. Es blitzt und donnert, aber es schlägt nichts ein.
Steins Ödipus in Berlin: Vermutung
Ich vermute, STEFAN hat die Aufführung nicht gesehen und erliegt einem Gerücht, denn wenn er nicht blind wie Ödipus wäre, müßte er mehr gesehen haben.
Steins Ödipus in Berlin: Grillen zirpen, Vögel zwitschern
Lieber Herr Beil, wenn Sie es denn sind, hier extra für Sie meine Einschätzung des Abends.

Bei den Salzburger Festspielen ist dieses Jahr die Antike in. Sophokles` Ödipus hat es den heutigen Dramatikern und Regisseuren angetan. Jon Fosse bringt die ganze Trilogie in eigener Textfassung und Peter Stein übersetzt den Ödipus auf Kolonos neu. Angela Richter scheitert mit ihrer Regie von Fosses neuem Text wie man hört und auch noch in Berlin sehen wird und Peter Stein bringt seine eigene textgetreue Version des alten Sophokles selbst auf die Bühne. Das Ergebnis ist nun am BE in Berlin zu sehen.
Theaterdonner wurde angesagt. Darauf muss man aber lange warten, erst mal beginnt alles recht betulich. Die Grillen zirpen, die Vögel zwitschern, der Hain der Erinnyen als griechisches Idyll. Wenn Klaus Maria Brandauer als alter blinder Ödipus endlich seinen Stuhl gefunden hat, spult er seine ganze Bandbreite an Jammer und Fluch ab. Er greint und überschlägt die Stimme, fährt hoch und brüllt all seinen Hass auf das böse Schicksal und jene die ihm nicht zur Seite standen heraus, das einem Angst und Bange wird. Der Chor der alten Männer, genauso jammervolle Typen, stimmt mit ein und es entsteht ein wundersamer Wettstreit, wer wohl am besten klagen kann. Oimoi, Oimoi, der Sieger ist zwangsläufig Brandauer, er sitzt die Sache und das ganze Stück gekonnt aus. Dagegen ist schlecht anzukommen, alle anderen Mitstreiter sind nicht weiter erwähnenswert, Staffage und Kostümständer mit beschränktem Wirkungsradius, obwohl sie zumindest bis auf Jürgen Holtz als alter Kreon im Rollstuhl, des Laufens noch mächtig sind.
Peter Stein schwärmt im durchaus lesenswertem Programmbuch von seiner Sicht der Tragödie des Ödipus, die eigentlich keine mehr ist, da der tragische Held sich durch sein Ausharren im Unglück seine Läuterung erstritten hat und nun von den Göttern zur wohlverdienten Erhörung entrückt wird. Das nennt Stein dann das „pathei mathein“, das Leiden und Lernen. Man kennt den Spruch der aristotelischen Karthasis „ Tun, leiden, lernen“ und das ein Leben lang. Bertolt Brecht sind hier wahrscheinlich endgültig die Augen aufgegangen, lieber Hermann Beil, richtig erkannt.
Als Ödipus erfährt, das er als Glücksbringer demjenigen der ihn aufnimmt dienen wird, ist er sofort wieder oben auf. Das Jammern wird zum Fluch, der alte Tyrann erwacht zu neuem Leben, auch wenn er es bald im heiligen Hain aushauchen wird. Das einzige was Stein noch an Sophokles` Ödipus interessiert, ist den Text so genau wie möglich wieder zu geben. Das wirkt abgestanden und statisch, ohne Leben, eine tote Sprache halt. Peter Stein schafft einen nutzlosen Solitär nach dem anderen und stellt sie sich ins Regal, das mit Spinnweben schon überwuchert ist, gleich einem Sammler altertümlicher Schätze, zum Anschauen gemacht, berühren verboten. Wer da noch mitfühlen will, ist im BE bestens aufgehoben, im einzigen noch produzierenden Theatermuseum der Republik.
Schließlich nach über zwei Stunden deuten Blitz und Donner das nahe Ende an, es dauert dann aber noch eine weitere halbe Stunde gefüllt mit Jammer, bis Martin Seifert als Bote die ersten wahrhaftigen Verse dieses Abends spricht. Da ist aber Ödipus längst ins Reich der Toten entschwunden und Klaus Maria Brandauer tritt aus dem Ölhain wieder hervor, um sich seinen wohlverdienten Applaus abzuholen.
Letztendlich bleibt von diesem Abend, zwei große Egos in einer Figur vereint, Brandauer spielt das Alter-Ego von Peter Stein, der alles verfluchende Genius verklärt sich selbst zum Heros. Es blitzt und donnert, aber es schlägt nichts ein. Diese „originalgetreue“ Version des Peter Stein wird sicher bald im Orcus des Vergessens entschwinden wie alle anderen Regieuntaten im "Unterhemd" vor ihm.

Großer Name! - Millionen Herzen
Lockt ins Elend der Sirenenton,
Tausend Schwächen wimmern, tausend Schmerzen
Um der Ehrsucht eitlen Flitterthron.

Friedrich Hölderlin, aus Die Ehrsucht, 1784
Ödipus auf Kolonos: Antwort zurückgehalten
Habe gestern Herrn Stefan geantwortet, aber die hochmögenden Damen und Herren von "nachtkritik.de" haben wohl meine Antwort zurückgehalten. Oder?


(Die hochmögenden Damen und Herren haben an die Presseabteilung des BE gemailt, und um eine Authentifizierung des Kommentars gebeten, da wir nicht möchten, dass sich hier Leute mit fremden Federn und Namen schmücken. Man muss sich ja nicht registrieren, um zu kommentieren. Kurze Mail an redaktion@nachtkritik.de genügt. Ein Kommentar ist freigeschalten, s. Nr. 8. Weitere Kommentare sind unter Ihrem Namen nicht eingegangen. Freundliche Grüsse, Esther Slevogt)
Ödipus auf Kolonos: Herrmann Beil an Stefan
Sehr gehrter Herr STEFAN, für Ihre so ausführlichen Anmerkungen danke ich Ihnen!Ihre Klassifizierung des BE als einziges Theatermuseum der Republik amüsiert mich. Und da sage einer, in ein solches Museum ginge keiner. Spontan fiel mir beim Studieren Ihrer Meinung ein Satz von Arthur Schnitzler ein: "Des Kritikers erste Frage müßte sein: Was hast du mir zu sagen, Werk - ? Aber seine erste Regung ist vielmehr: Nun, Werk, gib acht, was ich dir zu sagen habe!" Gruß, H.B.
Ödipus auf Kolonos: Dank
Dank an die nun vielvermögende Redaktion! H. B.
Ödipus auf Kolonos: ein Gottestempel
lieber stefan,
kurz zum museum der nation, dem berliner ensemble.
Für mich ist dieses museum ein gottestempel, besonders seit der museumsdirektor peymann dort sein unwesen treibt.
So ein unwesen würde ich mir für den rest der berliner theater wünschen, so auch für das immer gerühmte dt.
Dort geht ja langsam auch alles den bach herunter.
Und noch eins, laßt den peymann doch mit euren schnöden negativkritiken in ruhe.
Er ist nun mal der beste theatermann deutschlands, leider gibt es für ihn noch keinen entsprechenden nachwuchs.
Barbara
Ödipus auf Kolonos: am gleichen Strang
Lieber Hermann Beil, wie wär's mit einer Hoch-, Tief- und Vielvermögenssteuer? Aber im Ernst: Das schöne Schnitzler-Zitat, das Sie ja schon im Salzburger "Daily" ins Treffen geführt haben, kann man wohl auch als Verteidigung im ewigen Konflikt zwischen Künstlern und Kritikern lesen. Hinter jedem Werk steht ein Autor, und was Schnitzler eigentlich meint, ist dies: "Kritiker, gib acht, was ich dir zu sagen habe, und halt den Mund." Wie wär's, wenn man die Zweiteilung in Verkünder und Zuhörer dispensierte zugunsten eines echten Gesprächs, in dem Theaterleute wie Kritiker, Bewunderer von Brandauer, Peter Stein oder Hermann Beil ebenso eine Stimme (und zwei Ohren) haben wie Skeptiker? Ich denke, wir hätten viel zu verlieren, wenn Ehrfurcht vor dem Werk jede Diskussion erstickte (auch Autoren können irren, lieber Dramaturg der "Hermannsschlacht"), wie es ein Verlust ist, wenn Theatermacher wie Kritiker nicht mehr mit Demut (ja, ich wähle dieses Wort bewusst) wahrnehmen, was ein Werk zu sagen hat. Theater und Literatur wie Kritik sind vom puren Entertainment bedroht. Wir ziehen am gleichen Strang.
Ödipus auf Kolonos: Regiestil alter Männer
Sehr geehrter Hermann Beil,
vielen Dank für Ihre Zeilen, aber anstatt Schnitzler zu zitieren, sollten Sie ihn lieber zusammen mit Claus Peymann inszenieren, er ist nämlich durchaus nicht museal. Ich denke da zum Beispiel an die Liebelei-Inszenierung von Michael Thalheimer. Aber das ist ja für Sie wahrscheinlich böses Regie-Theater. Mein Vergleich mit einem Museum zielt ja dahin, dass das Theater im BE statisch geworden ist und nichts mehr hinterfragt. Es ist nicht greifbar, wir sollen vor diesem Regiestil der alten Männer vor Ehrfurcht erstarren. Das ist schon ein Stück weit Ideologie und erinnert mich verdammt an ganz andere Zeiten. Was soll mir denn das Werk von Sophokles noch erzählen, was nicht schon in allen Schulbüchern steht? Wo ist der Bezug zur Gegenwart, was soll diese alte Katharsis und Mimese, wovon erzählt Peter Stein, außer von sich selbst?
In dieser Spielzeit setzt Claus Peymann ja wieder auf Gegenwartsdramatik, noch einen Goldoni hätte ihm auch keiner mehr abgenommen. Schön das Sie auch Bernhard mal wieder aufführen wollen und Katharina Thalbach Brecht inszeniert Aber wie schon von anderen hier angemerkt, wo ist der Nachwuchs im BE? Sie lassen den Nachwuchs ja gar nicht zu. Einmal im Jahr darf bei ihnen eine ausgewählte junge Regie-Frau mal einen Klassiker auf die Bühne stemmen. Ich hoffe das es Mona Kraushaar mit Shakespeare besser ergeht als Simone Blattner mit Kleist.
Übrigens gehe auch ich gerne ins Museum, ins richtige Theatermuseum nämlich. In München habe ich eine sehr bemerkenswerte Ausstellung über Regie-Frauen gesehen. Angefangen von Ruth Drexel, Ruth Berghaus über Andrea Breth, Katharina Thalbach, oder Karin Beier, Barbara Frey bis zu Friederike Heller, Jette Steckel u.v.a. werden vier Generationen dargestellt, mit ihren verschiedenen Sichtweisen und Erfahrungen nicht nur zur Emanzipation sondern auch zu den unterschiedlichen Stilen. Und ich möchte zum Schluss keinen alten Klassiker zitieren, sondern eine der jungen Regie-Frauen. Jette Steckel erzählt zum Schluss der Ausstellung vom Theater, als Raum „... in dem man Fragen stellen darf, auf die es keine Antworten gibt.“ Aber man kann dort auch experimentieren und „Utopien zum Leben entwerfen“. Und da sind wir auch wieder bei Brecht und dem BE. Noch Fragen offen, Herr Beil? In diesem Sinne Ihr Stefan.
Ödipus auf Kolonos: falsch ergänztes Schnitzler-Zitat
Nein, nein, lieber Dr. Thomas Rothschild, da ergänzen Sie mein Schnitzler-Zitat nicht richtig, denn Schnitzler wünscht sich den Theaterkritiker als einen, der "seine Ansicht in völliger Unabhängigkeit und Freiheit mitteilt". Allerdings wünscht er sich den idealen Kritiker auch als einen, der sein Werk zunächst tatsächlich verstehen will und aus diesem Verständnis seine Kritik formuliert. Mit freundlichem Gruß! Hermann Beil
Ödipus auf Kolonos: wider das Prinzip Vorwurf
Sehr geehrter Herr STEFAN! Für Ihre Antwort danke ich Ihnen. So viele Vorwürfe - mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, daß in Berlin das vorherrschende Prinzip der Vorwurf ist.Natürlich ließe sich darüber philosophieren und damit über den fundamentalen Unterschied von Berlin zu anderen Theaterstädten. Warum hatte denn Andrea Breth, die Sie erwähnen, in Berlin nicht jenen Erfolg, den sie anderswo hat? zum Beispiel! Nein, ich werde jetzt nicht Karl Kraus über das Berliner Theater zitieren und mir den nächsten Vorwurf einhandeln, ich wünsche Ihnen ganz einfach viele tolle Theatererlebnisse in der neuen Spielzeit, die müssen ja nicht unbedingt am BE sein. Gruß! Hermann Beil
Ödipus auf Kolonos: Bitte Argumente, nicht Zitate
Sehr geehrter Herr Beil, ich möchte Ihnen gar nichts vorwerfen, aber bitte, wenn Sie sich angegriffen fühlen, dann verteidigen Sie sich doch mit Argumenten und nicht mit Zitaten. Vielleicht sollten die, die sich ständig angegriffen fühlen, mal darüber nachdenken, wie es den anderen so geht, denen ständig vorgeworfen wird „wunderlosen Theater", das sich „zum Reservat von Dummheit und Bildungsferne entwickelt" zu machen und an der Rampe Text zu erbrechen (Botho Strauß) oder wenn Andrea Breth von lauter „Mini-Castorfs“ redet. Und das sind noch die geringsten Vorwürfe. Was berechtigt diese Leute dazu, allein ihr großer Name und ihre Verdienste, die sie unbestritten haben? Wer auf diese Art und Weise kritisiert, muss damit rechnen, an seinen Worten gemessen zu werden und auch das Echo ertragen.
Das ich noch ins BE gehe, liegt doch daran, das ich glaube, das sich auch etwas ändern kann. Wenn Sie aber gar nichts ändern wollen, weil Sie meinen ein volles Theater ist Beweis genug dafür alles richtig zu machen, unterliegen Sie glaube ich einem großen Irrtum. Kritikresistenz führt direkt in die Selbstgefälligkeit und Stagnation, so schätze ich Sie nicht ein. Wir lösen jedenfalls das Problem nicht, wenn wir nicht mehr miteinander reden können, ohne uns ständig irgendwelche Sachen an den Kopf zu werfen, aber berechtigte Kritik muss erlaubt bleiben. Grüße zurück, Ihr Stefan.
Oedipus auf Kolonos: statisches Theater der Aufstellung
Wenn Peter Stein und Klaus-Maria Brandauer Theater machen und ihnen Claus Peymann seine Bühne zur Verfügung stellt, geht es immer um mehr, als ein Stück zu inszenieren. Es geht um nicht mehr und weniger als die Rettung des Theaters, um seine Befreiung aus den Klauen des Ungeheuers, das da heißt "Regietheater". Das Ergebnis ist meist ein unnachgiebiger Konservatismus, der das Theater zum rechten Weg zurückführen soll, zum Primat des Stücks, und zum Schauspieler als dem wichtigsten Interpreten des Stücks. Was Regisseure wie Peymann und Stein einst selbst begannen, ist längst, so glauben sie, in eine Sackgasse geraten, in der Regisseure nurmehr sich selbst inszenieren, in der die Stücke zerstört, die Schauspieler erniedrigt, das Theater in den Dreck gezogen werden.

Was Stein & Co. meinen, lässt sich exemplarisch an Ödipus auf Kolonos, inszeniert für die Salzburger Festspiele und jetzt im Repertoire des Berliner Ensembles, beobachten. Sein Interesse, so Stein im Programmheft-Interview, sei, "so nah wie möglich an das Original heranzukommen" und zu versuchen, "das Kunstwerk und das, was es darstellt, in seiner Ursprünglichkeit zu rekonstruieren." In anderen Worten: Es geht um das reine Theater, um das Stück selbst, nicht um seine Interpretation.

Was dabei herauskommt, ist nicht weniger als ein Offenbarungseid der Steinschen Methode. Es ist ein statisches Theater, das er auf die Bühne bringt, ein Theater der Aufstellungen, keines der Bewegung. Stein schafft Standbilder, die jedoch nie die Eindrücklichkeit echter Tableaus erreichen. Sophokles' letztes Stück ist eines des Stillstands, eines des Endens, keine typische griechische Tragödie, da es ohne Blut und Verbrechen auskommt. All dies liegt in der Vergangenheit, das ende scheint sogar versöhnlich. Es ist der Endpunkt der griechischen Tragödie und doch nicht so blutleer, wie Stein es inszeniert.

Denn das Stück birgt Konflikte: Der letzte Machtkampf mit Kreon, dem alten Widersacher, die Verstoßung des Sohnes, vor allem der Kampf mit den eigenen Dämonen. All dies inszeniert Stein nicht, lässt es seine Schauspieler nicht lebendig machen, er lässt es rezitieren. Es ist ein Deklamationstheater, eines des behauptet erhabenen Tons, der jedoch keine Feierlichkeit schafft, sondern Befremden und Langeweile. Das leere Pathos, mit dem Christian Nickel seinen Theseus sprechen lässt, die feierliche Versteinerung, in die er sein Gesicht einfriert - sie sind symptomatisch für diese behauptete Ursprünglichkeit, die nichts weiter ist als eine Fassade, die nichts verbirgt.

Brandauer sitzt und deklamiert, er behauptet Leiden, doch er tut es mit einer Distanz, die den Zuschauer eben nicht in den Kern der Tragödie hineinlässt. Die "guten" Athener erscheinen in strahlendem Weiß, die "Bösen", Kreons Schergen, aber auch Polyneikis, in stilisiertem Uniformen, Kreon in teuflischem Rot. Hofft man zu Beginn, diese Plumpheit erführe irgendeine ironische Brechung, wird man bald eines besseren belehrt. Ironie ist die Sache des Steinschen und Brandauerschen Theaters nicht, das zeigte schon ihr ermüdend trockener Zerbrochener Krug.

Dabei gibt es sogar Lichtblicke: Ein fein choreografierter Chor, der dem Stück zwischenzeitlich etwas wie Dynamik verleiht, wenn man von seiner Konstümierung als Abziehbilder klischeehafter Schtetl-Bewohner abzieht. Und da ist Jürgen Holtz als Kreon, der gewillt scheint, seiner Figur so etwas wie Leben einzuhauchen, ihr sogar etwas wie Tragik verleiht, und der, fast gegen den Willen des Regisseurs, dem Stcück kurzfristig einen Konflikt verleiht, einen Konflikt, den Brandauer nicht aufnehmen kann oder will.

Und so bleibt ein erschreckend altbackenes und gähnend langweiliges Stück Theater, das vor allem eines nicht schafft: dem Zuschauer dieses durchaus sperrige Stück näher zu bringen. Im Gegenteil: Es vergrößert die Distanz noch. Der für das BE äußerst verhaltene Schlussapplaus spricht seine eigene Sprache.

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Ödipus auf Kolonos, Berlin: perfekt und uninteressant
Heute abend im BE: der perfekt und liebevoll inszenierte - und ansprechend übersetzte Ödipus auf Kolonnos. Zwei alte und ein paar junge Männer bekämpfen, verfeinden, unterstützen und verfluchen sich gegenseitig, während knapp 20 alte Männer in perfekter Manier das kommentierende Publikum geben und die einzigen zwei jungen Mädchen sich am Rande heulend die Haare raufen und sich dem sterbenden Vater hinterher ins Grab stürzen wollen. Na klar. Erkenne ich in irgendeiner versteckten Ecke irgendein Problem wieder, daß mich in den letzten Jahren beschäftigt hat? Nö. Perfekt, aber komplett uninteressant.
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