Übervater im Performance-Museum

von Matthias Weigel

München, 28. Juli 2010. Die Biographie des Regisseurs George Froscher liest sich wie ein Abriss der jüngerem Theatergeschichte. Geboren 1927, tanzte er in den Fünfziger Jahren im Folkwang Tanztheater unter Kurt Joos, Stationen in Paris und der Schweiz folgten. Anfang der Sechziger begegnete er in New York Martha Graham, entwickelte ein eigenes Trainingsprogramm. Vor genau 40 Jahren gründete er schließlich mit Kurt Bildstein das Freie Theater München.

Nun, nach drei Jahren Pause, feiern sie ihr Jubliäum mit einer Produktion in der Münchner Off-Spielstätte i-camp. Ungewöhnlich, dass sich die beiden Urgesteine der freien Szene in „wie den vater nicht töten" einer Textvorlage widmen – die letzten 20 Jahre ihres Schaffens standen eher im Zeichen freier Projekte. Anderererseits: Weder Tragödie, Trauerspiel noch "Textfläche" stellen sie auf die Bühne; das wäre den ewigen Avantgardisten dann wahrscheinlich doch zu anachronistisch.

 

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"wie den vater nicht töten" © Ulrich Stefan Knoll

Pas de deux mit dem Kehrbesen

Der Großteil des Textes von "wie den vater nicht töten" ist vielmehr Lyrik – das gleichnamige Gedicht stammt aus dem Band "Futuristenepilog – Poeme" von Berkan Karpat und Zafer Senocak. Beide wurden in der Türkei geboren, beide wuchsen in Deutschland auf. Nicht nur ihre Familienväter sind Thema des Gedichts, sondern auch der "Vater aller Türken": Mustafa Kemal, genannt Atatürk, der große Reformator und Gründer der Türkei, der schon zu Lebzeiten einen wahren Personenkult um sich aufbaute.

"ich habe von atatürk geträumt / er hat meinen vater erschlagen / ich wuchs vaterlos auf / nahe dem meer / salz im gesicht". Mechanisch, gezogen und in wechselnden Rhythmen psalmodiert Kurt Bildstein (geboren 1942), die andere Hälfte des Freien Theaters München, diese ersten Verse. Bewusst quält er sich jedes Wort aus seinem dünnen, schlaksigen Körper, wobei er für jeden Auftritt eine andere Körperlichkeit findet. Mal trippelt er im Pas de deux mit einem Kehrbesen, mal kriecht er verkrampft durch das Quadrat aus Kaffeebohnen am Boden.

40 Tassen Mokka am Tag

So viele Bohnen auf dem Bühnenboden auch aufgeschüttet sind – wenn die Legende stimmt, hätten sie für Atatürk nicht allzu lange gereicht. Demnach wurden es bei ihm schon mal 40 Tassen Mokka am Tag, aus dem Kaffeesatz wurde die Zukunft gelesen. „jeder konstrukteur hat seinen kraftstoff / strom gas oder kaffee / wie viel kaffeesatz hinterlässt ein leben / um den süchtigen unsterblich zu machen".

Spätestens wenn die Rezitationen Bildsteins – zuweilen zusammen mit Gabriele Graf – eine kritische Masse an Wortgeflechten und Verweis-Spielereien, assoziativen, aber kargen Sprachbildern erreicht hat, wenn die Körperlichkeit als nichtreferenziell und willkürlich erscheint, wenn sich unter die künstliche Sprechweise auch noch Tourette-Syndrom-Quieken mischt, fühlt man sich wie in einem Performance-Museum. Ja, das hat bestimmt mal Zuschauer verärgert, ja, auch verunsichert und berührt; Bildstein nimmt sich fast pathetisch ernst und macht sich dadurch zur eigenen Ansichtskarte.

Das Aroma zertretener Kaffeebohnen

Dann schlittern unvermittelt fünf junge Deutsch-Türken zur Attacke auf den Übervater Bildstein auf die Bühne. Streng choreographiert prügeln sie wie in einem Befreiungsakt in drastischen Bildern den Unantastbaren in seine Kaffeebohnen. Zusammengekauert liegt er im Staub der zertretenen Bohnen, das Aroma entfaltet sich über den Zuschauersitzen.

Doch nach der Auferstehung? Weiter im Text: "papa nicht erschlagen / ich habe noch einen traum / ich bin auf der untertasse aufgewacht / schnellte hoch und hing im kehlkopf des masters". Am Schluss summen alle gemeinsam, bis das Licht ausgeht: Applaus. Ende? Nein, es wird weitergesummt, und wieder nicht, und wieder doch. Ja, ja, das hat bestimmt mal Zuschauer verunsichert. So war das wohl – damals.

 

wie den vater nicht töten
Texte: Berkan Karpat, Zafer Senocak
Regie / Raum / Kostüme: George Froscher, Technik und Organisation: Kurt Bildstein, Assistenz: Peter Pruchniewitz, Licht: Michael Bischoff.
Mit: Gabriele Graf, Kurt Bildstein, Amaru Gatter, Johny Martinez, Renat Melamed , Viktor Rencelj, Philipp Weitzdörfer.

www.i-camp-muenchen.de

 

 

 

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